Die Auswahlkriterien der Opfer zur Zeit des 2. Weltkrieges (Thema: Euthanasie)

Jf6000

Neues Mitglied
Guten Abend,
Ich habe mir mal diese Aufgabe angeschaut und verstehe den Zusamenhang nicht ganz mit den Aufgaben, also vielleicht könnte mir jemand die Aufgabe 2 anhand des Textes (siehe unten) erklären.
Danke im Voraus und Liebe Grüße


Die Auswahl Kriterien

In einem Spiegel Artikel vom 3.5.1961, erschienen in der 19. Ausgabe des Jahres, schreibt das Magazin über die Auswahlkriterien der Opfer:
„ am Anfang der Aktion stand [...] die Ausarbeitung präziser Fragebogen „im Hinblick auf die Notwendigkeit planwirtschaftlicher Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (Runderlass des Reichsministers des Innern vom 9. Oktober 1939).

Die Anstalten hatten sämtliche Patienten zu melden,
- die von Geistes- und Gemütsleiden- beispielsweise von Schizophrenie, Epilepsie und senilen Schwachsinn- befallen waren und „in den Anstaltsbetriebes nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten“ bestätigt werden konnten;
- die sich seit mindestens fünf Jahren dauernd in Anstalten befanden;
- die als kriminelle Geisteskranke verwahrt wurden oder
- die „nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind“.
————
1) Fasse die Quelle in eigenen Worten zusammen. (Achte dabei auf sprachliche Distanz!)
2) Weise anhand des Materials nach das vor allem ökonomische Gründe hinter der Aktion T4 standen
 
Im Oktober 1939 hatte der 2. Weltkrieg bereits begonnen, und es war zu erwarten, dass der weitere Kriegsverlauf dazu führen würde, dass Lebensmittel rationiert und qualifizierte Pflegekräfte für die Versorgung von Verwundeten rekrutiert werden mussten. Damit sank die ohnehin geringe Hemmschwelle, sich der "unnützen Fresser" zu entledigen, deren Arbeitskraft nicht für die Kriegswirtschaft ausgebeutet werden konnte und deren Betreuung Pflegepersonal band, das man sonst in Lazaretten hätte einsetzen können.

-Wer bereits seit 5 Jahren Insasse/Insassin einer geschlossenen Anstalt war, von dem war anzunehmen, dass er/sie dauerhafte Pflege benötigte und nur in beschränktem Maße oder gar nicht (mehr) einsatzfähig für die Kriegswirtschaft war und darüber hinaus Pflegepersonal band und Lebensmittel und Medikamente brauchte, die für den Kriegseinsatz benötigt wurden.

-Wer als krimineller oder potentiell gefährliche(r) Geisteskranke(r) eingestuft wurde (die Einstufung war teilweise recht willkürlich) war nach Logik der Nazis völlig nutzlos. Die Arbeitskraft von solchen Menschen konnte man nicht ausbeuten, zur Betreuung eingesetztes Pflege- und Aufsichtspersonal nicht für den Kriegseinsatz rekrutieren und benötigte Lebensmittel und Medikamente nicht der Kriegswirtschaft zuführen. Als "asoziale Elemente" entledigte man sich solcher Menschen und tat ihnen damit noch einen Gefallen nach der perversen Logik des NS-Regimes (Euthanasie bedeutet ja soviel wie Gnadentod).

-Wer nicht "deutschen oder artverwandten Blutes" war, galt schon aus rassistischen Gründen für "rassisch minderwertig" und besaß daher keine Lebensberechtigung. Im besetzten Polen war man gerade dabei, die polnische Intelligenz zu vernichten. Polen sollte zu einem reinen Arbeitskräftereservoir degradiert werden, das zu vernichten war, sobald dessen Arbeitskraft erschöpfend ausgebeutet war. "Rassisch minderwertige" Geisteskranke waren daher erst recht zu vernichten, denn die besaßen schon aus rassistisch-eugenischen Motiven keine Lebensberechtigung, verbrauchten Lebensmittel und Medikamente, banden Arbeitskräfte und Pflegepersonal, das für die Kriegswirtschaft benötigt wurde, und man konnte ihre Arbeitskraft kaum noch ausbeuten.
 
Ich habe irgendwie Schwierigkeiten mit Fragestellungen, bei denen die Antwort bereits feststeht. Ich würde die These, dass es vor allem ökonomische Gründe waren, die zur "Euthanasie", zur Ermordung von Kranken führten. Als mindestens gleichrangige Motivation würde ich ideologische Gründe einschätzen. Die waren verantwortlich, um überhaupt auf die Idee zu kommen, Kranke umzubringen. Ökonomische Gründe verschärften die Radikalität, sie in die Tat umzusetzen.
 
Das Gefährliche an solchen ökonomischen „Hintergründen“ ist nach meinem Eindruck, dass es auch die ggf. ideologiefreien Schreibtischtäter, ohne die solche Aktionen schwer(er) umgesetzt werden können, „bedient“ und dafür „Begründungen“ liefern soll.

