Big History

Tom

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Sehr interessant finde ich einen geschichtswissenschaftlichen Ansatz, der in der englischsprachigen Wissenschaft „Big History“ genannt wird. Es ist der Versuch, die verschiedenen Wissenschaften, die sich mit historischen Prozessen im weiteren Sinne beschäftigen, also Kosmogonie, Evolutionsbiologie, menschliche Geschichte, im Zusammenhang darzustellen und Gemeinsamkeiten zwischen physikalischen, biologischen und im engeren Sinne historischen Prozessen aufzuzeigen. Interessant und weitgehend gelungen ist in der Hinsicht David Christian: Big History. Die Geschichte der Welt vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit, München 2018. Christian gehört dem Macquarie University Big History Institute in Sydney an.

Einen ähnlichen Versuch hat vor einigen Jahren der englische Molekularbiologe Enrico Coen vorgelegt: Die Formel des Lebens. Von der Zelle zur Zivilisation, München 2012. Hier geht es vor allem um Gemeinsamkeiten zwischen biologischen und gesellschaftlichen Prozessen.

Voriges Jahr ist auf Deutsch erschienen Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt, München 2017. Der Chemiker Bardi gehört dem Club of Rome an und beschäftigt sich in seinem Buch mit Gemeinsamkeiten beim Untergang, beim Kollabieren von komplexen Systemen, also z.B. von Imperien, Finanzsystemen oder biologischen Arten.

David Christian: Big History. Die Geschichte der Welt - vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit

Enrico Coen: Die Formel des Lebens. Von der Zelle zur Zivilisation

Buch -  Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt
 
@Tom,

das ist ein interessanter Ansatz.
Also den Bogen selbst bis in den Kosmos zu spannen.
Solches ist natürlich auch nicht unproblematisch, denn Geschichte im Forum wird ja als Geschichte der Menschheit definiert und behandelt.
Doch kann diese aber auch nicht abgekoppelt vom Grundrahmen einer zu hinterfragenden Naturgesetzlichkeit stattfinden.
Das bleibt eine schwierige Sache, ist es aber wert betrachtet zu werden.

Was wären erwähnenswerte Thesen der genannten Autoren?
 
Zum Beispiel die Betrachtung der Dinge als Systeme. (Oder als Holons, wie andere sagen. Die holistische Betrachtungsweise der Welt wurde von Arthur Koestler, Ken Wilber und anderen entwickelt.)

Ein Stern, eine biologische Art, eine menschliche Gesellschaft oder ein einzelnes Individuum sind allesamt selbstorganisierende Systeme. Solche Systeme haben gewisse Gemeinsamkeiten, auch Gemeinsamkeiten in ihrer zeitlichen Entwicklung, die man untersuchen kann, z.B. Gemeinsamkeiten in ihrer Entstehung, in der Phase relativer Stabilität und in der Phase des Kollabierens.

Systeme unterscheiden sich unter anderem auch durch den Grad ihrer Komplexität. Eine Schneeflocke ist zum Beispiel ein relativ einfaches selbstorganisierendes System (obwohl schon kompliziert genug, für Physiker ist vieles an der Kristallstruktur von Schneeflocken noch äußerst rätselhaft), ein Stern ist ein komplexeres System, eine biologische Art und eine menschliche Gesellschaft sind noch komplexer. Dann kann man sich ansehen, wie sich Abläufe in Systemen verschiedener Komplexität unterscheiden. Christian z.B. teilt seine Weltgeschichte nach wachsenden Komplexitätsstufen ein (Schwelle 1, Schwelle 2 usw. nennt er das).

Die Betrachtungsweise von Dingen, biologischen Arten oder Gesellschaften als selbstorganisierende Systeme lässt auch die oft komplizierten Zusammenhänge in solchen Systemen besser erkennen. Das Römische Imperium ist nicht untergegangen, weil die Latifundien größer wurden und kleine Güter und freie Bauern verschwanden, sondern dieser Prozess setzte wieder andere Prozesse in Gang, zum Beispiel Veränderungen im Militärwesen, und diese wieder andere im politischen System. „Macht die Soldaten reich, alle anderen verachtet!“ sollen die letzten Worte des Severus an seine Nachfolger gewesen sein. Da war das Ende schon nicht mehr aufzuhalten.

Eine Veränderung im Ökosystem des Meeres ist nicht erst eingetreten, wenn eine bestimmte Fischart verschwunden ist, sondern ein ganzes Stück vorher, wenn nämlich die Art klein genug geworden ist, dass andere Arten ihre Nische besetzen können. Und ehe man sich zweimal umgedreht hat, hat sich die ganze Meeresfauna verändert. Die Qualleninvasionen heute könnten ein Signal für so etwas sein. Die verschiedenen Massenaussterben in der Evolutionsgeschichte hatten nicht nur Folgen für einzelne Arten, sondern veränderten große Teile des gesamten Ökosystems.

Ebenso setzt die Erderwärmung Prozesse in Gang, die mit dem CO2-Gehalt der Atmosphäre erstmal gar nichts zu tun haben, die Erwärmung aber weiter steigern und damit wieder andere Prozesse anstoßen, bis das ganze System kippt. Besonders Bardi beschäftigt sich mit solchen Kipp-Punkten (Phasenübergängen), die ein System kollabieren lassen und nur schwer vorauszuberechnen sind. Wenn man es merkt, ist es meistens schon zu spät.

So in der Richtung etwa.
 
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