Die Germanischen Tierstile I und II

RAEDWALD

Aktives Mitglied
Moin zusammen. Meine letzten, noch sehr unerfahrenen Beiträge hier sind einige Jahre her. Aber das Forum gefällt mit dem neuen Anstrich.

Die Germanischen Tierstile I und II. Beschäftige mich hiermit seit einiger Zeit an der Uni. Die Standardwerke hierzu sind relativ alt & ich wollte nur einmal vorab fragen, ob es hier User gibt, die Interesse daran hätten, hier über dies oder jenes in Bezug auf das Thema zu schnacken. Bin nicht einmal sicher, ob das hier das richtige Forum hierfür ist - Kunstgeschichte ist hier nah dran; das Feld liegt aber traditioneller Weise zwischen Frühgeschichtlicher Archäologie, der völkerwanderungszeitlichen- und frühmittelalterlichen Quellenkunde, Kunstgeschichte und der Skandinavistik; warum also nicht einmal fragen. Ginge hier dann vor allem um die Interpretationen von Bernhard Salin, Günther Haseloff und Helmut Roth.

Schön, die alten Veteranen des Forums noch aktiv sehen zu können
LG
 
Es lässt sich leichter darüber reden, wenn du eine konkrete Frage hast oder eine These.

Ich bin nicht im Thema drin, bin ihm früher eher mal am Rande begegnet, aber wie du schon sagst, ist die Literatur, die du dazu kennst, ziemlich veraltet. Wenn ich das richtig im Kopf habe, ist man doch inzwischen davon weg, vom "germanischen" oder "hunnisch-germanischen Tierstil" zu reden, oder? Ist es nicht so, dass man mittlerweile auch entsprechende Fibeln in römischen Kontexten gefunden hat? Oder irre ich mich da? Wie gesagt, das Thema ist mir eher am Rand begegnet. Lass es dazu 15 bis 20 Jahre her sein.

P.S.: Kennst du den Zenon-Katalog des DAI? Darin findest du alle bei einer Abteilung des DAI vorhandenen Artikel und Bücher. Dort würde ich mal suchen, ob es neueres zum Tierstil gibt.
 
Wenn ich das richtig im Kopf habe, ist man doch inzwischen davon weg, vom "germanischen" oder "hunnisch-germanischen Tierstil" zu reden, oder?
Ist das so? In diesem Fall würde Wikipedia der Forschung arg hinterherhinken:
Die Bildwerke der Tierstile I und II zeigen eine große nord- und mitteleuropäische Gleichförmigkeit und es lassen sich keine regionalen Besonderheiten ausmachen, was die Vermutung nahelegt, dass sich die germanischen Kulturen damit bewusst von den benachbarten Kulturen abzugrenzen versuchten. Die Tierstile wurden kontinuierlich weiterentwickelt und nur gelegentlich durch stilistische Einflüsse aus anderen Kulturen beeinflusst.[1]
aus Germanischer Tierstil – Wikipedia

Aber ich kenne mich da auch nicht wirklich aus. Lediglich bzgl Brakteaten und Runeninschriften in Bezug auf religiösen Kontext hatte ich mal Hauck und Düwel gelesen (Düwel ist wohl noch aktuell)
 
Hallo


@EQ
dass man mittlerweile auch entsprechende Fibeln in römischen Kontexten gefunden hat?
Das besagrt doch nichts, Import, Geschenk , ändert nichts am germ. Ursprung dieses Tierstils.Wie @dekumatland schon schrieb, der Tierstil kommt faktisch nur im germ. Gebiet vor, ergo sollte man ihn auch so benennen.
Der Tierstil kommt ja auf den unterschiedlcihsrten Gegenständen vor - profan, wie liturgisch. Es gibt ja noch neben Tierstil I und II , den anglo-karolingischen Tierstil.
Die Frage ist für mich nicht so sehr wer den stil kreiert hat (Grmanan, Skandinavier),sondern woher diese Form der Abstraktion kommt,welche kunsthistorischen und kulturellen Wurzeln können den Stkl erklären.

mfg
schwedenmann
 
Das besagrt doch nichts, Import, Geschenk , ändert nichts am germ. Ursprung dieses Tierstils.
Das würde ich anders formulieren: der sogenannte germanische Tierstil weist Einflüsse anderer Kulturen (skythisch, hunnisch, römisch) auf und verschmolz diese zu einer eigenen typischen Ausformung. Deswegen nicht mehr von germanischem Tierstil zu sprechen, schießt übers Ziel hinaus. Analog verschwindet z.B. keine römische Architektur, nur weil sie zweifelsohne etruskische und griechische Einflüsse aufweist.
 