Die ideologisch aufgeladenen Täter benötigen das natürlich nicht, das sehe ich wie Scorpio.
 
1) Fasse die Quelle in eigenen Worten zusammen. (Achte dabei auf sprachliche Distanz!)
2) Weise anhand des Materials nach das vor allem ökonomische Gründe hinter der Aktion T4 standen

Sprachliche Distanz ist immer gut, intellektuelle Redlichkeit ist noch besser. Zumal man die Chance hat, seinen Gegenstand umfassend zu verstehen. Und ihn nicht auf "ökonomische Gründe" zu verkürzen.

In diesem Sinne:
Wichtiger wäre gewesen, sich überhaupt erst einmal mit den ideologischen Dispositionen zu beschäftigen, die die Euthanasie möglich gemacht hat und ihre Handlungsgrundlage war. Und sehr genau zu sehen, dass Hitler direkt und im Zentrum der Initialzündung der Aktion stand!

Zumal die Verletzung der moralischen Werte, die diese Aktion T4 durchaus in weiten Kreisen der Bevölkerung hervorrief und zu Protesten geführt hatte, deutlich gesehen wurde. (vgl. z.B. Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 1, S. 422ff)

Vor dem Hintergrund eines angemessenen Verständnisses der Euthanasie würde vor allem die herausragende Rolle der NS-Ideologie zur Begründung der Tötung von Patienten deutlich werden. Und die vorgeschobene Bedeutung angeblich wirtschaftlicher Gründe nahezu irrelevant sein.

Zumal die Verteidigung im Rahmen der "Ärzte-Prozesse" ja auch gar nicht dieses Argument der Wirtschaftlichkeit aufgriff. Dass es sich bei der Euthanasie um geplante und ideologisch begründete Verbrechen durch die beteiligten Ärtzte und dem dazugehörigen medizinischen Personal handelte wird dann u.a. auch am Ende (20. August 1947) des Nürnberger Artzteprozesses in den Schuldsprüchen deutlich.

"Sieben Angeklagte wurden zum Tode, sieben zu lebenslangen, zwei zu begrenzten Freiheitsstrafen verurteilt; weitere sieben wurden freigesprochen.

Wichtig erscheint mir noch der Hinweis, dass viele der beteiligten Ärzte aus der Aktion T4 in die "Aktion Reinhard", einem der Decknamen für die "Endlösung", wechselten und die "Selektionen" im Rahmen der Vernichtungslager leiteten (vgl. z.B. Enzyklopädie; ebd. S. 14)
 
Zuletzt bearbeitet:
Die "Aktion T 4" führte, im Gegensatz zu den Maßnahmen gegen die Juden, auf relativ große Resonanz von Seiten der Kirche(n) und der Bevölkerung. Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, hatte den Kampf gegen die Sowjetunion noch ausdrücklich begrüßt als Kreuzzug gegen die "jüdisch-bolschewistische(n)" Machthaber im Kreml. 1941 nahm er aber in mehreren Predigten Stellung gegen das "Euthanasie"-Programm und die Tötung von "unproduktiven" Geisteskranken. Galens Predigten verbreiteten sich durch Exzerpte relativ weit. Galen hatte dabei angedeutet, dass auch Kriegsinvaliden "unproduktiv" und damit zu potenziellen Opfern der Euthanasie werden könnten. Davon wäre dann ein Großteil der männlichen deutschen Bevölkerung betroffen gewesen. Galens Wink wurde durchaus verstanden und sorgte für Beunruhigung unter der Bevölkerung, die anscheinend so stark wurde, dass das NS-Regime sie vorläufig aussetzte. Da man, wie Goebbels in seinem Tagebuch notierte, keine Märtyrer schaffen wollte, wurde die Abrechnung mit Galen auf die Zeit nach dem "Endsieg" verschoben.
Die mögliche Beunruhigung der Bevölkerung durch das Euthanasie-Programm scheint der NS-Führung jedenfalls seit Ende der 1930er Jahre erhebliches Kopfzerbrechen bereitet zu haben. 1936 erschien der Brief-Roman "Sendung und Gewissen" von Helmuth Unger. Darin geht es um Sterbehilfe. Der Roman, der eigentlich keine durchgehende Handlung hat, wurde 1941 neu aufgelegt. Victor Brack, der von der Reichskanzlei mit der Aktion T 4 beauftragt wurde, gab Hermann Schwenninger den Auftrag, das Buch zu überarbeiten. Schwenninger war seit 1940 Angestellter der Zentraldienststelle T4, die mit der Euthanasie beauftragt war, und er sollte für sie einen Dokumentarfilm herstellen, der Verständnis für diese Maßnahmen wecken sollte. Das tat er auch mit dem Streifen "Dasein ohne Leben". Schwenningers Drehbuchentwurf wurde allerdings vom Regisseur Arthur Liebeneiner abgelehnt. Liebeneiner war der Regisseur des Propagandafilms "Ich klage an", der 1941 in die Kinos kam. Von der Reichskanzlei wurde eine Arbeitsgruppe beauftragt, ein Drehbuch zu schreiben für einen Film, der sich mit einem geplanten Gesetz über Sterbehilfe beschäftigte, das wegen Protesten aus kirchlichen Kreisen nicht zustande kam. Den Drehbuchautoren war aufgetragen worden, alles zu unterlassen, was als Werbung für Euthanasie interpretiert werden konnte und dabei gleichzeitig vermeiden, dass Gegner sich von geplanten staatlichen Maßnahmen nicht bedroht fühlten.
Aus der ersten Fassung von "Ich klage an", die im Mai 1941 fertiggestellt wurde, schnitt man Szenen heraus, die als Anspielungen gegen religiös motivierte Ablehnung von Sterbehilfe aufgefasst werden konnten oder die als allzu aufdringliche Bekehrungsversuche interpretierbar waren.

