Der frühe Kommunismus - von Rousseau zu Marx

I

InterKomHist

Gast
Hallo Gemeinde,

ich habe eine bestimmte Fragestellung der Ideengeschichte und hoffe durch eure Hilfe auf eine zufriedenstellende Beantwortung.

Soweit ich informiert bin, gab es die politische Bewegung des Kommunismus lange bevor Marx sein "Kommunistisches Manifest" veröffentlicht hat (Marx selbst hat ja selbst später einige Phänomene des Frühkommunismus, die Pariser Kommune namentlich, passiv als Intellektueller rezipieren müssen). Und sie war, soweit ich recherchiert habe, geprägt durch die Schriften Rousseaus', dabei aber eng verbunden mit anderen "linksutopischen" Bewegungen, wie den Sozialismus, den Anarchismus oder der frühen Sozialdemokratie.
In Marx und Engels Werk finden sich immer noch viele Polemiken gegen andere Denker - wie der Anti-Dühring, "Kritik des Gothaer Programms", "Die deutsche Ideologie", "Herr Vogt" usw. - die darauf schließen lassen, dass Marx und die Marxisten zu diesen Zeitpunkt selbst in der eigenen Bewegung nicht unumstritten waren.

Meine Frage lautet nun: wie konnte sich der Marxismus so sehr gegen andere Ausdeutungen und Verständnisse des Kommunismus durchsetzen, dass wir heute das Wort Kommunismus bedeutungsgleich mit den Wort Marxismus benützen?
(Inzwischen ist mit den sog. "Post-Marxismus" wieder eine ganze Reihe neuer theoretischer Ansätze entstanden; in der parteipolitischen Praxis scheint ein Pushen von Marx dennoch zu den traditionellen Markenzeichen "kommunistischer" Politik zu gehören.)

Historisch gesehen (denn ich interessiere mich dafür, die Frage historisch anzusehen und nicht philosophisch, ökonomisch oder durch reine Philologie) stellt sich sofort die Frage, ab wann diese Bedeutungsverengung des Begriffes "Kommunismus" zu verzeichnen ist?

Um diese Frage selbstständig recherchieren zu können hätte ich an euch historisch geschultes Publikum eine Reihe von Fragen:
- Welche kommunistischen Publikationen sind für den betrachteten Zeitraum (wir reden wohl etwa von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts?) relevant? (Kann man sie Online einsehen?)
- Welche besonderen Ereignisse, Parteitage, Debatten, Konferenzen etc. sind zu berücksichtigen?
- Mich würde insbesondere interessieren, welche Rolle Fichtes "der geschloßene Handelsstaat" dabei genommen hat?
- Gab es eine Verbindung zwischen Romantik und Kommunismus (schließlich kam Rousseau auch bei diesen Leuten gut an)? Gabe es auch eine zwischen den Beginnenden Nationalstaatlichkeiten und den Kommunismus?
- Welche besonderen Argumente wurden vorgebracht, wo wurde welche Schrift publiziert?
- Welche Gruppen sprach der Kommunismus zu welcher Zeit an?

Gibt es Bücher oder Links zu diesen Punkten?
 
Soweit ich informiert bin, gab es die politische Bewegung des Kommunismus lange bevor Marx sein "Kommunistisches Manifest" veröffentlicht hat (Marx selbst hat ja selbst später einige Phänomene des Frühkommunismus, die Pariser Kommune namentlich, passiv als Intellektueller rezipieren müssen). Und sie war, soweit ich recherchiert habe, geprägt durch die Schriften Rousseaus', dabei aber eng verbunden mit anderen "linksutopischen" Bewegungen, wie den Sozialismus, den Anarchismus oder der frühen Sozialdemokratie.
In Marx und Engels Werk finden sich immer noch viele Polemiken gegen andere Denker - wie der Anti-Dühring, "Kritik des Gothaer Programms", "Die deutsche Ideologie", "Herr Vogt" usw. - die darauf schließen lassen, dass Marx und die Marxisten zu diesen Zeitpunkt selbst in der eigenen Bewegung nicht unumstritten waren.