Wenn ich das richtig im Kopf habe, ist man doch inzwischen davon weg, vom "germanischen" oder "hunnisch-germanischen Tierstil" zu reden, oder?
Das wäre mir neu, dass das bevorzugt würde. Natürlich sind die grundlegenden Werke zur Thematik schon etwas älter, aber es gibt durchaus neuere und aktuellste Forschungsarbeiten, die sich intensiv mit dem Germanischen Tierstil auseinandersetzen – exemplarisch seien hier Alexandra Pesch und zuletzt Behrens mit seiner Untersuchung zum Tierstil II im Merowingerreich genannt.


Soweit ich die Literatur bisher überblicke, ist der Begriff "Germanischer Tierstil" nach wie vor gut begründet. Bereits die ältere Forschung – allen voran Salin – hat eine lange Entwicklungslinie der Ornamentik nachgezeichnet. Allgemein besteht bis heute weitgehend Einigkeit darüber, dass der Tierstil das Ergebnis einer langanhaltenden Rezeptions- und Adaptionsgeschichte antik-mediterraner Ornamente ist. Spätestens jedoch mit dem spätarömischen Kerbschnitt (ggf. auch unter Einbeziehung des sächsischen Reliefstils) nimmt der Tierstil eine eigenständige Gestalt an, die im germanischsprachigen Raum, insbesondere in den Gebieten der alten Germania, keine direkten mediterranen Vorbilder mehr erkennen lässt.


Der sogenannte Nydamstil wird dabei als unmittelbarer Vorläufer des Tierstils I betrachtet. Letzterer gilt – nach Haseloff, aber auch in der breiten Forschung weitgehend anerkannt – als ausgereift, sobald Tierdarstellungen nicht mehr nur Randmotive, sondern das zentrale Gestaltungselement des Ornaments bilden. Ein klassisches, frühes Beispiel dafür ist die Fibel von Galsted.


Was den Stil als "germanisch" auszeichnet, ist vor allem seine geographische Verbreitung: Er tritt ausschließlich in Regionen auf, die seit der Spätantike von germanischsprachigen gentes besiedelt wurden – ausgehend von Jütland über Kent, das Rheinland und Alamannien bis hin zu jenen Teilen Pannoniens, in denen die Langobarden vor ihrer Wanderung nach Italien lokalisiert werden, und schließlich in Norditalien selbst. Das trifft sowohl auf den Tierstil I als auch auf den Tierstil II zu. In diesem Sinne erscheint es durchaus gerechtfertigt, vom "Germanischen Tierstil" zu sprechen – in vollem Bewusstsein der tiefgreifenden mediterranen Rezeption, die diesen Stil entscheidend geprägt hat.
 
Es lässt sich leichter darüber reden, wenn du eine konkrete Frage hast oder eine These.
Meine Überlegungen bewegen sich derzeit eher in eine vortastende Richtung. Angesichts der Quellenlage bin ich mir unsicher, inwieweit eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Gedanken tatsächlich belastbare neue Erkenntnisse hervorbringen kann.

Dennoch scheint mir, dass gerade die vergleichsweise dichte Überlieferungslage zum Tierstil in gewisser Weise querliegt zu jenen dekonstruktivistischen Thesen, die – spätestens seit Brather – in der Forschung breite Zustimmung gefunden haben, insbesondere im Hinblick auf die Vorstellung kultureller Kohärenz innerhalb der germanischsprachigen Sphäre.

Ich bin mir bewusst, dass ich mich mit dieser Beobachtung womöglich weit aus dem Fenster lehne – und im Einzelnen sind viele dieser Überlegungen für mich selbst noch nicht annähernd geklärt.



Um es zugespitzt zu formulieren, habe ich den Eindruck, dass das Bild germanischsprachiger gentes vor allem während der Völkerwanderungszeit grob derart umrissen wird:
1. Germanen gibt es sowieso nicht, weil Caesar und antiken Ethnonymen ist sowieso nichts abzugewinnen.
2. Selbst jene, die auf einem bestimmten Gebiet antike Ethnonyme „für voll nehmen“, diskutieren ohne Grundlage, wenn sie archäologische Funde ethnisch bestimmen, weil
 a. ethnische Gruppen aus archäologischen Kulturen nicht abgeleitet werden können – archäologische Kulturen sind methodische Konstrukte, keine real existierenden sozialen Einheiten,
 b. diese Kulturen in sich zu heterogen sind, um sie als Ausdruck homogener, klar abgrenzbarer ethnischer Identitäten zu lesen,
 c. und weil es keine stabilen materiellen Marker gibt, die eindeutig und über längere Zeiträume hinweg mit einem bestimmten „Volk“ verbunden werden können.

3. Die Vorstellung von „Völkern“, die sich von Skandinavien her über Europa bewegen, wird als Projektion späterer, nationalstaatlich geprägter Konzepte auf die Vergangenheit entlarvt.

