Der "Wilhelminische Baustil" - Baukunst oder nicht?

Dieses Thema im Forum "Kunstgeschichte" wurde erstellt von Repo, 3. August 2010.

  1. Repo

    Repo Neues Mitglied

    Auf Anregung Roveres:

    Man muss an diese "wilhelminischen Bauten", woanders spricht man vom "Eklektizismus", unvoreingenommener herangehen.
    Das wär ein sehr spannendes Thema - das neue Reich und seine (gescheiterte ?) Architektur - sollten wir diskutieren!

    Gescheitert in dem Sinne da es nicht gelang einen "Reichsstil" zu kreieren - oder gelang dies etwa doch? Auf jeden Fall sind diese Bauten sehr interessant und zeugen von hohem Können ihrer Architekten. Nur der Spagat zwischen Funktion und Wirkung war oft nicht zu schaffen (wie man gerade exemplarisch beim Palais du Rhin sieht. Dieses soll ein Kaiserschloss werden und präsentiert sich als Bürokratenburg - kein Vergleich zum wenig älteren Brüssler Königsschloss).
     
  2. Arne

    Arne Premiummitglied

    Da man über Geschmack nicht streiten soll, sollte man versuchen ganz nüchtern heranzugehen. Nach meinem, beschränkten architektonischem Grundwissen, ist der wilhelminische Baustil eigentlich Historismus, der sich vor allem damit auszeichnet, daß alte Elemente zusammengeführt wurden.
    In den Augen kritischer Künstler, Architekten und Zeitgenossen ist das praktisch ein verkitschter Mischmasch gewesen. Heute würde man Begriffe wie "Disneyland-Gebäude" einwerfen. Das ist auch nicht unbedingt ein deutsches Phänomen. Bauten in den USA und im europäischen Ausland dieser Zeit ähneln sich stark.

    Positiv gesehen, vereint der Baustil aber Schönes aus diversen Epochen und Baustilen. Ob die Sammlung von schönen Elementen zu etwas führt, was überfrachtet umkippt, ist Ansichtssache.

    Tatsache ist, daß heute die Gebäude der Gründerzeit sehr beliebt sind. Als Wohnhäuser, als Ansicht im Stadtbild und sogar in praktischer Hinsicht. So sind Bahnhöfe aus der Zeit von 1900 noch eine Zierde im Innenstadt-Stadtbild und gut nutzbar. Moderne Bauten aus Glas und Stahl werden von der Masse der Leute eher abgelehnt, verursachen horrende Instanthaltungskosten (Scheiben müssen teils vom Kran aus geputzt werden) und sind nicht immer sturmfest (siehe Berliner Hauptbahnhof).

    Wer sich übrigens näher informieren will, dem sei empfohlen:
    "Atlas deutscher Profanbauten 1852 - 1912" VDI-Verlag, 1987

    "Historismus" Dolgner, Dieter Seemann-Verlag, 1993
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  3. Caro1

    Caro1 Neues Mitglied

    @ Repo
    Sollte man zum Vergleich nicht auch andere europäische Baustile wie z.B. den Edwardian Style heranziehen, der ebenfalls dem Oberbegriff eines "Historimus" zugerechnet wird, unter den auch der sogenannte "Neobarock" oder "Wilheminismus" fällt?

    Eklektizismus betrifft ja meines Wissens nicht nur einige wilhelminische Bauten, sondern bezeichnet überhaupt die wahllose Vermischung verschiedener Baustile und Merkmale an einem Gebäude. Im übrigen geschieht dies häufiger auch im Zuge größerer, hier unsensibler Renovierungen und Vergrößerungen.

    aus http://www.innenarchitekten-in-berlin.de/architektur/historismus-architektur.htm


    Edwardian Baroque architecture - Wikipedia, the free encyclopedia
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  4. Repo

    Repo Neues Mitglied


    Von mir ist lediglich der unterstrichene (im Org. kursive)Teil.
    Alles andere von Rovere!
     
  5. Caro1

    Caro1 Neues Mitglied

    Nachtrag zum Eklektizismus:
    Johann Joachim Winckelmann hat den Begriff "Eklektizismus" als Erster auch für Kunst und Architektur verwendet. Er starb 1768 in Triest. Demnach gab es den Eklektizismus schon lange vor der wilhelminischen Ära, bzw in Verbindung mit frühem Historismus.
    Deutsches Fremdwörterbuch - Google Bücher
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  6. Brissotin

    Brissotin Aktives Mitglied

    Wobei hier die Frage wäre, ob man zwischen historistischen Tendenzen und der Baukunst der Gründerzeit vielleicht auch klarer unterscheiden müsste. Soll es hier generell um Historismus oder nur um die Baukunst der Gründerzeit gehen?
    Faszinierend finde ich ja die Neogotik im 18.Jh. wie in Wörlitz zu sehen. Aber da waren Erdmannsdorff und Umkreis ja sowieso ihrer Zeit weit voraus.:anbetung::anbetung:
     
  7. Rovere

    Rovere Premiummitglied

    Ich muss gleich zu Beginn laut und deutlich STOP!!!! rufen sonst diskutieren wir den Historismus, auch nicht unspannend, aber sollte hier nicht das Thema sein.