Diese minutiöse Planung, die zahlreichen Dienststellen und Mitarbeiter, die dafür beauftragt- und bezahlt werden mussten, sprechen eigentlich deutlich gegen die These, dass vor allem ökonomische Gründe für den Entschluss zur Euthanasie verantwortlich waren. Wenn es nur darum gegangen wäre, hätte man sich diesen Aufwand wohl schenken können. Die Reaktion der Bevölkerung auf die Euthanasie scheint der NS- Führung sehr wichtig gewesen zu sein. Im Gegensatz zu den Nürnberger Rassegesetzen betraf das potenziell jeden, keiner konnte sicher sein, das es ihn oder Angehörige nicht treffen würde.
 
Sprachliche Distanz ist immer gut, intellektuelle Redlichkeit ist noch besser. Zumal man die Chance hat, seinen Gegenstand umfassend zu verstehen. Und ihn nicht auf "ökonomische Gründe" zu verkürzen.

In diesem Sinne:
Wichtiger wäre gewesen, sich überhaupt erst einmal mit den ideologischen Dispositionen zu beschäftigen, die die Euthanasie möglich gemacht hat und ihre Handlungsgrundlage war. Und sehr genau zu sehen, dass Hitler direkt und im Zentrum der Initialzündung der Aktion stand!

Zumal die Verletzung der moralischen Werte, die diese Aktion T4 durchaus in weiten Kreisen der Bevölkerung hervorrief und zu Protesten geführt hatte, deutlich gesehen wurde. (vgl. z.B. Enzyklopädie des Holocaust, Bd. 1, S. 422ff)

Vor dem Hintergrund eines angemessenen Verständnisses der Euthanasie würde vor allem die herausragende Rolle der NS-Ideologie zur Begründung der Tötung von Patienten deutlich werden. Und die vorgeschobene Bedeutung angeblich wirtschaftlicher Gründe nahezu irrelevant sein.

Zumal die Verteidigung im Rahmen der "Ärzte-Prozesse" ja auch gar nicht dieses Argument der Wirtschaftlichkeit aufgriff. Dass es sich bei der Euthanasie um geplante und ideologisch begründete Verbrechen durch die beteiligten Ärzte und dem dazugehörigen medizinischen Personal handelte wird dann u.a. auch am Ende (20. August 1947) des Nürnberger Artzteprozesses in den Schuldsprüchen deutlich.

"Sieben Angeklagte wurden zum Tode, sieben zu lebenslangen, zwei zu begrenzten Freiheitsstrafen verurteilt; weitere sieben wurden freigesprochen.

Wichtig erscheint mir noch der Hinweis, dass viele der beteiligten Ärzte aus der Aktion T4 in die "Aktion Reinhard", einem der Decknamen für die "Endlösung", wechselten und die "Selektionen" im Rahmen der Vernichtungslager leiteten (vgl. z.B. Enzyklopädie; ebd. S. 14)

Ich fürchte, das wird ungehört verhallen. Bei der Anfrage ging es ja vermutlich um ein Schulprojekt, um ein Referat oder ähnliches für ein Nebenfach. Die Fragestellung lässt vermuten, dass der/die sie gestellt hat eher über relativ oberflächliche Kenntnisse verfügt, sonst wäre nicht in der Aufgabenstellung bereits die Lösung der Frage nahegelegt worden.
Ökonomische Gründe, das klingt irgendwie rational, nachvollziehbar. Werden irgendwo Arbeitsplätze oder Lehrstellen abgebaut, werden sie "wegrationalisiert", weil sie nicht mehr profitabel genug sind. Die Vernichtung von Kranken geschah aber nicht, weil sie mit Beginn des Krieges zu teuer, "unproduktiv" und damit "unwertes Leben" geworden waren. Die minutiöse Planung, der personelle und finanzielle Aufwand, den man jahrelang betrieb, damit die Euthanasie reibungslos verlaufen konnte, sprechen dagegen.
 
