Es lässt sich leichter darüber reden, wenn du eine konkrete Frage hast oder eine These.
Meine Überlegungen bewegen sich derzeit eher in eine vortastende Richtung. Angesichts der Quellenlage bin ich mir unsicher, inwieweit eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Gedanken tatsächlich belastbare neue Erkenntnisse hervorbringen kann.
Dennoch scheint mir, dass gerade die vergleichsweise dichte Überlieferungslage zum Tierstil in gewisser Weise querliegt zu jenen dekonstruktivistischen Thesen, die – spätestens seit Brather – in der Forschung breite Zustimmung gefunden haben, insbesondere im Hinblick auf die Vorstellung kultureller Kohärenz innerhalb der germanischsprachigen Sphäre.
Ich bin mir bewusst, dass ich mich mit dieser Beobachtung womöglich weit aus dem Fenster lehne – und im Einzelnen sind viele dieser Überlegungen für mich selbst noch nicht annähernd geklärt.
Um es zugespitzt zu formulieren, habe ich den Eindruck, dass das Bild germanischsprachiger
gentes vor allem während der Völkerwanderungszeit grob derart umrissen wird:
1. Germanen gibt es sowieso nicht, weil Caesar und antiken Ethnonymen ist sowieso nichts abzugewinnen.
2. Selbst jene, die auf einem bestimmten Gebiet antike Ethnonyme „für voll nehmen“, diskutieren ohne Grundlage, wenn sie archäologische Funde ethnisch bestimmen, weil
a. ethnische Gruppen aus archäologischen Kulturen nicht abgeleitet werden können – archäologische Kulturen sind methodische Konstrukte, keine real existierenden sozialen Einheiten,
b. diese Kulturen in sich zu heterogen sind, um sie als Ausdruck homogener, klar abgrenzbarer ethnischer Identitäten zu lesen,
c. und weil es keine stabilen materiellen Marker gibt, die eindeutig und über längere Zeiträume hinweg mit einem bestimmten „Volk“ verbunden werden können.
3. Die Vorstellung von „Völkern“, die sich von Skandinavien her über Europa bewegen, wird als Projektion späterer, nationalstaatlich geprägter Konzepte auf die Vergangenheit entlarvt.
4. Wenn also Ethnizität überhaupt eine Rolle spielt, dann höchstens als situativ hergestellte, performative Identität, die – folgt man Brather – stets kontextabhängig, mehrdeutig und wandelbar ist.
5. Folglich: Wer archäologisches Material im Sinne ethnischer Zuschreibungen interpretiert, reproduziert nicht nur überkommene Denkmuster aus dem 19. Jahrhundert, sondern läuft Gefahr, ideologischen Missbrauch historischer Narrative Vorschub zu leisten
Alles gut so weit und hier ist generell kaum zu widersprechen. Brather, seine akademischen Nachfahren und ihr kanadischer Flankenschutz seit Goffart haben in vielen Punkten wichtige Fragen gestellt.
Ich fasse mich an dieser Stelle etwas kürzer – die Details lassen sich in der Diskussion noch vertiefen:
In der Forschung zu Tierstil I und II wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle herangezogen, um die Verbreitung dieser Stile im germanischsprachigen Raum zu beschreiben. Als Entstehungszentrum gilt – wenn auch nicht unumstritten – Südskandinavien. Von dort soll sich der Stil in andere Regionen ausgebreitet haben. Die Modelle reichen von einem Import skandinavischer Objekte über Migration bis hin zu Exogamie. Allerdings greifen alle diese Ansätze nur bedingt, da inzwischen weitgehend anerkannt ist, dass Tierstil-Objekte auch lokal gefertigt wurden.
Alle genannten Modelle – in unterschiedlicher Überzeugungskraft – setzen jedoch einen engen Austausch zwischen den Eliten der betreffenden Regionen und dem skandinavischen Norden voraus. So interpretiert etwa Alexandra Pesch den Tierstil als eine Art „Corporate Design“ der Eliten: ein überregionales, klar kodifiziertes visuelles Ausdruckssystem. Es handelte sich demnach nicht um individuelle künstlerische Gestaltung, sondern um ein kollektives Regelsystem, das von den Beteiligten verstanden und gezielt eingesetzt wurde – vergleichbar mit modernen Markenidentitäten.
Tiere erscheinen dabei nicht naturalistisch, sondern modular und stilisiert: Köpfe, Gliedmaßen und Körpersegmente werden als einzelne, oft verschlungene Bildelemente mit typischen Merkmalen wie u-förmigen Augen oder ornamentaler Binnenzeichnung dargestellt. Diese klare Wiedererkennbarkeit – unabhängig von Objekt, Material oder Region – macht den Tierstil laut Pesch zu einem „kulturellen Logo“. Es fungierte als visuelles Mittel zur Elitenkommunikation und sozialen Abgrenzung und trug zur Ausbildung eines überregionalen Identitätsbewusstseins bei. Auch wenn die Deutung einzelner Motive schwierig bleibt, sieht Pesch im Tierstil eine symbolisch dichte Bildsprache, die das gemeinsame Selbstverständnis einer vernetzten Führungsschicht zum Ausdruck brachte.
Darüber hinaus wird auch eine tiefere Dimension des Ornamentalen diskutiert: So argumentiert etwa Høilund Nielsen anhand des Tierstils II, dass dieser über seine formale Struktur hinaus als visuelles Medium sozialer und politischer Kommunikation zu verstehen sei – im Kontext frühmittelalterlicher Elitenkulturen im germanischen Raum. Auffällig ist laut Nielsen, dass das Auftreten dieses Stils häufig mit Phasen politischer Umbrüche, dynastischer Formierungsprozesse oder kollektiver Selbstvergewisserung einhergeht. Bemerkenswert ist zudem der wiederkehrende Zusammenhang zwischen skandinavisch geprägter Ornamentik und mythischen Ursprungsnarrativen, den
Origo gentis-Erzählungen (Beispielsweise Langobarden).
Kurzum: Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Tierstil ein intensives kulturelles Medium war, das die Eliten der germanischsprachigen
gentes auf spezifische Weise miteinander verband. Das widerspricht keineswegs den Ausführungen Brathers oder anderer Forscher – könnte aber, vergleichbar mit dem plötzlichen Auftreten der Runenschrift im südgermanischen Raum (die oft in Verbindung mit Tierstil-Objekten steht), eine vertiefte Diskussion lohnen. Jedenfalls relativert das zu einem gewissen Grad die Impression, die ich häufig habe, wenn ich Brather und andere lese, die sehr gern den Dekonstruktionshammer schwingen. So, jetzt habe ich aber echt viel geschrieben.
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Haseloff, Günther:
Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit. Band I. Berlin/New York: de Gruyter, 1981.
Høilund Nielsen, Karen: „...writhe-hilted and serpent-marked...“, in:
Art and Symbolism in Medieval Europe, S. 83–94.
Pesch, Alexandra: „Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik“, in: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.):
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Berlin/New York: de Gruyter, 2012, S. 633–687.