Die Griechen im Atlantik

Eingentlich wollte ich gestern nur das posten: He [Pytheas] claimed to have explored a large part of Britain on foot; he accurately estimated its circumference at 4,000 miles (6,400 km). – um zu sagen, dass Pytheas doch nicht so unrecht hatte mit seiner Angabe von 42.000 Stadien für den Umfang Großbritanniens; wer da vermeintlich wohnte, ist weniger interessant.

Vielmehr interessieren Pytheas Angaben über einen Ort namens Thule, der in 6 Tagesreisen von der Nordspitze Britanniens zu erreichen war, und von dort aus nach einer weiteren Tagesreise, das gefrorene Meer gesehen hatte. Diese Angaben wurden von Eratosthenes, der 50 Jahre nach Pytheas lebte und dem wahrscheinlich den Originalbericht vorlag, als wahr angesehen.

In diesem Faden geht es darum, ob es möglich war, dass die Griechen in 1. Jhdt. Amerika erreichten und wieder zurückkamen. Wenn Pytheas das Nordmeer befahren konnte, konnten das 350 Jahre später auch andere. Damit wäre es technisch möglich gewesen, Amerika 800 Jahre vor den Wikingern zu erreichen. Mehr wollte ich von Anfang an nicht sagen.

Was danach kam, war fast nur Drumherumgerede. Immerhin habe ich dabei was gelernt. Danke für die Nachhilfe.
:)
 
Eines vorweg: Die Hypothese, dass die Karthager die Gibraltar-Enge voll blockiert hätten, ist wohl ad acta gelegt – Zitat aus: PYTHEAS OF MASSALIA’S ROUTE OF TRAVEL by Cameron McPhail*: … specially now that the notion of a permanent, full-scale Carthaginian blockade of the Strait of Gibraltar, from 500 to 250 b.c., has been overturned.

Nun, wie gesagt, ich halte die Behauptung, dass die Karthager die Meerenge kontrollieren konnten, für Unsinn, das gelingt heute den Spaniern mit Radar und aller modernen Technik noch nicht; nur dass die Marokkaner trotz aller Konflikte, die sie mit Spanien haben, Migrationswellen von Marokko nach Spanien meistens unterbinden. Wie hätte das den Karthagern vor 2.500 Jahren gelingen sollen?
Dennoch ist die Argumentation von McPhail zu kritisieren. Denn wenn du dir die zugehörige Fußnote ansiehst, dann schreibt er in dieser, dass die Quellenhinweise auf eine solche Blockade nur spärlich seien, er nennt dann aber nur Literatur, die sich für die Existenz einer solchen Blockade ausspricht.

Vielmehr interessieren Pytheas Angaben über einen Ort namens Thule, der in 6 Tagesreisen von der Nordspitze Britanniens zu erreichen war, und von dort aus nach einer weiteren Tagesreise, das gefrorene Meer gesehen hatte.
Ich erinnere gerne daran, dass dort nicht von „gefroren“ die Rede ist (das sind interpretierende Übersetzungen des 19. und 20. Jhdts.), der Atlantik wurde oft als schlammig und schwer passierbar beschrieben, so auch durch Sylla im Dialog Plutarchs über die Gestalt des Mondes, der ja die Grundlage für diesen Thread bildet, und die Griechen auch die Massalioten - kannten natürlich Eis und Schnee.

Des weiteren wird auf Basis von Pytheas auch die Strecke zwischen Cádiz und dem Cabo São Vicente mit 5 Tagesreisen angegeben (etwa 250 km). Das veranschlagt könnte Pytheas bei sechs Tagen von GB Richtung Norden allenfalls die Färöer erreicht haben (etwa 330 - etwa 440 km). Da auf zweiter Strecke keine Küstennavigation/Anlandung möglich war, musste nachts weiter gesegelt werden.
 