Ich würde deutlich trennen zwischen der Verpackung der Aktionen inkl. übermittelten Auswahlkriterien mit „ökonomischen Bezug“ und (Kern-)Motiv und eigentlichem Auslöser der Aktion.

Völlig klar ist, dass Letzteres ideologisch begründet war. Das ist gar keine Frage.

Sehr wohl eine Frage ist, und dieses muss getrennt gesehen und beantwortet werden, wieso solche ökonomischen Aspekte, sozusagen formal, eingebaut wurden.

Ich sehe hier eine Parallele zu den juristischen Themen, bei denen sich die NS-Diktatur in vielen öffentlich-rechtlichen Bereichen bis kurz vor ihrem Zusammenbruch einen juristisch quasi „einwandfreien“ Anstrich zu geben versuchte, sogar bei scheinbar formalen, gesetzlichen Grundlagen für staatliche Verbrechen.

Dieser „Anstrich“ war der Diktatur und dem Führerstaat offenbar wichtig. Daher auch oben der Hinweis, dass dies Mitläufertum und Schreibtischtäterschaften beförderte oder sogar befördern sollte.
 
Um die konstruktive Diskussion noch ein wenig weiter zu führen als Ergänzung zu Scorpio und Silesia noch ein paar zusätzlich Punkte.

Die NS-Ideologie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern adaptierte und radikalisierte eine Vielzahl von Ideen und Werten, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik durchaus eine breite Akzeptanz gefunden haben. Dieses wird zumindest mehr als deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Ideen zur Eugenik in den zwanziger und dreißiger Jahren ansieht, und die Darstellung bei Aly (2013) ist da hilfreich für das Verständnis.

In seiner Darstellung wird deutlich wie breit die Zustimmung zu Zielsetzungen im Bereich der Eugenik in der deutschen Gesellschaft vorhanden waren und nicht einfach dem links-rechts-Schema folgten, sondern auch durch - sozialistische - Mediziner durchaus ernsthaft diskutiert und unter bestimmten Bedingungen für akzeptabel gehalten wurden.

In diesem Sinne waren die Zielsetzungen des NS-Staates im Rahmen der Eugenik durchaus in einer gewissen Übereinstimmung vor allem mit dem säkularisierten Teil der Bevölkerung. Der Widerstand - vgl. die Darstellung bei Scorpio - kam vor allem aus dem Umfeld der katholischen Kirche und speiste sich aus ihrem spezifischen konservativen Werteethos.

Dennoch bezog sich auch die Rechtfertigung nach dem WW2 nicht selten auf die Umfrage unter ca. 200 Elternpaaren von jungen Patienten, in denen sie zumindest teilweise einer Tötung grundsätzlich zustimmten, sofern damit Leiden verkürzt wird. Das belegt m.E. dass es zumindest eine zwiespältige Haltung in der deutschen Bevölkerung zur Eugenik gab. Sicherlich keine Zustimmung zur Tötung durch Gas!

Die Problematik und Widersprüchlichkeit dieser Diskussion wird deutlich, wenn man einerseits betrachtet, dass links-liberale Protagonisten auf der einen Seite sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten und auch in anderen politischen Arenen "moderne Reformvorschläge" formuliert haben, aber aus diesem Umfeld auch eine Bejahung der Tötung von bestimmten - behinderten - Patienten kam.

Insofern ist die Zielsetzung der späteren Aktion T4 und ihre ideologische Begründung aus einem gewissen politischen Konsens hervorgegangen. Dieser Konsens speiste sich dabei sehr stark aus sozialdarwinistischen Vorstellungen, die nicht alleine auf das rechte politische Spektrum reduziert waren. Und die daraus für die sozialpolitische Praxis drastische Konsequenzen ableiteten.

Und diesem Kontext der instrumentellen Umsetzung spielten dann vor allem auch wirtschaftliche Berechnungen eine Rolle, die dann in ihrer technokratischen Radikalität bei den "Vordenkern der Vernichtung" aufgegriffen und zugespitzt worden sind. In diesem Sinne wurde durch das NS-Regime nichts neu erfunden, sondern nur extrem radikalisiert und zugespitzt. Und in dieser radikalen Zuspitzung die Grenzen einer universellen Ethik - die als Konsens für die meisten europäischen Länder unterstellt werden kann - überschritten und entsprechende Ablehnung erfuhr.

Einen wichtigen Meilenstein bildetet dabei die Denkschrift "Vernichtung lebensunwerten Lebens" von Hitlers Leibarzt Morell im Sommer 1939. Und in dem zweiten Teil der Denkschrift wird der Mord an Patienten in einer volkswirtschaftlichen Beispielrechnung illustriert. Dabei wird die Bedrohung durch den antizipierten Mangel im Rahmen einer Kriegsführung zum zentralen Paradigma, um die Sinnhaftigkeit dieser Rechnung zu begründen.

In diesem Sinne sagte V. Brack, (bei Hitler zuständige Mitarbeiter für Euthanasie), dass Hitler durch die Aktion T4 "nutzlose Esser los werden will und die freiwerdenden Krankenhauskapazitäten im Rahmen der Kriegsführung effektiver nutzen will.

