meisterwinter schrieb:
Ich meine machtpolitische Gründe. Sorry!
Außerdem ist die Fragestellung so komplett.
Doch weiß ich wirklich nicht, wie ich anfangen kann. Ich denke, mit dem Dritten Reich wirst du Recht haben.
Zum Boxeraufstand und dem Imperialismus im Allgemeinen sage ich das, was ich immer zu sagen pflege. (Da wiederhole ich mich ständig, ich weiss!)
Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts standen die Großmächte unter ständigem Profilierungsdruck - insbesondere die jungen Nation des Deutschen Reiches vielleicht sogar unter Profilierungswahn bzw. -sucht. Das Weltbild war sozialdarwinistisch geprägt, und man wähnte sich in Europa auf der obersten Zivilisationsstufe.
Was in Europa weitestgehend vermieden werden sollte (und wurde), war ein neuerlicher Krieg um die Vormachtstellung, wie man ihn zuletzt durch Napoleon erlebte. Die Devise der friedlichen Koexistenz in Europa führte aber dazu, dass der Wettbewerb der Nationen auf Nebenschauplätze verlegt wurde. Beliebtest Spielwiese jener Zeit waren die Kolonien. Wer keine hatte, war sowieso schon zweitklassig. Wer es nicht schaffte, seinen Negerhaufen* ruhig und unter Kontrolle zu halten, der blamierte sich. Meldungen von Aufständen, oder Massakern unter weissen Siedlern gar warfen ein äußerst schlechtes Licht auf das Mutterland. Ein schnelles, entschlossenes Vorgehen sollte zeigen, dass man Herr der Lage war, damit das Vertrauen und der Respekt der Nation wiedergeherstellt war.
Es war aber auch das Zeitalter der Wissenschaft. Einen Botanischen Garten, exotische Tiere (manchmal auch Menschen) oder neueste Karten aus Afrika verweisen zu können, hebte das öffentliche Ansehen und verzückte das Volk und brachte einem den Neid der anderen Nationen ein. Zudem gab es aber durchaus humanistische und philanthropische "Standards". Wer seine überseeischen Untertanen nicht gut behandelte, erweckte den Eindruck, er könne sich die Kolonie eigentlich garnicht leisten. Wer über die strenge Schlug, der entblöste seine unzulängliche Ressourcenausstattung, indem er versuchte durch punitative und autoritätsbildene Maßnahmen Ordnung zu schaffen. Kaiser Wilhelm II. hingegen begründete diese Maßnahme oft als "erzieherische" Tätigkeit. In der "Hunnenrede" klingt es ja auch an, dass ein solches martialisches Vorgehen die einzige Sprache ist, die die Barbaren verstehen....
Als das deutsche Vorgehen im Boxerkrieg oder beim Herero-Aufstand (oder das der Briten im letzten Burenkrieg) bekannt wurde, hagelte es Spott und Kritik. Man befand sich dabei in einem imperialistischen Dilemma:
- Aufstände sollten schnell und wirkungsvoll gelöst werden. Kolonialkriege waren teuer und Niederlagen unverzeihlich.
- Kolonien waren so schon teuer genug. Die Probleme sollten nachhaltig gelöst werden, so dass danach Ruhe war.
- Aufstände und Ausschreitungen waren ein offener Affront gegen das Mutterland. Eine direkte Beleidigung! Wie können es dies Neger* wagen, sich gegen den Kaiser zu erheben?
- Zum einen wollte man nicht als Feige dastehen, und eine Verhandlungslösung ohne Repressalien ließ ja den Verdacht aufkommen, man wäre zu schwach, um eine solche Beleidigung polizeilich, juristisch oder militärisch verfolgen zu können.
- Andererseits musste man wie ein Gentleman (oder besser, wie ein strenger aber liebevoller Vater) auftreten. Einen Haufen Ausgehungerter und Unbewaffneter einfach umzuschießen oder in menschenunwürdigen Straflagern zu halten, das war nicht ehrenhaft.
Insbesondere Deutschland neigte unter Wilhelm II. immer öfter ins Extreme. Von Trotha wurde die Personifikation der rücksichtslosen Wiederherstellung von "law & order". Sowohl im Boxerkrieg, wie auch im Herero-Aufstand nahm Wilhelm II. zumindest billigend in Kauf, dass eine militärische Bestrafung mit der Befriedung einhergehen musste.
Des Kaisers Deutschland war, angesichts dieser beiden Fällen, bereits rhetorisch und psychologisch auf die falsche Bahn abkommen. Als einzig gangbare Methode wurden die militärische Lösung, die totale und nachhaltige Niederschlagung sowie die punitative Erziehungsmaßnahme in Betracht gezogen. Verständnis für die Situation der Aufständischen aufzubringen, Verhandlungslösungen anzustreben, strafmildernde Umstände geltend zu machen oder gar "Gnade vor Recht" walten zu lassen, diese Gedanken wurden kategorisch ausgeschlossen. Und es ist durchaus ersichtlich und plausibel, dass diese beschränkte und aggressive Denkweise mit eine der Ursachen für den Ersten Weltkrieg war.
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(*Das Wort Neger lehne ich natürlich ab. Es soll hier nur den Jargon und die Denkweise der Zeit vermitteln.)