Das Papier der Antike

Eumolp

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Ich hoffe, ich begehe keine Copyright-Verletzung, wenn ich diesen Artikel aus SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2007 poste. (Habe zum Thema Copyright nichts gefunden)

Das Papier der Antike, Teil 1
Mit viel Mühe und Geduld entziffern Experten unscheinbare Papyrusfetzen und lesen aus ihnen die Vergangenheit.
Ein antiker Text, fast zerfallenen Papyrusblättern mühsam abgerungen, wird neuerdings von den Medien gern als Sensation bejubelt. Dadurch rückt eine bislang weniger beachtete Disziplin der Altertumswissenschaften ins Licht der Öffentlichkeit: die Papyrologie. Ihr Forschungsfeld beschränkt sich auf jene beschrifteten Papyrusblätter (Papyri), die sich als Originale von der Antike bis heute erhalten haben. Keine Spur von goldglänzenden Artefakten. Und doch proklamierten Journalisten in diesem Jahr eine Erschütterung der Grundfesten des christlichen Glaubens, als das »Judas-Evangelium« publiziert wurde. Schon seit den 1970er Jahren befand sich diese Schrift als Teil eines um das Jahr 300 entstandenen Papyrusbuchs in den Händen von Antikenhändlern, doch die hielten es zurück. In der Hoffnung auf das große Geschäft ließen sie den Fund fast verrotten, bis endlich Wissenschaftlern erlaubt wurde, es zu restaurieren und zu edieren (siehe Bild S. 34). Die Kirche selbst lässt dieser Text zwar ungerührt, aber Kirchengeschichtler äußern Freude. Denn es handelt sich um ein Zeitdokument zum Richtungsstreit im frühen Christentum des 2. Jahrhunderts n. Chr. (der jetzt veröffentlichte Text ist die etwa zweihundert Jahre später entstandene Übersetzung einer griechischen Vorlage ins Koptische, das heißt ins christliche Ägyptisch).
Papyrologie – wozu?
Auch der nicht minder in der Presse besungene, 1994 entdeckte Artemidor-Papyrus interessiert vor allem Historiker: Während seine Rückseite Tierzeichnungen aus der Zeit um Christi Geburt zieren, trägt die Vorderseite zum einen eine Passage der im 1. Jahrhundert v. Chr. abgefassten »Erdbeschreibung« eines Artemidoros von Ephesos – mit der wohl ältesten erhaltenen antiken Landkarte überhaupt –, zum anderen um 100 n. Chr. ausgeführte Zeichenübungen von Bildhauerschülern. Die dreifache Nutzung des Blatts vermittelt neue Einsichten in Bereiche unterschiedlicher Zeitstufen; weltbewegend allerdings ist keine davon.
Die Frage ist also: Sind diese antiken Blätter die Aufregung wert? Was können Papyri wirklich leisten? Sicher haben sie wie Antiquitäten immer den Reiz des Authentischen. Doch wie ist es um ihre Aussagekraft bestellt? Wir kennen ja die griechisch-römische Antike, Grundlage unserer heutigen Kultur, bereits recht genau. Das verdanken wir unzähligen Kopisten. Sie haben im Lauf der Jahrhunderte umfangreiche Texte aus der antiken Dichtung, Wissenschaft, Philosophie, Geschichtsschreibung und anderen Bereichen auf immer wieder neuen Papyrus- und seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. auch Pergamentblättern in voller Länge abgeschrieben und so bis in die Neuzeit tradiert. Papyri hingegen sind in der Regel einzelne Blätter, vergleichbar mit herausgerissenen Buchseiten; nur sehr selten haben sich ganze Lagen davon erhalten, wie im Fall des »Judas-Evangeliums«, oder Teile von Rollen, sodass vollständige Werke oder doch wenigstens zusammenhängende Partien vor unseren Augen liegen. Zudem sprechen Papyri selten von Literatur, Religion oder anderen gewichtigen Dingen, etwa 95 Prozent handeln vielmehr vom Alltag. Was also ist von ihnen zu erwarten? Um es vorwegzunehmen: sehr viel, man muss nur die richtigen Fragen stellen.