Morell rechnete zudem ein Beispiel durch. 5000 Patienten , die jeweils ca. 2000 RM p.a. benötigen kosten 10 Mio RM pa. "Folgt man Morells Modellrechnung, dann ergab der Mord an 200000 [die Plangröße] kranken und geschädigten Deutschen bis 1945 ein ....Kapital von acht Milliarden Reichsmark.(Aly, 2013, Pos. 430).

Dieses Rechenbeispiel hat einen Vorläufer in den Darstellungen des Rassehygienikers A. Plotz, der bereits 1910 formuliert hatte, dass "die Erhaltung der Lebensuntüchtigen ein Luxus" sei (vgl. Aly, ebd.). Ähnlich als Vorläufer Potthoff.

In Bezug auf diese Rechenbeispiele sollte man jedoch nicht die ideologische Fundierung und die damit zusammenhängende Zielsetzung mit der Ausformulierung der Planungen, also den eigentlichen "Machbarkeitsstudien" verwechseln.

Die planerische Erfassung der Vernichtungsmaschinerie war ein zentraler Aspekt der Interaktion der zentralen staatlichen Säulen, wie Neuman es zutreffend im Behemoth beschrieben hatte.

In diesem Sinne wurde die gesamte Planung des Vernichtungskrieges und seiner kriegswirtschaftlichen Aspekte und Konsequenzen beispielsweise durch ca. 1600 Geheimgutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in seinen Dimensionen erfaßt (Aly, 2001, S. 12).

Somit ist präzise für die Aktion T4 zwischen den ideologisch determinierten Zielen und den Aspekten der Umsetzung zu unterscheiden.

Ansonsten ist aber auch sehr deutlich zu betonen, wie auch in früheren Diskussion, noch mit Melchior, dass das destruktive Agieren der SS unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zweckrational nicht zu erfassen sei und die Vernichtung von Menschen mit einem jüdischen Glauben objektiv dysfunktional war für die deutsche Volkwirtschaft im Dritten Reich.

Eine kurze Darstellung der juristischen Aufarbeitung liegt bei Eckart vor.


Aly, Götz (2013): Die Belasteten. Euthanasie 1939 - 1945; eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Aly, Götz; Heim, Susanne (2001): Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Eckart, Wolfgang U. (1999): Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozeß. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 - 1952. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. , S. 73–85.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist eine gute Frage! Ich versuche, darauf plausible Antworten zu finden. Vermutlich diente die Verpackung dazu, sich der Gefolgschaftstreue der "Volksgenossen" zu versichern, die Opfer auszugrenzen und eine Art "Wir-Gefühl" zu erzeugen. Wenn man sich Propagandafilme und Erzeugnisse der Printmedien aus dieser Zeit ansieht oder -hört, fällt ein bestimmter Tenor auf: da werden meistens äußerlich abstoßend wirkende Menschen, die nicht zur Identifikation einladen, gesunden, attraktiv wirkenden, "normalen" Menschen gegenübergestellt und deren Gefährlichkeit, Schädlichkeit oder Parasitentum herausgestrichen. Es wird an Ängste, Phobien, Ekel, Empörung, Neid und den "gesunden Menschenverstand" appelliert, um Maßnahmen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen zu rechtfertigen, und diese Maßnahmen werden als scheinbar rational, nachvollziehbar und (ökonomisch) notwendig dargestellt. Dieses Labeling wurde auf Juden, Osteuropäer und Behinderte gleichermaßen angewendet.
Der Tenor ist sehr ähnlich:
"Diese bemitleidenswerten Geschöpfe...."
"Diese mongolischen Horden...."
"Diese Ost)Juden...

Man erzeugte eine Art Wir-Gefühl, der Betrachter erkannte in den Bildern nicht sich selbst, Verwandte oder Freunde wider, um eventuelle Solidaritätsgefühle erst gar nicht aufkommen zu lassen. Es wird betont, diese da kosten uns Geld, es kostet dein Geld. Für diese da muss eine Krankenschwester, ein Pfleger arbeiten, die doch woanders viel notwendiger gebraucht werden. Diese da sind fremd, leben in Ghettos, haben immer in Ghettos gelebt und wollen uns aussaugen. Diese da woll(t)en uns überfallen, sind keine Individuen, sondern Masse, sind gefährlich, müssen bewacht werden, sind "uns" zivilisatorisch unterlegen, einen Nutzen haben sie nicht, sie verursachen Kosten, wenn das Geld, das "wir" ausgeben müssen, um diese da am Leben zu erhalten, für uns aufgewendet würde, ginge es uns allen besser.
 
Ich würde die These, dass es vor allem ökonomische Gründe waren, die zur "Euthanasie", zur Ermordung von Kranken führten. Als mindestens gleichrangige Motivation würde ich ideologische Gründe einschätzen. Die waren verantwortlich, um überhaupt auf die Idee zu kommen, Kranke umzubringen.