Meine Frage lautet nun: wie konnte sich der Marxismus so sehr gegen andere Ausdeutungen und Verständnisse des Kommunismus durchsetzen, dass wir heute das Wort Kommunismus bedeutungsgleich mit den Wort Marxismus benützen?
(Inzwischen ist mit den sog. "Post-Marxismus" wieder eine ganze Reihe neuer theoretischer Ansätze entstanden; in der parteipolitischen Praxis scheint ein Pushen von Marx dennoch zu den traditionellen Markenzeichen "kommunistischer" Politik zu gehören.)

Historisch gesehen (denn ich interessiere mich dafür, die Frage historisch anzusehen und nicht philosophisch, ökonomisch oder durch reine Philologie) stellt sich sofort die Frage, ab wann diese Bedeutungsverengung des Begriffes "Kommunismus" zu verzeichnen ist?

Viele deiner Frage zur Geschichte des Kommunismus werde ich leider nicht einmal andeutungsweise beantworten können, z. B. solche speziellen wie die nicht zitierte zur Bedeutung Fichtes oder die von dir angegebene Verbindung zu Rousseau.

Zur Pariser Kommune hat Sartre etwas geschrieben, ich glaube in "Fragen der Methode", finde aber leider mein Exemplar nicht. Er konnte Flaubert merkwürdigerweise nie verzeihen, das dieser als Bürgerlicher für diese Bewegung kein Verständnis hatte (wenn ich mich recht erinnere).

Die Bedeutung Maxens erscheint so groß zu sein, weil er ja eine gründliche Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystem gemacht hat; ich kenne mich in den Diskursen leider zu wenig aus, aber für die Rezeption der Marxschen Theorie war eigentlich bedeutender noch sein "historischer Materialismus", womit ich hier konkret an seine Phaseneinteilung der Geschichte denke; es heißt ja, daß er seiner positivistische Geschichtsphilosophie einen notwendigen Fortschritt zum Zusammenbruch des kapitalistsichen Systems konstruiert, der als historisch widerlegt gilt. Der Kommunismuskritik kommt diese Falsifizierung dann entgegen, und das dürfte ein Grund sein, für eine kurzgeschlossene Identifizierung von Marxismus und kommunistischer Bewegung. Andererseits erhielt der Kommunismus freilich durch Marx sein unübetroffenes wissenschaftliches Fundament und wenn es stimmt, daß das Wort "Kommunismus" erst kurz vor dem "Manifest der kommunistischen Partei" aufkam, wie etwa hier: Kommunismus aus dem Lexikon - wissen.de behauptet wird, sind Marx & Engels aber auch schon sehr früh in dieser Bewegung involviert,* so daß man sich genauer anschauen müßte, welchen Anlaß die von dir angeführten Marxschen Schriften hatten.
Wenn man den Wikipedia-Artikel über Frühsozialismus liest, würde ich auf den ersten Blick nicht sagen, daß sich Marx im Widerspruch zu solchen Ansätzen verhält; sein philosophischer Ausgangspunkt ist nur ein anderer.


* Hilfreich könnten vielleicht zwei Wikipedia-Artikel sein:
Wilhelm Weitling ? Wikipedia
Bund der Kommunisten ? Wikipedia
 
@InterKomHist

Interessante Fragestellung. Nun ist Jean-Jacques ja eher 18. Jh., weißt Du aber.

Dein Fragevolumen ist recht umfangreich, ich empfehle Dir aufgrund der Namen die jeweiligen Publikationen der "frühen" Kommunisten zu recherchieren und bei Marx/Engels für den Übergang 19. Jh./20. Jh. einen Gegencheck hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte zu machen. Die Werke von Marx und Engels sowie Lenin sind mit Ausnahmen fast alle online.