Das griechische Wort pápyros – ins Lateinische übernommen und von dort als Papier (deutsch) oder paper (englisch) in die modernen Sprachen eingewandert – bezeichnete zugleich eine Pflanze und das aus ihr hergestellte Produkt. Dieses war bis zum Aufkommen des aus Tierhäuten gefertigten Pergaments im 2. Jahrhundert n. Chr. der allgegenwärtige Beschreibstoff in Verwaltung, Recht, Wirtschaft und Kultur der ganzen griechisch-römischen Welt. Auch danach blieb es bis zur Einführung des aus Lumpen hergestellten Hadernpapiers (siehe Bild S. 33) neben dem Pergament in Gebrauch. Von Ägypten aus hatte sich der Papyrus um 800 v. Chr. international verbreitet, als er zusammen mit der phönizischen Konsonantenschrift zu den Griechen gelangte. Diese schufen durch Einführung von Vokalzeichen eine komplette Lautschrift – das Alphabet, das wir in seiner latinisierten Form nach wie vor benutzen. Mit nur 22 bis 26 Zeichen war es unvergleichlich viel leichter zu erlernen als etwa die vorderorientalische Keilschrift mit ihren rund 600 Zeichen oder die noch wesentlich kompliziertere ägyptische Hieroglyphenschrift. Erforderte das Lesen und Schreiben im Vorderen Orient und in Ägypten eine jahrelange Schulung, so wurde es jetzt in Griechenland schnell zum allgemeinen Bildungsgut. Eine gebräuchliche Umschreibung für einen Dummkopf lautete nun im Griechischen: »kann weder schwimmen noch lesen und schreiben«.
 
Das Papier der Antike, Teil 2

Geburt der Literatur
Diesem Vorbild folgend übernahmen bald viele Kulturen des Mittelmeerraums das griechische Alphabet, so die Etrusker und Römer. Dadurch wuchs der Bedarf an Papyrus sprunghaft an. Ob öffentliche oder private Sachverhalte, alles ließ sich nun relativ leicht von fachkundigen Schreibern und Notaren schriftlich fixieren. Das wiederum förderte den steten Ausbau gesellschaftlicher Systeme wie der Gerichtsbarkeit, des Verwaltungswesens und des Wirtschaftslebens. Darüber hinaus entstand durch die schriftliche Archivierung ein Wissensspeicher, der Kenntnisse und Erkenntnisse in Erinnerung hielt und dadurch erweiterbar machte. Als Folge davon begann um 600 v. Chr. in der griechischen Stadt Milet an der kleinasiatischen Ägäis-Küste, einem blühenden Hafenort und der ersten Kulturhauptstadt Griechenlands vor Athen, ein Prozess des Ringens um Weltverständnis und Weltbeherrschung, der bis heute anhält: Forschung. Schon zuvor, im späten 8. Jahrhundert v. Chr., hatte die Kombination aus der so stark vereinfachten Schrift und dem dazugehörigen Beschreibstoff Papyrus die Geburt der europäischen Literatur ermöglicht: Die beiden Großgedichte »Ilias« und »Odyssee« mit ihren etwa 28 000 Versen, die unter dem Namen Homers nunmehr auf Papyrusrollen verbreitet wurden, inspirierten Dichter in ganz Griechenland in den folgenden Jahrhunderten zu eigenen Werken. Allein in Athen wurden im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. im Theater an der Akropolis über tausend Tragödien aufgeführt – jede ein Original. Und das war nur eine Auswahl unter zahlreichen eingereichten Stücken. Hinzu traten andere literarische Gattungen wie Komödie, Lyrik, Geschichtsschreibung, Rhetorik – die literarische Produktion muss also enorm gewesen sein. Die materielle Basis dieser Entwicklung, die