Kranke oder überhaupt "Schwächere".

Bereits 1929 sinnierte Hitler auf dem Reichsparteitag:
„Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“
Der Tod als Erlösung vom Leiden
 
Um die konstruktive Diskussion noch ein wenig weiter zu führen als Ergänzung zu Scorpio und Silesia noch ein paar zusätzlich Punkte.

Die NS-Ideologie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern adaptierte und radikalisierte eine Vielzahl von Ideen und Werten, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik durchaus eine breite Akzeptanz gefunden haben. Dieses wird zumindest mehr als deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Ideen zur Eugenik in den zwanziger und dreißiger Jahren ansieht, und die Darstellung bei Aly (2013) ist da hilfreich für das Verständnis.

In seiner Darstellung wird deutlich wie breit die Zustimmung zu Zielsetzungen im Bereich der Eugenik in der deutschen Gesellschaft vorhanden waren und nicht einfach dem links-rechts-Schema folgten, sondern auch durch - sozialistische - Mediziner durchaus ernsthaft diskutiert und unter bestimmten Bedingungen für akzeptabel gehalten wurden.

In diesem Sinne waren die Zielsetzungen des NS-Staates im Rahmen der Eugenik durchaus in einer gewissen Übereinstimmung vor allem mit dem säkularisierten Teil der Bevölkerung. Der Widerstand - vgl. die Darstellung bei Scorpio - kam vor allem aus dem Umfeld der katholischen Kirche und speiste sich aus ihrem spezifischen konservativen Werteethos.

Dennoch bezog sich auch die Rechtfertigung nach dem WW2 nicht selten auf die Umfrage unter ca. 200 Elternpaaren von jungen Patienten, in denen sie zumindest teilweise einer Tötung grundsätzlich zustimmten, sofern damit Leiden verkürzt wird. Das belegt m.E. dass es zumindest eine zwiespältige Haltung in der deutschen Bevölkerung zur Eugenik gab. Sicherlich keine Zustimmung zur Tötung durch Gas!

Die Problematik und Widersprüchlichkeit dieser Diskussion wird deutlich, wenn man einerseits betrachtet, dass links-liberale Protagonisten auf der einen Seite sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten und auch in anderen politischen Arenen "moderne Reformvorschläge" formuliert haben, aber aus diesem Umfeld auch eine Bejahung der Tötung von bestimmten - behinderten - Patienten kam.

Insofern ist die Zielsetzung der späteren Aktion T4 und ihre ideologische Begründung aus einem gewissen politischen Konsens hervorgegangen. Dieser Konsens speiste sich dabei sehr stark aus sozialdarwinistischen Vorstellungen, die nicht alleine auf das rechte politische Spektrum reduziert waren. Und die daraus für die sozialpolitische Praxis drastische Konsequenzen ableiteten.

Und diesem Kontext der instrumentellen Umsetzung spielten dann vor allem auch wirtschaftliche Berechnungen eine Rolle, die dann in ihrer technokratischen Radikalität bei den "Vordenkern der Vernichtung" aufgegriffen und zugespitzt worden sind. In diesem Sinne wurde durch das NS-Regime nichts neu erfunden, sondern nur extrem radikalisiert und zugespitzt. Und in dieser radikalen Zuspitzung die Grenzen einer universellen Ethik - die als Konsens für die meisten europäischen Länder unterstellt werden kann - überschritten und entsprechende Ablehnung erfuhr.

Einen wichtigen Meilenstein bildetet dabei die Denkschrift "Vernichtung lebensunwerten Lebens" von Hitlers Leibarzt Morell im Sommer 1939. Und in dem zweiten Teil der Denkschrift wird der Mord an Patienten in einer volkswirtschaftlichen Beispielrechnung illustriert. Dabei wird die Bedrohung durch den antizipierten Mangel im Rahmen einer Kriegsführung zum zentralen Paradigma, um die Sinnhaftigkeit dieser Rechnung zu begründen.

In diesem Sinne sagte V. Brack, (bei Hitler zuständige Mitarbeiter für Euthanasie), dass Hitler durch die Aktion T4 "nutzlose Esser los werden will und die freiwerdenden Krankenhauskapazitäten im Rahmen der Kriegsführung effektiver nutzen will.

Morell rechnete zudem ein Beispiel durch. 5000 Patienten , die jeweils ca. 2000 RM p.a. benötigen kosten 10 Mio RM pa. "Folgt man Morells Modellrechnung, dann ergab der Mord an 200000 [die Plangröße] kranken und geschädigten Deutschen bis 1945 ein ....Kapital von acht Milliarden Reichsmark.(Aly, 2013, Pos. 430).

Dieses Rechenbeispiel hat einen Vorläufer in den Darstellungen des Rassehygienikers A. Plotz, der bereits 1910 formuliert hatte, dass "die Erhaltung der Lebensuntüchtigen ein Luxus" sei (vgl. Aly, ebd.). Ähnlich als Vorläufer Potthoff.