Manchmal geht auch ansonsten vollkommen glaubwürdigen Autoren die Phantasie durch. Arnold von Harff reiste im 15. Jhdt. nach Jerusalem. Er gibt immer brav die gereisten Leugen an, macht Angaben zum lokalen Wortschatz (absolut nachvollziehbar, Französisch, Baskisch, iberoromanische Dialekte, arabische Dialekte, Griechisch,
Albanisch....). Hinter Kairo, wo er Kontakt mit zwei deutschen Mamluken hatte, bog er spontan nach Süden ab und begegnete solchen Fabelwesen, wie man sie auch auf manchen Illustrierten T-O-Karten sieht. Keine Leugenangaben mehr. Dann kehrt er wieder auf seinen eigentlichen Weg zurück und es geht im gewohnt nüchternen Stil weiter.
 
Eingentlich wollte ich gestern nur das posten: He [Pytheas] claimed to have explored a large part of Britain on foot; he accurately estimated its circumference at 4,000 miles (6,400 km). – um zu sagen, dass Pytheas doch nicht so unrecht hatte mit seiner Angabe von 42.000 Stadien für den Umfang Großbritanniens;

Wie ich mir schon dachte, hast Du auch diesen Beitrag nicht zur Kenntnis genommen. Ich zitiere nochmal Diodor:

"Britannien ist der Form nach dreieckig ähnlich Sizilien. [...] Von den Seiten ist die kürzeste 7500 Stadien (1390 km) lang und erstreckt sich längs Europas, die zweite von der Meerenge bis zur Spitze ist 15000 und die letzte 20.000 (2800, 3700 km) lang, so daß der Gesamtumfang der Insel 42500 Stadien (7900 km) beträgt."

Was hier geschätzt wurde, waren die Seitenlängen des Dreiecks.

Wenn man die Angaben über das Dreieck retten will, wird man es so ähnlich machen müssen wie Stichtenoth, der die kürzeste Seite 3900 km von Land's End bis Rügen zieht und dessen Dreieck dann England (aber ohne Schottland), Dänemark, Schweden und Norwegen umfasst ("Die Grundlage bildet das Riesendreieck Bretanike mit der Basis Lands End - Arkona...") und folglich Thule mit Finnland identifiziert.

Die Seitenlängen des Dreiecks überliefert auch Caesar, wobei er darauf hinweist, dass die Längen nur geschätzt seien:

"Insula natura triquetra, cuius unum latus est contra Galliam. huius lateris alter angulus, qui est ad Cantium, quo fere omnes ex Gallia naves adpelluntur, ad orientem solem, inferior ad meridiem spectat. hoc latus pertinet circiter milia passuum quingenta. (2) alterum vergit ad Hispaniam atque occidentem solem. qua ex parte est Hibernia insula, dimidio minor, ut existimatur, quam Britannia, sed pari spatio transmissus atque ex Gallia est in Britanniam. (3) in hoc medio cursu est insula, quae appellatur Mona; complures praeterea minores obiectae insulae existimantur; de quibus insulis nonnulli scripserunt dies continuos XXX sub brumam esse noctem. (4) nos nihil de eo percontationibus reperiebamus, nisi certis ex aqua mensuris breviores esse quam in continenti noctes videbamus. (5) huius est longitudo lateris, ut fert illorum opinio, septingentorum milium. (6) tertium est contra septentriones; cui parti nulla est obiecta terra, sed eius angulus lateris maxime ad Germaniam spectat. hoc milia passuum octingenta in longitudinem esse existimatur. (7) ita omnis insula est in circuitu vicies centum milium passuum."
=
"Die Insel ist ihrer natürlichen Gestalt nach ein Dreieck, dessen eine Seite gegen Gallien liegt. Der eine Winkel an dieser Seite, bei Cantium, wo in der Regel alle gallischen Schiffe landen, zieht sich gegen Osten; der andere weiter unten, gegen Mittag. Diese ganze Seite ist etwa 500 Meilen lang. (2) Die Richtung der anderen Seite ist gegen Westen und nach Spanien hin; dort liegt Hibernien, der gewöhnlichen Schätzung nach bald so groß wie Britannien; die Überfahrt von hier nach Britannien ist so groß wie aus Gallien nach Britannien. (3) Mitten auf diesem Seeweg liegt eine Insel namens Mona; überdies sollen noch eine Anzahl kleinerer Inseln in der Nähe liegen, auf denen nach dem Bericht einige Schriftsteller, sobald im Winter die Sonne wendet, 30 Tage lang beständig Nacht herrscht. (4) Wir haben davon, ungeachtet unseres Nachforschens, nichts gefunden, außer dass wir aus den sicheren Messungen mit der Wasseruhr bemerkten, dass dort die Nächte kürzer sind als in Gallien. (5) Nach der gewöhnlichen Meinung ist diese ganze Seite 700 Meilen lang. (6) Die dritte Seite der Insel geht gegen Norden und ihr liegt kein Land gegenüber; nur schaut ihr Winkel vorherrschend gegen Germanien: im Ganzen ist sie, wie man glaubt, 800 Meilen lang. (7) Der ganze Umfang der Insel beläuft sich also auf 2.000 Meilen."