maßgeblich die europäische Kultur hervorbrachte, bildete der Beschreibstoff Papyrus. Hergestellt wurde er aus den langen dreieckigen Stängeln der gleichnamigen Staude. Diese Pflanze mit ihrem charakteristischen Schopf von Blättern wuchs vornehmlich in den Sumpfgebieten entlang dem Nil, insbesondere in seinem Delta. Ihr griechischer Name pápyros (Cyperus papyrus L.) wird heute oft von der ägyptischen Bezeichnung pa-per-aa abgeleitet, zu Deutsch etwa »Besitz des Pharao«. Das könnte darauf hinweisen, dass der König das Monopol für Verarbeitung und Vertrieb besaß. Die verschiedenen Teile der Staude dienten schon in den Anfängen des Reiches zum Flechten von Seilen, Matten, Körben, aber auch als Leichtbaustoff für Boote. Das Papier aber fertigte man aus dem weißen Mark. Wie dies vonstatten ging, beschrieb der römische Schriftsteller Plinius der Ältere (1. Jahrhundert n. Chr.) in seiner »Naturgeschichte«. Die Stängel wurden entrindet und in etwa vierzig Zentimeter lange Stücke zerschnitten. Dann trennte man das Mark heraus und teilte es in feine breite Streifen. Diese wurden sodann vertikal aneinandergelegt, darauf kam eine weitere Lage in horizontaler Richtung. Das war die Vorderseite – beim Schreiben über die vertikalen Fasern hinweg störten die Fugen, die Tinte konnte spritzen. Das rohe »Blatt« wurde mit einem Holzschlägel breitgeschlagen. Dabei trat Pflanzensaft aus, der die Streifen miteinander verklebte; das Ergebnis presste und trocknete man. Nun folgte die Feinarbeit: Glätten der weißen Blätter mit Bimsstein, Beschnitt auf eine Größe zwischen 11 und 24 Zentimeter, Aneinanderlegen der Einzelblätter mit leichter Überlappung, schließlich Verkleben zu einer Papyrusbahn, die zusammengerollt wurde. Ein solches Produkt bestand aus etwa zwanzig Blättern und war zwischen zwei und fünf Meter lang. Für besondere Zwecke fertigte man Sondermaße – die längste bekannte Rolle erreicht 42 Meter. Erst nachdem im 2. Jahrhundert n. Chr. das Pergament aufkam, wurde die Buchform erfunden; dafür verwendete man Papyrusblätter. Produziert wurde laut Plinius in verschiedenen Güteklassen, von der Tempelqualität hieratica bis zum Verbrauchspapier emporitica.

Ägyptens Wüstenklima bewahrte die Rollen vor dem Verfall
Damit das Mark vor der Verarbeitung nicht austrocknete, lagen die Werkstätten in der Nähe der Erntegebiete. Deshalb besaß Äygpten zwangsläufig das Produktions- und Verkaufsmonopol und nutzte diesen Wirtschaftsfaktor weidlich aus, wie diverse erhaltene Verträge bezeugen, etwa ein Vertrag über eine Lieferung von 500 Papyrusrollen – also etwa 2,5 Kilometer Papier – nach Byblos in Phönizien. Die Herstellung war aufwändig, der Preis daher hoch. Vermutlich hatte eine Standardrolle den Gegenwert von ein bis zwei Tagen Arbeitslohn eines einfachen Arbeiters. Dementsprechend häufig wurde dieses Produkt wiederverwendet: Man nutzte auch die auf Grund der vertikal laufenden Fasern ungünstigere Rückseite oder schabte auf der Vor- derseite die Schrift wieder ab; Papyri der letzten Sorte heißen deshalb in der Fachsprache Palimpseste, »Wiederabgeschabte «. Zum Schreiben wurde ein Kálamos verwendet, ein Halm der Binse, später des Schilfrohrs. Die Tinte bestand aus Wasser, Gummiarabikum und Ruß. Als »Radierer« diente ein