    Wir sollten auch die private Bautätigkeit ausser Acht lassen (bbwohl diese zwar das Gros der Gründerzeitarchitektur stellt).
    Öffentliche Architektur ist immer Repräsentationsarchitektur. Der Auftraggeber Staat möchte damit etwas ausdrücken, allen zeigen wie er sich selbst sieht, wie er gesehen werden möchte. Ganz bewusst werden dabei Formen, Materialien, Säulenformen, Dekorationselemente usw. eingesetzt. Man möchte damit ein Statement abgeben, jedem klar machen, mit wem der Betrachter es zu tun hat. Beindruckendes Beispiel für diese Staatsarchitektur des 19. Jahrhunderst ist das Kapitol in Washington: Name und Stil sollen die junge USA in die Tradition des römischen Reichs stellen. Kontinuität und Neubeginn findet dabei statt, die Kapitelle der Säulen sind nämlich keine antikisch-römischen Komposit-Kapitelle sondern "amerikanische". Anstelle von Akkanthus-Ranken zieren nämlich Mais- und Tabakblätter den Säulenabschluss.

    So, jetzt bin ich aber ziemlich abgeschweift - zurück zum Ausgang.

    Ich finde das Palais du Rhin zum einen interessant, zum andern etwas patschert. An Stelle eines historischen Zitats wird ein Stil gewählt der sonst nur bei Bildungs- und Verwaltungsbauten eingsetzt wird, die italienische Neorenaissance. Wie schauts sonst mit den Repräsentationsbauten aus? Bin schon gespannt....
     
  8. Repo

    Repo Neues Mitglied


    Die alten Griechen waren schneller:
    aus Wiki

    OT: 1.)Vor ein paar Jahren wurde beim mir ums Haus eine Friedhofskapelle "überflüssig". Bj 1899 "Wilhelminisch" also abreißen!
    Was heißt da kunsthistorisch "nicht erhaltenswert"???
    immerhin habe ich darin meinem Vater und meinen Großvätern nachgeheult.:motz:
    Haben wir eine Bürgerinitiative gegründet, das Ding renoviert, inzwischen ist die Stadt stolz darauf.:winke:
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  9. Caro1

    Caro1 Neues Mitglied

    [@ Rovere
    Versteh ich das richtig, du wollltest eigentlich die Formensprache der wilhelmischen Ära diskutieren, nicht den Baustil an sich?
     
  10. Rovere

    Rovere Premiummitglied

    Ich würde sagen wir sollten die Diskussion auf den Bereich "öffentliche Bauten" bzw. Repräsentationsarchitketur des Deutschen Reichs nach 1870/71 einschränken.
    Historismus bzw. Gründerzeit ist ein riesiger Themenblock der lange vor dem 19. Jhdt einsetzt und weit über die Mitte des 20. Jhdt. reicht.

    Und wenn man sich dieses europäische, ja weltweite Phänomen der Rezeption der klassischen europäischen Architketurstile anschaut so merkt man doch große regionale Unterschiede, wie auch einige Gemeinsamkeiten wie zB. für eine bestimmte Gebäudefunktion ein bestimmer Neo-Stil:
    Neogotik für Sakral- und Kommunalbauten
    Neorenaissance für Bildungseinrichtungen (Universitäten, Museen) und Verwaltungsbauten
    Neobarock und Rokoko für Theater und Unterhaltungstätten usw.

    Dennoch wird gerade im öffentlichen Repräsentationsbau oft die "große Vergangenheit" zitiert. Und jetzt daher zum Thema - wie geht das wilhelminische Deutschland damit um? Warum keine Bauten im preussischen Klassizismus mit neofriderizianischen Rokoko (erst Willi II wird sich dann so ausstatten)? Warum dieser seltsame Bau in Strassburg?
     
  11. Rovere

    Rovere Premiummitglied

    Ach ja, zum Thread-Titel:
    Der Wilhelminische Baustil ist selbstverständlich Baukunst! Wir sind ja nicht mehr in den 70ern.....
     
  12. Caro1

    Caro1 Neues Mitglied

    Dann vielleicht zur weiteren Diskussion noch ein Artikel der Wilhelmshavener Zeitung vom März letzten Jahres:

    Wilhelmshavener Zeitung: Wilhem II. und seine Marinestadt – zum 150. Kaisergeburtstag

    Hm, wenn man das so liest, könnte man auf den Gedanken kommen, Wilhelm verabscheute Stuck, "Stückchen" und Monumentalbauten, und investierte stattdessen lieber in seine "Marinestadt". :grübel:

    Amüsant, wenn dann in vielen Diskussionen und Arbeiten von den "wilhelminischen Monumantalbauten" gesprochen wird.
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  13. Carolus

    Carolus Aktives Mitglied

    Direkt ggü. dem Palais du Rhin liegt die Universitätsbibliothek der Universität Straßburg. Als ich mir das Gebäude 2002 von außen angeschaut habe, dachte ich, den "kleinen Bruder" des Reichstag in Berlin vor mir zu haben. Beeindruckend ist, daß die Kuppel der Universitätsbibliothek im Gegensatz zum großen Bruder in Berlin wohl noch im Original erhalten ist.