Die von Caesar angegebenen Maße sind auch zu hoch, aber bei weitem nicht so eklatant wie bei Pytheas, sie bewegen sich um die 20% mit Ausnahme der Südseite; diese wurde aber wenig später von Agrippa auf 300 Meilen korrigiert, womit wir bei einem ähnlichen Fehlerbereich landen.


wer da vermeintlich wohnte, ist weniger interessant.
Dann hast Du das Argument nicht verstanden. Ich zitiere es nochmal:

Die Gegend, in der der längste Tag 18 Stunden dauert (das wäre auf der Insel Großbritannien etwa um Aberdeen) wäre laut dieser Stelle immer noch südlicher als Britannien!

Hast Du mal auf der Karte nachgesehen, wo Aberdeen liegt?
 
Ich habe alles gelesen, was du geschrieben - und auch verstanden. Aber diese Dreiecksform Britanniens interessiert mich nicht mehr, und auch nicht, dass Caesar 300 Jahre nach Pytheas mit dem Umfang Britanniens auch falsch lag. Wichtig ist allein, dass Phyteas den Polarkreis erreichte und dazu 6 Tage brauchte. Und je nachdem, welche zurückgelegte Distanz man für eine Tagesreise ansetzt, kann man sich an der Küste Britanniens einen Ort aussuchen, von dem Pytheas gestartet sein mag. Das ist alles.
 
Wir wissen eben nicht, dass er den Polarkreis erreichte. Wir wissen, dass der Mann rechnen konnte und eine Vorstellung davon hatte, dass die Tage Richtung Pol im Sommer länger und Richtung Äquator kürzer wurden. Wenn ich ausrechnen kann, dass die Tage nach Norden hin länger werden, dann erzähle ich doch genau das als Kuriosum, wenn ich nach meinem Kurzbesuch in Südbritannien dem staunenden Publikum von meinen Abenteuern am Polarkreis erzählen will.
 
Ich habe alles gelesen, was du geschrieben - und auch verstanden. Aber diese Dreiecksform Britanniens interessiert mich nicht mehr, und auch nicht, dass Caesar 300 Jahre nach Pytheas mit dem Umfang Britanniens auch falsch lag.
Allerdings in einem zu vernachlässigenden Maß, wenn man bedenkt, dass es nie eine systematische Vermessung gab. Und Caesar hat auch nicht behauptet, er habe die 2000 Meilen abgeschritten und könne sich dafür verbürgen.

Wichtig ist allein, dass Phyteas den Polarkreis erreichte

Pytheas behauptet (in einem der wenigen überlieferten wörtlichen Zitate), in einer Gegend gewesen zu sein, in der die kürzeste Nacht nur zwei bis drei Stunden dauert. Besonders interessant ist aber, dass er laut Hipparch behauptet, in einer Gegend gewesen zu sein, in der die kürzeste Nacht 6 Stunden dauert, und diese Gegend sei immer noch südlicher als Britannien! Da Dich Einwände nicht interessieren, hast Du das wohl auch nicht zur Kenntnis genommen:

"... er dagegen, da er Pytheas glaubt, setzt diesen Wohnsitz in dem Gebiet südlich von Britannien an und sagt, der längste Tag dauere dort neunzehn Äquinoktialstunden, und achtzehn wo die Sonne sich vier Ellen erhebt. ..."
 