In Bezug auf diese Rechenbeispiele sollte man jedoch nicht die ideologische Fundierung und die damit zusammenhängende Zielsetzung mit der Ausformulierung der Planungen, also den eigentlichen "Machbarkeitsstudien" verwechseln.

Die planerische Erfassung der Vernichtungsmaschinerie war ein zentraler Aspekt der Interaktion der zentralen staatlichen Säulen, wie Neuman es zutreffend im Behemoth beschrieben hatte.

In diesem Sinne wurde die gesamte Planung des Vernichtungskrieges und seiner kriegswirtschaftlichen Aspekte und Konsequenzen beispielsweise durch ca. 1600 Geheimgutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft in seinen Dimensionen erfaßt (Aly, 2001, S. 12).

Somit ist präzise für die Aktion T4 zwischen den ideologisch determinierten Zielen und den Aspekten der Umsetzung zu unterscheiden.

Ansonsten ist aber auch sehr deutlich zu betonen, wie auch in früheren Diskussion, noch mit Melchior, dass das destruktive Agieren der SS unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zweckrational nicht zu erfassen sei und die Vernichtung von Menschen mit einem jüdischen Glauben objektiv dysfunktional war für die deutsche Volkwirtschaft im Dritten Reich.

Eine kurze Darstellung der juristischen Aufarbeitung liegt bei Eckart vor.


Aly, Götz (2013): Die Belasteten. Euthanasie 1939 - 1945; eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Aly, Götz; Heim, Susanne (2001): Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag
Eckart, Wolfgang U. (1999): Fall 1: Der Nürnberger Ärzteprozeß. In: Gerd R. Ueberschär (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 - 1952. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. , S. 73–85.

Danke für diesen Beitrag und die Literaturtipps!
 
Um die konstruktive Diskussion noch ein wenig weiter zu führen als Ergänzung zu Scorpio und Silesia noch ein paar zusätzlich Punkte.

Die NS-Ideologie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern adaptierte und radikalisierte eine Vielzahl von Ideen und Werten, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik durchaus eine breite Akzeptanz gefunden haben. Dieses wird zumindest mehr als deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Ideen zur Eugenik in den zwanziger und dreißiger Jahren ansieht, und die Darstellung bei Aly (2013) ist da hilfreich für das Verständnis.

In seiner Darstellung wird deutlich wie breit die Zustimmung zu Zielsetzungen im Bereich der Eugenik in der deutschen Gesellschaft vorhanden waren und nicht einfach dem links-rechts-Schema folgten, sondern auch durch - sozialistische - Mediziner durchaus ernsthaft diskutiert und unter bestimmten Bedingungen für akzeptabel gehalten wurden.

In diesem Sinne waren die Zielsetzungen des NS-Staates im Rahmen der Eugenik durchaus in einer gewissen Übereinstimmung vor allem mit dem säkularisierten Teil der Bevölkerung. Der Widerstand - vgl. die Darstellung bei Scorpio - kam vor allem aus dem Umfeld der katholischen Kirche und speiste sich aus ihrem spezifischen konservativen Werteethos.

Dennoch bezog sich auch die Rechtfertigung nach dem WW2 nicht selten auf die Umfrage unter ca. 200 Elternpaaren von jungen Patienten, in denen sie zumindest teilweise einer Tötung grundsätzlich zustimmten, sofern damit Leiden verkürzt wird. Das belegt m.E. dass es zumindest eine zwiespältige Haltung in der deutschen Bevölkerung zur Eugenik gab. Sicherlich keine Zustimmung zur Tötung durch Gas!

Die Problematik und Widersprüchlichkeit dieser Diskussion wird deutlich, wenn man einerseits betrachtet, dass links-liberale Protagonisten auf der einen Seite sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten und auch in anderen politischen Arenen "moderne Reformvorschläge" formuliert haben, aber aus diesem Umfeld auch eine Bejahung der Tötung von bestimmten - behinderten - Patienten kam.