Karl Marx - Friedrich Engels - www.ml-werke.de

auch mal hier:

W.I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913)

Die Texte der Originalwerke sind authentisch, allerdings sind die Betreiber leicht indoktriniert, also paß bei exegetischen Texten auf. ;)

Jetzt folgen einfach die Namen, die manchmal explizit von Marx verwendet wurden, sind mit einem * gekennzeichnet, die anderen gehören zur komunistisch/anarchistischen Traditionslinie, die Grenzen waren da seinerzeit fließend. Du solltest für alle mindestens eine Wiki-Artikel finden und von dort kannst Du dann Deine Recherche starten:

- Robert Owen *
- St. Simon *
- Charles Fourier *
- Bakunin
- Sergej Netschajew
- Koropotkin
- Plechanow

Undi hier geht es weiter:

W.I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913)

Achtung auf die Lebensdaten achten! Es sind auch Vorläufer bzw. Quellen des Leninismus enthalten.

Nun zur Begriffsbestimmung. M.E. wurde zu Lebzeiten von Marx und Engels nur von Sozialismus gesprochen, außer in der Gesellschaftsformationstheorie bei Marx (Sozialismus als erstes Statium des Kommunismus). Ene Trennung der Begriffe setzte m.E. spätestens mit der II. Internationale ein (faktisch die Sozialdemokratisierung der sozialistischen Arbeiterbewegung, deutsche Vertreter z.B. Bernstein und Kautsky).

Spätestens nach dem I. WK und im Vorgriff schon bei Lenin wird Kommunismus als Abgrenzung zur sozialdemokratischen Bewegung verwendet. Nach dem I. WK entstanden dann in deutlicher Abgrenzung zu den Sozialdemokraten kommunistische Parteien. Vorläufer die Franktion der "Bolschewiki":

Bolschewiki ? Wikipedia

Allerspätestens hiermit, war dan die bereits vorher von Lenin theoretisch herausgearbeitete Trennung Sozialdemokratie < = > Komunisten, auch organisatorisch vollzogen.

Kommunistische Internationale ? Wikipedia

Wenn Du weitere Fragen hast, dann frag.

Mit revolutionärem Gruß ;)

M.
 
Zuletzt bearbeitet:
@Zoki: Schwerlich!:confused: Wie sollte er es auch sein, da er deutlich vor Marx gelebt hat.

Jean-Jacques Rousseau ? Wikipedia

Aber vermutlich wolltest Du fragen, ob man ihn als einen frühen Sozialisten / Utopisten / Anarchisten bezeichnen könnte.

Sicher ist zunächst, dass er durch seine Arbeiten die Vorstellungen über die Legitimation von Herrschaft entscheidend geprägt hat. Und das ist ein Teilaspekt einer idealisierten Schnittmenge zwischen allen Theoretiker, die sich in diesem intellektuellen Umfeld bewegt haben.
 
@Zoki: Schwerlich!:confused: Wie sollte er es auch sein, da er deutlich vor Marx gelebt hat.

Jean-Jacques Rousseau ? Wikipedia

Aber vermutlich wolltest Du fragen, ob man ihn als einen frühen Sozialisten / Utopisten / Anarchisten bezeichnen könnte.

Sicher ist zunächst, dass er durch seine Arbeiten die Vorstellungen über die Legitimation von Herrschaft entscheidend geprägt hat. Und das ist ein Teilaspekt einer idealisierten Schnittmenge zwischen allen Theoretiker, die sich in diesem intellektuellen Umfeld bewegt haben.

Ich war von der Überschrift überrascht.

Habe einiges im Studium in Pädagogik über in gelesen, wenn man in einordnen könnte dann doch eher unter Anarchisten.
 
- Mich würde insbesondere interessieren, welche Rolle Fichtes "der geschloßene Handelsstaat" dabei genommen hat?
- Gab es eine Verbindung zwischen Romantik und Kommunismus (schließlich kam Rousseau auch bei diesen Leuten gut an)? Gabe es auch eine zwischen den Beginnenden Nationalstaatlichkeiten und den Kommunismus?