4. Wenn also Ethnizität überhaupt eine Rolle spielt, dann höchstens als situativ hergestellte, performative Identität, die – folgt man Brather – stets kontextabhängig, mehrdeutig und wandelbar ist.

5. Folglich: Wer archäologisches Material im Sinne ethnischer Zuschreibungen interpretiert, reproduziert nicht nur überkommene Denkmuster aus dem 19. Jahrhundert, sondern läuft Gefahr, ideologischen Missbrauch historischer Narrative Vorschub zu leisten



Alles gut so weit und hier ist generell kaum zu widersprechen. Brather, seine akademischen Nachfahren und ihr kanadischer Flankenschutz seit Goffart haben in vielen Punkten wichtige Fragen gestellt.

Ich fasse mich an dieser Stelle etwas kürzer – die Details lassen sich in der Diskussion noch vertiefen:

In der Forschung zu Tierstil I und II wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle herangezogen, um die Verbreitung dieser Stile im germanischsprachigen Raum zu beschreiben. Als Entstehungszentrum gilt – wenn auch nicht unumstritten – Südskandinavien. Von dort soll sich der Stil in andere Regionen ausgebreitet haben. Die Modelle reichen von einem Import skandinavischer Objekte über Migration bis hin zu Exogamie. Allerdings greifen alle diese Ansätze nur bedingt, da inzwischen weitgehend anerkannt ist, dass Tierstil-Objekte auch lokal gefertigt wurden.

Alle genannten Modelle – in unterschiedlicher Überzeugungskraft – setzen jedoch einen engen Austausch zwischen den Eliten der betreffenden Regionen und dem skandinavischen Norden voraus. So interpretiert etwa Alexandra Pesch den Tierstil als eine Art „Corporate Design“ der Eliten: ein überregionales, klar kodifiziertes visuelles Ausdruckssystem. Es handelte sich demnach nicht um individuelle künstlerische Gestaltung, sondern um ein kollektives Regelsystem, das von den Beteiligten verstanden und gezielt eingesetzt wurde – vergleichbar mit modernen Markenidentitäten.

Tiere erscheinen dabei nicht naturalistisch, sondern modular und stilisiert: Köpfe, Gliedmaßen und Körpersegmente werden als einzelne, oft verschlungene Bildelemente mit typischen Merkmalen wie u-förmigen Augen oder ornamentaler Binnenzeichnung dargestellt. Diese klare Wiedererkennbarkeit – unabhängig von Objekt, Material oder Region – macht den Tierstil laut Pesch zu einem „kulturellen Logo“. Es fungierte als visuelles Mittel zur Elitenkommunikation und sozialen Abgrenzung und trug zur Ausbildung eines überregionalen Identitätsbewusstseins bei. Auch wenn die Deutung einzelner Motive schwierig bleibt, sieht Pesch im Tierstil eine symbolisch dichte Bildsprache, die das gemeinsame Selbstverständnis einer vernetzten Führungsschicht zum Ausdruck brachte.

Darüber hinaus wird auch eine tiefere Dimension des Ornamentalen diskutiert: So argumentiert etwa Høilund Nielsen anhand des Tierstils II, dass dieser über seine formale Struktur hinaus als visuelles Medium sozialer und politischer Kommunikation zu verstehen sei – im Kontext frühmittelalterlicher Elitenkulturen im germanischen Raum. Auffällig ist laut Nielsen, dass das Auftreten dieses Stils häufig mit Phasen politischer Umbrüche, dynastischer Formierungsprozesse oder kollektiver Selbstvergewisserung einhergeht. Bemerkenswert ist zudem der wiederkehrende Zusammenhang zwischen skandinavisch geprägter Ornamentik und mythischen Ursprungsnarrativen, den Origo gentis-Erzählungen (Beispielsweise Langobarden).

Kurzum: Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Tierstil ein intensives kulturelles Medium war, das die Eliten der germanischsprachigen gentes auf spezifische Weise miteinander verband. Das widerspricht keineswegs den Ausführungen Brathers oder anderer Forscher – könnte aber, vergleichbar mit dem plötzlichen Auftreten der Runenschrift im südgermanischen Raum (die oft in Verbindung mit Tierstil-Objekten steht), eine vertiefte Diskussion lohnen. Jedenfalls relativert das zu einem gewissen Grad die Impression, die ich häufig habe, wenn ich Brather und andere lese, die sehr gern den Dekonstruktionshammer schwingen. So, jetzt habe ich aber echt viel geschrieben.
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Haseloff, Günther: Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit. Band I. Berlin/New York: de Gruyter, 1981.


Høilund Nielsen, Karen: „...writhe-hilted and serpent-marked...“, in: Art and Symbolism in Medieval Europe, S. 83–94.


Pesch, Alexandra: „Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik“, in: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Berlin/New York: de Gruyter, 2012, S. 633–687.
 
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