Insofern ist die Zielsetzung der späteren Aktion T4 und ihre ideologische Begründung aus einem gewissen politischen Konsens hervorgegangen. Dieser Konsens speiste sich dabei sehr stark aus sozialdarwinistischen Vorstellungen, die nicht alleine auf das rechte politische Spektrum reduziert waren. Und die daraus für die sozialpolitische Praxis drastische Konsequenzen ableiteten.
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In diesem Zusammenhang weise ich noch einmal auf den schon erwähnten Streifen
"Ich klage an" von 1941 verweisen. In der Handlung geht es um einen Arzt, dessen Frau unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt ist. Als sich seine Hoffnung, ein Heilmittel gegen die Krankheit zu finden nicht erfüllt, tötet er sie auf ihren eigenen Wunsch mit einer Überdosis ihres Medikaments und leistet damit aktive Sterbehilfe. Als er deswegen vor Gericht gestellt wird, vertauscht er die Rollen.
Daher der Titel "Ich klage an". Von der Tötung von Geisteskranken aus eigenem Ermessen ist in dem Streifen überhaupt keine Rede. Sowohl aus medizinhistorischer wie-ethischer Sicht ist das Thema durchaus aktuell. Sterbehilfe oder auch der § 218, der Abtreibung regelte, bzw. unter Strafe stellte, wurden nach dem 1. Weltkrieg kontrovers diskutiert, und eugenische Eingriffe bis zur Zwangssterilisation wurden keineswegs nur im Deutschen Reich praktiziert, einige US-Bundesstaaten ließen das zu. Die älteren im Forum werden sich vielleicht noch an den Memminger Prozess von 1988/89. In Memmingen wurde damals ein Frauenarzt wegen illegalem Schwangerschaftsabbruch angeklagt. Die Prozessführung und die Art der Zeugenbefragung ließ ernsthafte Zweifel an der Neutralität des Gerichts aufkommen, und viele Zeitgenossen sprachen damals von einem "modernen Hexenprozess". Während 1950 in der DDR eine recht liberale Rechtspraxis eingeführt wurde, die Schwangerschaftsabbrüche bis zu einer bestimmten Frist erlaubte, wurde in der Bundesrepublik die restriktive Gesetzgebung aus der NS-Zeit bis 1974 beibehalten, die generell Abtreibung mit empfindlichen Strafen bedrohte.

1920 schlugen Abgeordnete der USPD und der SPD, darunter der spätere Reichsjustizminister und Rechtshistoriker Gustav Radbruch im Reichstag vor, die § 218, 219 und 220 ersatzlos zu streichen. Abtreibung sollte prinzipiell straflos sein, sofern der Abbruch durch qualifizierte Ärzte vorgenommen wurde. Als 1933 die Nazis die Macht ergriffen, verschärften sie die rigiden Strafen, die im Kaiserreich Abtreibung mit bis zu 5 Jahren Zuchthaus bedrohte. 1935 wurde durch Geheimerlass des Innenministeriums eine eigene Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung gegründet, die Frühgeburten und Schwangerschaftsabbrüche prinzipiell unter Anzeigepflicht stellte. In den Konzentrationslagern wurde trotzdem reichlich abgetrieben, vor allem Romafrauen wurden Zwangsabtreibungen unterzogen. Ähnliche eugenische Maßnahmen praktizierte später in etwas milderer Form der "Conducator Nikolai Ceausescu, der Rumänien zu einem Land mit 30 Millionen Einwohnern machen wollte. In Rumänien waren sämtliche Verhütungsmittel verboten, während Roma häufig zwangsweise sterilisiert wurden.

Wie du schon sagtest, war vor allem in säkularisierten Kreisen die Akzeptanz, aktive Sterbehilfe und Abtreibung zu legalisieren u. U. aber auch die Sterilisation von Schwachsinnigen zu erlauben. Die Ausrottung einer ganzen Volksgruppe oder die massenhafte Ermordung von Patienten hatte sicher kaum jemand im Sinn, das war einfach zu ungeheuerlich, als das man sich das vorstellen konnte.
 
Ergänzend empfehle ich das autobiographische Buch von Dorothea Sophie Buck-Zerchin - Auf der Spur des Morgensterns - Psychose als Selbstfindung. ich ziiere zur Autorin vom Verlag:
Die Bildhauerin Dorothea Buck, Jg. 1917, war, nach freier künstlerischer Tätigkeit, von 1969 bis 1982 Lehrerin für Kunst und Werken an der Fachschule für Sozialpädagogik I in Hamburg. Zwischen 1936 und 1959 erlebte sie fünf schizophrene Schübe. In ihrem ersten Schub wurde sie in den v.Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel zwangssterilisiert. Dorothea Buck war und ist maßgeblich in der Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen aktiv, die sich Ende der 1980er Jahre zu formieren begann. Sie ist die Ehrenvorsitzende des 1992 auch von ihr mitgegründeten Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener. Zusammen mit Thomas Bock gründete sie 1989 das erste Psychose-Seminar in Hamburg und warb auf vielen Lesereisen im In- und Ausland für die Idee des Trialogs zwischen Betroffenen, Angehörigen und in der Psychiatrie Tätigen. Ihr bahnbrechender Erlebnisbericht "Auf der Spur des Morgensterns. Psychose als Selbstfindung" erschien – von Hans Krieger herausgegeben – erstmals 1990 unter ihrem Pseudonym Sophie Zerchin, ein Anagramm aus Schizophrenie. Viele Beiträge in Anthologien und Vorträge. Seit 1997 Trägerin des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse.
Besonders interessant ist dieses Buch, weil Dorothea Buck die Psychatrien vom NS bis in die sechziger Jahre erlitten hat. Sie beschreibt auch die Reaktionen der Familie und Umgebung auf ihre Erkrankung. Vielen Dank für die vielen guten Beiträge! Statt vieler Likes....
 
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