Sandsteinschaber; die von diesem aufgeraute Oberfläche bearbeitete man dann wieder mit einem Glättungssteinchen. Bei Ausgrabungen kamen häufig komplette Schreibsets zu Tage; sie konnten aus schlichtem Holz gefertigt sein, aber auch aus Elfenbein, zuweilen sogar mit Goldbeschlag verziert. Universell einsetzbar, verbreitete sich der Beschreibstoff Papyrus von Ägypten aus in den gesamten Mittelmeerraum. Doch nur in trockenen, sandigen Gebieten konnte das feuchtigkeitsempfindliche Papier überdauern. Deshalb stammen die meisten uns bekannten Exemplare aus dem südlich von Kairo gelegenen Niltal und den beiderseits des Stroms gelegenen Oasen; hinzu kommen vereinzelte Funde aus Mesopotamien, Nubien, Syrien, Jordanien und Palästina. Die wenigen Texte, die in Griechenland und Italien zum Vorschein kamen, verdanken wir besonderen Erhaltungsumständen: Der im Jahr 1962 in Derveni bei Thessaloniki gefundene Derveni- Papyrus etwa, der um 340 v. Chr. beschrieben wurde, blieb in einem seit rund 2350 Jahren ungeöffneten Grab konserviert (er ist das älteste Originalschriftstück Europas auf Papier). In Italien bewahrte die Asche des 79 n. Chr. ausgebrochenen Vesuvs Teile einer Bibliothek in Herculaneum (Villa dei Papiri) vor dem Zerfall. Die weit überwiegende Anzahl von Papyri – nicht nur ägyptisch beschriftet, sondern auch persisch, aramäisch, lateinisch, arabisch und vor allem eben griechisch – stammt jedoch aus Ägypten. Es wäre wunderbar, könnten all diese Quellen von einer einzigen Fachdisziplin bearbeitet werden, doch dafür fehlt die Vielsprachenkompetenz. So wandern die ägyptischen Papyri zu den Ägyptologen, die persischen in die Iranistik, die aramäischen in die Theologie und so fort. Weil aber die meisten Texte in griechischer Sprache verfasst sind und die systematische Papyruskunde mit diesen ihren Anfang nahm, versteht man heute unter Papyrologie vor allem die Wissenschaft von diesen griechischen Papyri; die relativ wenigen lateinisch beschriebenen nimmt man großzügig hinzu. Daraus ergibt sich auch eine klare zeitliche Eingrenzung des Arbeitsfelds: Ägypten geriet im Jahr 332 v. Chr. durch den Eroberungsfeldzug Alexanders des Großen unter die Herrschaft des makedonisch- griechischen Herrschergeschlechts der Ptolemäer, verblieb dort rund 300 Jahre lang bis zum Selbstmord Kleopatras 30 v. Chr. und wurde danach römische Provinz. Diese Phase wiederum endete mit der Invasion der Araber 641 n. Chr. Amtssprache war im Land der Pharaonen während der fast tausend Jahre währenden griechisch-römischen Herrschaftszeit vor allem das Griechische. Ergo: Alles, was in dieser Zeit in Ägypten in Griechisch oder Lateinisch auf Papyrus geschrieben wurde oder in diesen Sprachen aus anderen Ländern dorthin gelangte, bildet das Arbeitsgebiet der Papyrologen. Den größten Anteil daran haben – abgesehen von Privatkorrespondenz, Schülerarbeiten oder Ähnlichem – Urkunden und alle Arten von Dokumenten in Verwaltung, Recht, Wirtschaft, Politik und Religion. Viele stammen aus Ruinen und Gräbern. Dank neuer Verfahren wie der MSI (Multi-Spectral-Imaging-Technik), die Fragmente bei verschiedenen Wellenlängen abscannt, lassen sich inzwischen auch seinerzeit für Mumienkartonagen zweckentfremdete Schriftstücke oft lesbar machen.