Zunächst zur Romantik:
Eine direkte Verbindung zwischen Romantik und Marx hat es wohl nicht gegeben. Dennoch gehören die Romantiker zu den frühesten Kritikern der Moderne und damit auch an dem, was Marx die Warenproduktion nennt. Der romantische Antikapitalismus ist aber viel stärker mit einer grundsätzlichen Kritik an der Moderne verbunden als der Frühsozialismus und erst recht als Marx(der ja nicht grundlos die "bürgerliche Gesellschaft" als wichtige geschichtsphilosophische Etappe betrachtet). Lesenswert wäre dazu etwa Tiecks Kunstmärchen Runenberg. Eine interessante Lesart dabei ist, die phantastische, magische Welt des Gebirges mit seinem magischen Reichtum im Kontrast zur profanen, agrarischen Erwerbswelt des flachen Landes als städtische, früh-industrielle, moderne Welt zu verstehen. Der Reichtum, der aus der Warenproduktion entspringt - nach Marx also der Mehrwert - ist für Tieck also magisch und mystifiziert. Hier ließe sich dann auch mit Marxens Fetischbegriff ansetzen. Auch interessant wäre etwa das Grimmsche Märchen "Der Jude im Dorn".
Bei den Romantikern kommt dann auch Fichte ins Spiel. Inwieweit Fichtes Überlegungen in seinem "Handelsstaat", wo er ja stark autarkistisch argumentiert, eine Rolle für den romantischen Antikapitalismus spielte, kann ich nicht sagen. Einflussreich war Fichte in der Romantik aber auf jeden Fall. Insbesondere sein mystisches Konzept der Nation (Reden an die dt. Nation), seine Nationalerziehung und seine Judenfeindschaft waren stark rezipiert. Fichte saß auch mit Brentano und anderen in einer judenfeindlichen, nationalistischen "Tischgesellschaft".

Habe einiges im Studium in Pädagogik über in gelesen, wenn man in einordnen könnte dann doch eher unter Anarchisten.
Woran machst du das denn fest?
Man kann Rousseau wirklich viel vorwerfen, aber Anarchismus wäre dann schon etwas fies.
 
Interessantes Thema...seltsam ,daß ich erst jetzt darauf stosse...

eigentlich setzen wir den Kommunismus/Sozialismus heute fälschlich mit Marx gleich...

Marx Kritik der politischen Ökonomie und seine Überlegungen zur kommune waren sehr komplex...

was wir heute kennen ist Sozialdemokratie und Marxismus-Leninismus... beides ist eher am Rande und nur teilweise von Marx beeinflusst, die sozialdemokratie wurde von anderen Denkern als Marx wesentlich stärker geprägt und Lenin hat seinen Marx extrem vereinfacht und alles was schwierig war, Marx Wertkritik z.B., mehr oder weniger auskeklammert und sich mit seinem Konzept von Antiimperialismus und neuer ökonomischer Politik auch ganz von Marx Wertgesetz verabschiedet... sein Konzept vom sozialistischen Staat steht auch in extremem Widerspruch zu Marx Schriften zur Kommune und Etatismuskritik.

Trotzdem spricht man aber von Marxismus-Leninismus und sieht in marx den großen Denker des Sozialismus, obgleich er für fast alles was wir damit in Verbindung nicht oder nur sehr mittelbar verantwortlich war.

Aber die heutigen Marxisten machen den gleichen Fehler... so argumentieren sie mit Marx für zentrale Planwirtschaft und staatlichen Eingriffe in den Handel... Marx war aber Kritiker des Volksstaates und Freihandelsbefürworter... als hätten sie den guten Mann nie selbst gelesen:confused:
 
Aber die heutigen Marxisten machen den gleichen Fehler... so argumentieren sie mit Marx für zentrale Planwirtschaft und staatlichen Eingriffe in den Handel... Marx war aber Kritiker des Volksstaates und Freihandelsbefürworter... als hätten sie den guten Mann nie selbst gelesen:confused:

Abgesehen davon, dass die obigen Aussagen zur Ideen- und Ideologiegeschichte der Sozialdemokratie oder dem Marxismus-Lenismus schlichtweg von Unkenntnis zeugen, ergeben sich zusätzliche Fragezeichen.