Ich möchte Phyteas nicht zu nahe treten (gerade auch da andere über ihn und seine Reise berichteten, sie interpretierten und urteilten), doch
Wenn ich ausrechnen kann, dass die Tage nach Norden hin länger werden, dann erzähle ich doch genau das als Kuriosum, wenn ich nach meinem Kurzbesuch in Südbritannien dem staunenden Publikum von meinen Abenteuern am Polarkreis erzählen will.
... und kann auch als gezielt neugierig, aufmerksam Zuhörender Berichte über sich verändernde Meeresbedingungen, Länder, Küsten, Inseln, Ernährungsweisen, interessante Handelsgüter, Himmelserscheinungen etc. aufgesaugt haben, ohne jemals mit eigenen Augen etwas davon gesehen zu haben, oder nur einzelne Aspekte davon.
Eine Option die meiner Ansicht nach in Betracht zu ziehen ist.
 
... und kann auch als gezielt neugierig, aufmerksam Zuhörender Berichte über sich verändernde Meeresbedingungen, Länder, Küsten, Inseln, Ernährungsweisen, interessante Handelsgüter, Himmelserscheinungen etc. aufgesaugt haben, ohne jemals mit eigenen Augen etwas davon gesehen zu haben, oder nur einzelne Aspekte davon.

Den gewaltigen Tidenhub von über 35 Metern wird er wohl nicht selber gemessen haben...

Plinius Nat. hist. II 99: octogenis cubitis supra Britanniam intumescere aestus Pytheas Massiliensis auctor est.
"Pytheas von Massilia ist der Gewährsmann dafür, dass die Flut oberhalb von Britannien 80 Ellen ansteigt" (1 cubitum = 0,444 cm)
 
Für mich ist entscheidend, dass Eratosthenes, einer der besten Kenner der Materie, in wichtigen und hier zu Diskussion stehenden Punkte Pytheas glaubte. Klar, auch Eratosthenes war nicht fehlerfrei, aber wer war das schon in jenen Zeiten.

Zuletzt habe ich vorgestern einen halben Tag damit verbracht, Neues zum Thema zu entdecken. Dabei habe ich in den Tiefen meines Rechners eine Schrift entdeckt, die ich schon 2021 gefunden, und über die wir schon mal gesprochen haben – siehe hier. Dabei habe ich festgestellt, dass der dortige Link nicht mehr funktioniert, deshalb hier der aktuelle: https://geodaesie.info/images/zfv/137-jahrgang-2012/downloads/zfv_2012_6_Lelgemann.pdf

Ich halte diese Schrift nach wie vor als die beste zum Thema Pytheas und Thule. Damit möchte ich mich jetzt wirklich aus dieser Diskussion zurückziehen – der Worte sind genug gewechselt.
 
Zuletzt habe ich vorgestern einen halben Tag damit verbracht, Neues zum Thema zu entdecken. Dabei habe ich in den Tiefen meines Rechners eine Schrift entdeckt, die ich schon 2021 gefunden, und über die wir schon mal gesprochen haben – siehe hier. Dabei habe ich festgestellt, dass der dortige Link nicht mehr funktioniert, deshalb hier der aktuelle: https://geodaesie.info/images/zfv/137-jahrgang-2012/downloads/zfv_2012_6_Lelgemann.pdf

Ich halte diese Schrift nach wie vor als die beste zum Thema Pytheas und Thule. Damit möchte ich mich jetzt wirklich aus dieser Diskussion zurückziehen – der Worte sind genug gewechselt.

Ich hatte dich auch damals schon darauf hingewiesen, dass Lelgemann et al. von Fachleuten wegen methodischer Mängel erheblich kritisiert wurden, und dass Lelgemann selbst einwandfrei lokalisierbare Orte falsch verortet. So verortet Lelgemann Lucentum bei Águilas, obwohl Águilas und Alacant/Alicante 140-150 km voneinander entfernt liegen.
 
Für mich ist entscheidend, dass Eratosthenes, einer der besten Kenner der Materie, in wichtigen und hier zu Diskussion stehenden Punkte Pytheas glaubte.

Womit Du erneut dokumentierst, dass für Dich der Glaube zählt und folglich Fakten uninteressant sind, und dass das argumentum ad verecundiam jegliches Sachargument ersetzt.