Die ergiebigste Quelle waren und sind aber die Abfallhaufen antiker Siedlungen. Dies erkannten zunächst ägyptische Bauern Ende des 18. Jahrhunderts. Die oft zwanzig Meter hohen Abfallhaufen lieferten ihnen guten Dünger; als sie das Interesse europäischer Bildungsreisender an den beschrifteten Abfallpapieren gewahrten, boten die Haufen zudem einen lukrativen Nebenverdienst. Die nächste Phase setzte mit Napoleons Ägypten-Expedition von 1798 ein. Diese löste in Europa ein Faible für das Land der Pyramiden und Tempel aus. In ihrem Gefolge kamen nun häufig betuchte Antiquitätenjäger ins Land, die für die »Fetzen« gutes Geld boten. Bald gingen reiche Europäer selbst auf Papyrussuche, und sogar professionelle Unternehmen bedienten die europäischen Sammler. Eines der erfolgreichsten war der Londoner Egypt Exploration Fund (heute Egypt Exploration Society), der seit 1895 Ausgrabungen in dem vom Empire verwalteten Ägypten organisierte. Die Altertumswissenschaftler Bernard Grenfell und Arthur Hunt vom Queen’s College Oxford waren im Auftrag dieser Gesellschaft unterwegs, als sie 1897 im antiken Oxyrhynchos, rund 160 Kilometer südwestlich von Kairo, fündig wurden. Die griechische Beamtenoberschicht der einst drittgrößten Stadt des griechischen Ägypten war offensichtlich sehr bildungsbeflissen gewesen, denn die Ausgräber entdeckten im Müll einer emsigen Bürokratie auch zahlreiche Überbleibsel von Kopien anspruchsvoller griechischer Literatur. Vieles davon war durch abschriftliche Überlieferung bereits bekannt, manches aber auch neu – etwa Texte der frühen griechischen Lyrik, unter anderem ein stark fragmentiertes Gedicht der im späten 7. Jahrhundert v. Chr. geborenen Dichterin Sappho sowie christliche Schriften, darunter auch ein »Thomas-Evangelium«. Intensivere Grabungen zwischen 1903 und 1906 brachten erneut enorme Mengen Papyri zum Vorschein. So wurde die Oxforder Sammlung zur größten der Welt und umfasst nach Angaben der Direktion heute etwa 400 000 Fragmente. Seit 1897 arbeiten Wissenschaftler daran, diesen Schatz zu entziffern. In 69 Bänden der Reihe »The Oxyrhynchus Papyri« wurden bislang aber nur zirka 5000 Objekte publiziert: etwas mehr als ein Prozent des Bestands. Viele Kisten lagern außerhalb der Universitätsstadt. Das ist zwar nicht die Regel, aber auch Bestände anderer Papyrussammlungen wie der Museen in Wien, Berlin, Florenz, der Universitäten in Mailand, Heidelberg, Köln, Trier, Berkeley, Yale oder Ann Arbor sind noch längst nicht ausgewertet, oft noch nicht einmal gelesen. Nach mehr als hundert Jahren!
 
Das Papier der Antike, Teil 3

Wurmzerfressene Blätter
Doch das muss man verstehen, denn die Papyrologie ist eine äußerst zeitaufwändige Wissenschaft. Das liegt am Zustand ihres Materials, den Hans-Albert Rupprecht von der Universität Marburg 1994 so beschrieb: »Lose Blätter, zerrissen und zerknittert, von Würmern zerfressen, zu Rollen gewickelt, gefaltet und dann gepresst, harte Knäuel mit Erde bedeckt, steinhart oder auch lose und sehr zerbrechlich, in größeren oder kleineren Fragmenten.« Nicht allein das Entsorgen des Abfallpapiers auf der Mülldeponie ist dafür verantwortlich, sondern auch der oft zweckentfremdende Gebrauch zuvor (so klagte etwa ein römischer Dichter darüber, dass seine Werke im Kaufladen als Papiertüten verwendet würden). Die erste Aufgabe des Papyrologen lautet deshalb Reinigung. Ein mühsames Geschäft: Schmutz entfernen, Knäuel auflösen, Lagen trennen, Blätter glätten und, was dabei herauskommt, konservieren, damit es nicht zerfällt. Erst danach folgt das Lesen. Doch in welcher Sprache hat sich der Verfasser in seiner oft sehr individuellen Handschrift überhaupt geäußert? Worum geht es in dem meist ja nur sehr bruchstückhaften Text, ist er als »dokumentarisch« oder »literarisch « zu klassifizieren? Die eigentliche Herausforderung wartet dann im dritten Schritt: die Divination (nach dem lateinischen divinatio, »das Vermögen, Dinge vorauszusehen, zu erahnen und zu erraten, die eigentlich nur die Götter wissen können«). Dagegen wirken die heute so beliebten Sudoku-Rätsel wie Kinderspiele. Die Kunst besteht darin, die vielen Lücken in den Texten so weit wie möglich zu schließen. Dazu bedarf es überdurchschnittlicher Kenntnisse der Sprache, der je nach Textgattung und Thema gebräuchlichen Redewendungen und Fachbegriffe, der antiken Kulturund Literaturgeschichte sowie vieler weiterer Faktoren. Erst wenn all das zusammenkommt, vermag ein Forscher aus dem oft höchst jämmerlichen Rest, der vor ihm liegt, den ursprünglichen Zusammenhang und den vermutlich gemeinten Sinn zu erschließen. Wenn das geleistet ist, kann er als Krönung der Arbeit versuchen, Lücken durch Buchstaben oder gar ganze Wörter zu schließen. Gelingt dann bei literarischen Papyri noch die Zuordnung des so ergänzten Textes zu einem Autor oder gar die Gewissheit, dass ein bis dahin noch gänzlich unbekannter Text vorliegt, ist ein Meisterstück geglückt. Es folgt die Edition mit Beschreibung und Fotografie des Originals, Datierungsvorschlag, Umschrift in Druckbuchsta ben, Größenangabe der Lücken, Vorschlägen zu ihrer Ergänzung und schließlich mit einem Kommentar. Das alles braucht natürlich Zeit; der langsame Abbau der weltweiten Papyribestände beruht also keineswegs auf Saumseligkeit. Damit zurück zur Ausgangsfrage: Lohnt der Ertrag die Mühe?