Richtig ist, die SPD ist bis in die 50er Jahre in der Programmatik eine revisionistische marxistische Partei gewesen.

Richtig ist auch, dass der Marxismus - als Ideengeschichte - einen Einfluss auf den Leninismus-Stalinismus hatte. Und es ist auch richtig, dass Lenin, als geschulter Historischer-Materialist eine eigenständige Ideologie entwickelt hatte, die auf die Bedürfnisse eines agrarisch geprägten Landes zugeschnitten war.

Ansonsten:
1. Wer oder was sind eigentlich "heutige Marxisten"?

2. Wie grenzen sich diese sogenannten "heutigen Marxisten" von den westlichen "Neo-Marxisten" eigentlich ab?

Generell und pauschal zur Interpretation von Marx gilt sicherlich:
Ansonsten steckt das Werk von Marx und Engels durchaus voller Widersprüche, die heute als "Früh-" oder "Spätwerk" zu kennzeichnen wären. So ergeben sich beispielsweise deutliche Unterschiede in der "Entfremdungstheorie" und seiner Bewertung des Menschen in der Gesellschaft, die er in den ökonomisch philosophischen Manuskripten erarbeitet hat und den Darstellungen, die er später im "Kapital" darstellt. Ein Aspekt, auf den beispielsweise Fromm hingewiesen hatte.

https://books.google.de/books?id=rrG0_PkWvvwC&printsec=frontcover&dq=marx+concept+of+man&hl=de&sa=X&ved=0CCEQ6AEwAGoVChMIobKikayNxgIVjAwsCh2rcwJY#v=onepage&q=marx%20concept%20of%20man&f=false

Ansonsten, und darauf hatte auch schon Silesia hingewiesen, erfolgt eine deutlich "entspanntere" Diskussion des Philosophen Marx oder des Ökonomen Marx in den aktuellen Fachdisziplinen.

Und ein Nobelpreisträger, J. Stiglitz, hat immerhin sich die Mühe gemacht, "etwas differenzierter" die real vorhandenen Defizite und Probleme von "zentralen Planwirtschaften" zu beschreiben und zu analysieren.

https://books.google.de/books?id=Bpyq1CK2HgAC&printsec=frontcover&dq=whither+socialism&hl=de&sa=X&ved=0CCQQ6AEwAGoVChMI8N7ml62NxgIVg4osCh2xjwDD#v=onepage&q=whither%20socialism&f=false

Mir drängt sich doch ein wenig der Eindruck auf, dass Du selber das getan hast, was Du anderen vorhältst, Dich nicht ausreichend mit dem Thema beschäftigt zu haben.

Und noch ein Tipp zu Aktualisierung Deines "Marx-Wissens" eine Publikation von Rahel-Jaeggi:

https://books.google.de/books?id=qwtRkgEACAAJ&dq=rahel-jaeggi+nach+marx&hl=de&sa=X&ved=0CCAQ6AEwAGoVChMIvMXY56-NxgIVCV0sCh050ACn
 
Abgesehen davon, dass die obigen Aussagen zur Ideen- und Ideologiegeschichte der Sozialdemokratie oder dem Marxismus-Lenismus schlichtweg von Unkenntnis zeugen, ergeben sich zusätzliche Fragezeichen.

Richtig ist, die SPD ist bis in die 50er Jahre in der Programmatik eine revisionistische marxistische Partei gewesen.

Könntest du das kurz erläutern? Die Begriffspaarung "revisionistisch marxistisch" ist vielleicht nicht jedem Forenmitglied geläufig. Ich mein, als Attribut für die alte Tante SPD.

Add Haerangil: Hau rein. Das Marx ein Kritiker des Volksstaats und ein Befürworter des Freihandels war, könnte mich zum Marxismus bekehren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die frühe Sozialdemokratie war eine äusserst heterogene Bewegung die sich aus unterschiedlichsten Gruppen und Richtungen entwickelt hat... es gab einen marxistischen Flügel und sogar einen libertären oder "anarchistischen Flügel"...