    Weitere interessante Bauten findet man in den anderen großen Städten von Elsaß-Lothringen. Der Bahnhof von Metz wirkt sehr martialisch mit seinen riesigen Ritterfiguren an der Seite (wirkt wie eine Kulisse für "Herr der Ringe).
     
  14. Rovere

    Rovere Premiummitglied

    Die Universitätsbibliothek von Strassbourg erinnert wirklich an den Wallotschen Reichstag - der wurde mW ja schon zur Zeit von WI geplant bzw. beauftragt. WII mochte das Gebäude ja ganz und gar nicht (vielleicht aber eher wegen des Inhalts....).

    War diese monumentale Neo-Hochrenaissance der Reichsstil?
     
  15. Repo

    Repo Neues Mitglied

    Damit hat es übrigens angefangen:

    man kann davon halten was man will, aber auf den Buckel gehört der Kasten.
    Geht nicht anders.
     
    Zuletzt bearbeitet: 3. August 2010
  16. Carolus

    Carolus Aktives Mitglied

    Wenn ich vor einem Bauwerk stehe und das Gefühl habe, vor einer Mischung einer mittelalterlichen Burg und einem römischen Palast zu stehen, dann ist das für mich der Stil des Deutschen (Kaiser-)Reichs. Ob das jetzt Neogotik oder Neorenaissance oder Neo-XY oder wilde Mischformen als Baustil ist, ist m. E. zweitrangig.

    Primär für mein Empfinden ist das "Majestätisch-Monumentale" an den Gebäuden, das auch dem Bürger das Gefühl gibt, welche Stellung er in diesem halb-demokratischen Obrigkeitsstaat hat: er ist nämlich der Untertan.

    Wenn ich z. B. in ihrer Funktion vergleichbare Bauwerke in Frankreich aus der gleichen Zeit (damals war Frankreich Republik) sehe, empfinde ich dies nicht so stark als "Obrigkeitsarchitektur". Mal schauen, ob ich irgendwo noch ein Bilder finde, die dies illustrieren können.
     
  17. Repo

    Repo Neues Mitglied

    Je mehr ich in Europa rumkomme, desto weniger kann ich das bestätigen.
    Das scheint umfassend durchgesetzter Baustil gewesen zu sein.
     
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  18. Carolus

    Carolus Aktives Mitglied

    Hast Du denn einige Beispiele (außerhalb Deutschlands) dafür?
     
  19. Brissotin

    Brissotin Aktives Mitglied

    Ich wäre für beide Aussagen interessiert Beispiele zu sehen.

    Ist das Reichsstil:
    Erzbischöfliches Ordinariat Freiburg ? Wikipedia ? Also auf mich wirkt das Gebäude sehr abschreckend/abweisend. Der Artikel bezeichnet den Baustil als Späthistorismus.
     
  20. Melchior

    Melchior Neues Mitglied

    Ich möchte mich gerne auf #10 beziehen. Es geht dem Threadersteller, um den "Wilhelminischen Baustil", also Ende der 1880'er Jahre bis zum Beginn des WK I.

    Ein Diskussion über den Historizismus in der europäischen Architektur wäre so komplex, daß ein Diskussionsforum bei weitem nicht das geeignete Medium wäre.

    Ich bin kein Kunsthistoriker, wage mich aber dennoch auf dieses Gebiet vor. Architektur ist m.E. geronnene Sozialgeschichte. "Geronnen" weshalb? Natürlich verdeutlicht Architektur Machstrukturen, w.z.B. das Schloß von Versailles oder auch das Estorial oder die "Stalin-Allee" in Berlin, Beispiele hierfür ließen sich viele finden.

    Das öffentliche Gebäude diese Machtstrukturen versinnbildlichen sollen ist evident.

    Bleibt aber die Frage, warum im Untersuchungszeitraum wir bei wichtigen öffentlichen Gebäuden (bis hin zu Bahnhöfen) architektonische Zitate finden, bis hin zur heute so empfundenen Absurdität.

    Schauen wir uns die bildende Kunst der Zeit an, dann erleben wir einen Spagat zwischen der Moderne und der Architektur (Liebermann <=> von Ihne, welch ein Gegensatz).

    Meine Arbeitshypothese: Das "Unbehagen" an der mit der Industrialisierung einhergehenden Verändung der sozialen Entwicklung/Milieus, versuchen konservative Entscheidungseliten in der Architektur, die sie aufgrund ihrer finanziellen und machtpolitischen Möglichkeiten haben, gleichsam zu kompensieren. Eine Retardierung sozialer Konsequenzen der modernen inustriell geprägten Umfeldes in der Architektur. Erst nach dem WK I. findet die Architektur, als konservativste aller "Bildenden Künste" die Kraft, die Modernisierung auch architektonisch abzubilden.


    M.
     

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