Ein Esel für fünf Talente
Als Zweig der Altertumswissenschaft hat auch die Papyrologie die Aufgabe, die Entwicklung der menschlichen Kultur zu rekonstruieren und bewusst zu halten. In diesem Rahmen fällt ihr eine sogar sehr wichtige Funktion zu: Sie füllt Wissenslücken im Detailbereich. Dazu zwei Beispiele aus Oxyrhynchus. Auf den 12. Februar 307 (nach unserer Zeitrechnung) ist ein Kaufvertrag datiert, in dem ein Aurelios Ophelios, Sohn des Paulos und der Tísaïs aus dem Dorf Isieion Kato im Bezirk von Oxyrhynchos, bestätigt, einem Aurelios Theodoros aus Oxyrhynchos einen jungen männlichen Esel zum Preis von fünf Talenten und tausend Drachmen verkauft und dieses Geld vollständig erhalten zu haben. Vom 15. August 127 stammt ein Pachtvertrag, in dem Eudaimon, Eudaimons Sohn, aus der Stadt Oxyrhynchos, einem Dionysios, Sohn des Dionysios, aus Lenon bei Pela, beim Ort Paeimis ein im Vertrag genau bezeichnetes Stück Ackerland für sechs Jahre überlässt. Das Dokument benennt den jährlichen Pachtzins, zahlbar im Monat Payni auf dem Dreschplatz von Lenon in Form von frischem, reinem Weizen, frei von Gerste und gesiebt. Dokumente dieser Art werden uns nur durch Papyri zugänglich, das von Kopisten überlieferte Schrifttum enthält sie nicht. Dem Laien mag dergleichen banal vorkommen, und für sich genommen trifft das jeweils auch zu. Doch jedes derartige Dokument ist ein Puzzlestein, der uns hilft, Bereiche der antiken Gesellschaft zu verstehen. Wie war der Verwaltungsapparat aufgebaut? Wie funktionierten Gerichtsbarkeit, Finanzund Bankenwesen? Wie waren die geläufigen Finanzinstrumente – etwa Kauf, Darlehen, Miete, Bürgschaft – geregelt? Aber auch schon die schlichte Demografie antiker Gesellschaften hält heute noch mehr Fragen als Antworten parat – zu Bevölkerungszahlen, Lebenserwartung, Ehevertragsrecht und vielen anderen Komponenten. Indem die Papyri gesammelt, nach Typen klassifiziert, Landregionen, Zeiträumen und anderen Bereichen zugeordnet werden, entsteht ein Bild sozialer Teilsysteme, deren Zusammenführung den Entwicklungsstand der Zivilisation zumindest in einem Teil der Alten Welt, im hellenistisch-römischen Ägypten, außerordentlich detailreich fassbar macht und Schlüsse auf die Höhe der damaligen Gesamtkultur ermöglicht. Auch wenn der Kauf eines Esels oder das Verpachten eines Stücks Ackerland für sich genommen unspektakulär erscheint, helfen solche Informationen, das Alltagsleben der Menschen durch die letzten fast tausend Jahre des griechisch-römischen Altertums lebendig werden zu lassen. Kulturhöhe bemisst sich aber nicht nur nach dem Organisationsgrad einer Gesellschaft, sondern auch nach der Qualitätsstufe ihrer künstlerischen und wissenschaftlichen Produkte. Gerade in jüngerer Zeit erleben antike Werke eine Renaissance in Literatur und Theater. Leider können sich Intendanten und Stückeschreiber nur auf Restbestände der einstigen Produktion stützen. Von Sapphos OEuvre etwa blieben schätzungsweise nur sieben Prozent erhalten (das meiste übrigens gerade durch Papyri). Etwas besser bestellt ist es um die Werke der drei großen attischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides. Den antiken Berichten zufolge schrieben sie rund 300 Stücke, davon sind immerhin 31 erhalten, also etwa zehn Prozent. Viele andere in ihrer Zeit hochgerühmte griechische Literaten kannten wir lange Zeit sogar nur aus späteren antiken Erwähnungen und gelegentlichen Zitaten aus ihren Werken. Zu ihnen gehörte der Athener Menander (342 – 290 v. Chr.). Von seinen über hundert Komödien waren bis 1897 nur wenige Verse bekannt.