Marx Werk in Früh- und Spätwerk einzuteilen ist aufgrund der Veröffentlichungsschwierigkeit sehr schwierig... viele Schriften wie das K2 und K3 sind eigentlich früher entstanden als das K1 oder von Engels aus Vorarbeiten zum K1 und späten Schriften kompiliert worden.

Ich weiß auch nicht ob eine Aufspaltung Marx' in den frühen und den späten Marx Sinn macht da es keine Klimax gibt an der man sagen könnte ,daß Marx seine frühen Auffassungen in großem Stil geändert hätte... zwei Punkte haben ihm maßgeblich beeinflusst seine Haltung etwas zu ändern, das eine war die Pariser Commune, das zweite die Arbeit am K1 während der er Wertgesetz und universelle Konkurrenz ausarbeitet, was ihn in Schwierigkeiten mit den eine schnelle gewaltsame Revolution anstrebenden Mitgliedern des KB wie Willich und Schapper führte die "Männer der Tat", wie Marx sie nannte, während er selbst weitere Theoriebildung und Kapitalismusforschung sowie Arbeiterbildungsprojekte bevorzugte...

Heutige Marxisten von "Neomarxisten" abzugrenzen halte ich für eher unsinnig... ich würde eher von einem Flügel sprechen der stark von der leninschen und früh-Sozialdemokratischen Marx-Deutung beeinflusst ist und einem sehr kleinen und eher unbedeutenden Flügel der zum Marx-Engels Werk als Basis zurück will und versucht sich von Sozialdemokratie und Realsozialismus abzugrenzen... zu dessen Hauptvertreter ich die neue Marx Lektüre zählen.

Diejenigen marxianischen Sozialdemokraten die sich explizit auf die Kritik des Gothaerprogramms und das eher engels-beeinflusste Erfurter Programm bezug nehmen scheinen mir auch eher wenige zu sein... jedenfalls spielt weder Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, Genossenschaften, noch Marx internationalistisches Programm dort eine sichtbare Rolle.

Zum Staat:
„Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich
eine
Regierung der Arbeiterklasse
, das Resultat des
Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Kl
asse, die endlich entdeckte politische Form, unter
der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollz
iehen konnte. (...) Die Kommune bildete sich aus de
n
durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen B
ezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren
verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrza
hl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkann
ten
Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte n
icht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende
Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu
gleicher Zeit. (...) Von den Mitgliedern der Kommun
e an
abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiter
lohn besorgt werden.“

Hier klingt Marx eher anarchistisch oder rätedemokratisch als zentralstaatlich...

„Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der ‚Volksstaat‘ ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx’ gegen Proudhon und nachher das Kommunistische Manifest direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat ‚Gemeinwesen‘ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische ‚Kommune‘ sehr gut vertreten kann.“ (S.321/322 des deutschen Originals.)
Das ist seitens Engels ein positiver Bezug auf die pariser Commune...

Zum Freihandel... Marx war in dem Sinne kein Fürsprecher des Freihandels, er sah aber im Staatsinterventionismus und Schutzzöllen ein Hindernis so ,daß er im Zweifelsfall Freihandel vor staatlicher Lenkung durch Schutzzölle favorisierte, da dies die Entwicklung des Kapitalismus und damit auch die Zuspitzung dessen Widersprüche beschleunige:

Marx Replik auf Bowring:
Karl Marx - Rede ueber die Frage des Freihandels

Lenin war im Gegensatz zu Marx Realpolitiker... er war sich seiner zunächst schwachen Position nach der Februarrevolution bewußt und frühe Versuche das Wertgesetz abzuschaffen waren fehlgeschlagen, daher orientierte er sich in eine eher proudhonsche Richtung um... musste dies aber mit Marx-Engels begründen... darum interpretierte er Engels "Der Staat stirbt ab", eigentlich auf die bürgerlichen Reste und Einflüsse des bürgerlichen Staates auf die Commune in einen Übergang vom bürgerlichen zum proletarischen Staat um...

Lenin hat sich selbst gegen Ende auch durchaus kritisch geäussert

Es scheint, ich habe mich vor
den Arbeitern Rußlands sehr sc
huldig gemacht, weil ich mich
nicht mit genügender Energie und Schärfe in
die ominöse Frage der Autonomisierung
[4]
eingemischt habe, die offiziell, glaube ic
h, als Frage der Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken bezeichnet wird.
Den Apparat in einem Jahrfünft hinreichend umzugestalten is
t überhaupt unmöglich, besonders unter den
Bedingungen, unter denen sich die
Revolution bei uns vollzogen
hat. Es genügt, dass wir in
fünf Jahren einen Staat von neuem Typus gescha
ffen haben, in dem die Arbeiter, gefolgt von
den Bauern, gegen die Bourgeoisie vorgehen,
auch das ist angesichts der feindlichen
internationalen Umgebung eine gigantische Le
istung. Aber dieses Bewusstsein darf uns den
Blick nicht dafür trüben, dass wir im Grunde
den alten Apparat vom Zaren und von der
Bourgeoisie übernommen haben und dass jetz
t, nachdem der Frieden gekommen und der
minimale Bedarf zur Stillung des Hungers gesichert ist, alle Arbeit darauf
gerichtet sein muss,
den Apparat zu verbessern.
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/brendel/1958/kritik.htm

Da spricht ganz der Realpolitiker Lenin... er greift Kritik auf um dann gleich seine Realpolitik als notwendig zu verteidigen und die von ihm in Staat und Revolution noch angekündigte "Zerschlagung des Staates" in ferne zukunft aufzuschieben um erstmal den vom Zarenreich übernommenen Staat zu verbessern.
 
Zuletzt bearbeitet:
Könntest du das kurz erläutern? Die Begriffspaarung "revisionistisch marxistisch" ist vielleicht nicht jedem Forenmitglied geläufig. Ich mein, als Attribut für die alte Tante SPD.


„Revisionistisch Marxistisch“ <?xml:namespace prefix = "o" ns = "urn:schemas-microsoft-com:eek:ffice:eek:ffice" /><o:p></o:p>

Wenn ich dazu etwas bemerken darf.<o:p></o:p>
M.W. geht dieser Begriff auf das "Görlitzer Programm" zurück. Ich meine er hat dort seine Wurzeln.<o:p></o:p>
E. Bernstein hatte in wesentlichen dieses Programm erarbeitet. Es war ausgesprochen revisionistisch, aber es verließ nicht grundsätzlich marxistische Grundlagen.<o:p></o:p>

Programme der SPD: <o:p></o:p>
1. Erfurter Programm 1891.<o:p></o:p>
2. Görlitzer Programm 1921. Es löste das Erfurter Programm ab.<o:p></o:p>
3. Heidelberger Programm 1925. Dieses löste das Görlitzer Programm ab und galt bis 1959.<o:p></o:p>
4. Godesberger Programm 1959. Dieses galt bis 1989. Wandel von einer sozialistischen Arbeiterpartei hin zur Volkspartei<o:p></o:p>
5. Berliner Programm ab 1989. Dieses galt bis 2007.<o:p></o:p>
6. Hamburger Programm ab 2007 und zurzeit gültiges Programm. <o:p></o:p>

Ab 1891, weil da erstmalig der Name SPD festgeschrieben wurde.<o:p></o:p>

Vorher:<o:p></o:p>
1869 Eisenach (SDAP) und 1875 Gotha (ADAV und SDAP).<o:p></o:p>
<o:p></o:p>

<o:p></o:p>
 
Danke. Ich hatte "Revisionismus" bisher fest als rückwärtsgewandte, rechte Angelegenheit abgelegt. Deswegen hab ich "revisionistisch marxistisch" nicht zusammengebracht.

Jetzt aber nachgelesen, dass der Begriff ursprünglich die Weiterentwicklung der SPD bezeichnete. Wenn ich das richtig verstehe, ist "Reformismus" ein Synonym für den Revisionismus in der Sozialdemokratie?
 
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