Sapphos Verse in Köln
Dann aber kamen Papyri mit Menander- Texten zum Vorschein – zunächst nur kürzere Textpartien aus verschiedenen Stücken, 1958 aber in der Genfer Privatsammlung Bodmer sogar ein ansehnlicher Teil einer Papyrusrolle mit dem vollständigen »Dyskolos« (zu Deutsch Griesgram, Menschenfeind). Zehn Jahre später kamen aus der gleichen Rolle noch größere Teile zweier weiterer Komödien hinzu. Nun wurden die begeisterten Urteile besonders der römischen Menander-Nachdichter Plautus und Terenz verständlich, und die Entwicklungsgeschichte der griechisch-römischen Komödie lässt sich dank diesem Papyrusfund heute auf einer viel solideren Grundlage darstellen. Mitunter verdanken wir es Papyri, dass namentlich bekannte antike Künstler überhaupt fassbar wurden. Dazu gehört zum Beispiel Bakchylides, der größte Konkurrent des im 5. Jahrhundert v. Chr. wirkenden griechischen Dichterfürsten Pindar. Ein anderes Beispiel ist der im 3. Jahrhundert v. Chr. im griechischen Alexandria im Nildelta wirkende Dichtergelehrte Kallimachos: In Rom berief sich im 1. Jahrhundert v. Chr. eine ganze Schule von lateinisch dichtenden Avantgardisten auf ihn als ihren Wegbereiter. Doch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten Papyrusfunde aus diesem Schatten für uns eine greifbare Persönlichkeit von genialer Neuerungskraft. Aber auch für immer verloren geglaubte Prosawerke sind uns durch Papyri wiedergeschenkt worden, wie die »Staatsverfassung der Athener«, ein politikwissenschaftliches Werk des Aristoteles, das im Jahr 1891 zum Vorschein kam. Die Aufzählung weiterer bedeutender Funde würde Seiten füllen. Begnügen wir uns hier mit einer Entdeckung aus jüngster Zeit, einem Lied Sapphos. Bisher waren davon nur ein paar Vers-Enden bekannt. Vor zwei Jahren dann wurden aus der Kölner Papyrussammlung zwölf nahezu vollständige Verse publiziert. Sie zeigen Sappho, die scheinbar ewig jugendliche Dichterin der Schönheit und der Liebe, im Ringen mit dem Alter – und rücken sie uns menschlich wieder ein Stück näher (siehe Liedtext oben). So fällt denn das abschließende Urteil mehr als positiv aus. Auch wenn viele Entdeckungen keineswegs so sensationell sind, wie es Medienberichte mitunter darstellen, oft nur Puzzlesteine im großen Gesamtbild der Antike – das bewundernswert zähe Engagement der Papyrologen lohnt sich. Sie bereichern die Kultur- und Literaturwissenschaften, und sie inspirieren auch die moderne Literatur durch ihre Entdeckungen immer wieder aufs Neue. Kaum ein Zweig der Altertumswissenschaften bietet jungen Forschern heute noch derart vielfältige Möglichkeiten wie die Papyrologie.

Joachim Latacz ist emeritierter Ordinarius für Griechische Philologie an der Universität Basel.
 
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