Zuletzt habe ich vorgestern einen halben Tag damit verbracht, Neues zum Thema zu entdecken. Dabei habe ich in den Tiefen meines Rechners eine Schrift entdeckt, die ich schon 2021 gefunden, und über die wir schon mal gesprochen haben – siehe hier. Dabei habe ich festgestellt, dass der dortige Link nicht mehr funktioniert, deshalb hier der aktuelle: https://geodaesie.info/images/zfv/137-jahrgang-2012/downloads/zfv_2012_6_Lelgemann.pdf

Ich halte diese Schrift nach wie vor als die beste zum Thema Pytheas und Thule.

"Ob es sich bei der offensichtlich falschen Angabe des Strabon von ∆Φ = 5.000 Stadien um einen Schreibfehler handelt oder ob Strabon diese Distanz »korrigierte«, um Thule an den Polarkreis zu legen, ist nicht zu klären", heißt es da.

Das heißt, Du hast vorgestern eine Schrift studiert, die Du für die "beste zum Thema Pytheas und Thule" hältst und in der explizit steht, dass Pytheas bei seinem Thulebesuch nicht bis zum Polarkreis gelangt ist, und gestern dann die Behauptung rausgehauen:
Wichtig ist allein, dass Phyteas den Polarkreis erreichte

Ich habe natürlich auch keine Lust, mich mit Dir über eine Schrift auszutauschen, die Du zwar über den grünen Klee lobst, weil sie Deinen Glauben nicht in Frage stellt, die Du aber nicht wirklich gelesen hast.
Ich kann aber verraten, dass ich mich mit einigen Kapiteln des Buches Kleineberg/Marx/Knobloch/Lelgemann Germania und die Insel Thule selber schon sehr intensiv auseinandergesetzt habe. Ich gebe eine kurze Zusammenfassung:

Kleineberg et al. glauben, Ptolemaios hätte für die von ihm beschriebenen Regionen systematisch ermittelte Koordinaten verwendet, und man könne die teils starken Verzerrungen ebenso systematisch "entzerren". Ich habe am Beispiel des Alpengebiets gezeigt, dass die von Ptolemaios gegebenen Koordinaten für gut identifizierbare Orte ganz unsystematisch verzerrt sind. Um ihre These zu retten, sehen sich die Autoren daher gezwungen, gut begründete (Archäologie, Ortsnamenforschung) Identifikationen zu verwerfen und zu haarsträubenden Hilfshypothesen zu greifen.

Es werden also gut begründbare Identifikationen verworfen, um möglichst viele ptolemäische Koordinaten "retten" zu können. Schreibfehler werden nur da zugestanden, wo sich die Identifikationen beim besten Willen nicht wegdiskutieren lassen. Bei Orten, die sich nicht identifizieren lassen (das ist in der Magna Germania "zum Glück" fast immer der Fall), hat man dann freie Bahn.
 
Eine kleine Zitatauswahl aus den vielen Beiträgen, die ich dazu geschrieben habe:

Die Autoren erwähnen zwar die Bedeutung der Ortsnamenkunde für die Identifizierung antiker Orte, sie wird von ihnen jedoch sträflich vernachlässigt. Mangels grundlegender Kenntnisse auf diesem Gebiet sind sie dann auch nicht in der Lage, wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse von Bullshit zu unterscheiden. Zwei Beispiele (das eine hatte ich bereits verlinkt):

Zu Tarodunum/Zarten schreiben sie, die Gleichsetzung sei "aufgrund der lautlichen Ähnlichkeit des Namens" erfolgt. Natürlich ist lautliche Ähnlichkeit kein Argument. Hier geht es aber nicht um lautliche Ähnlichkeit, sondern um genaue lautgesetzliche Entsprechung:
- Wir haben die gemanisch/althochdeutsche Akzentverlagerung auf die erste Silbe, wodurch sich die nachfolgenden Silben abschwächen bzw. schwinden.
- Wir haben die erste Phase der zweiten Lautverschiebung: Aus dem anlautenden T- wird ein Z-
- Wir haben die dritte Phase der zweiten Lautverschiebung: Aus dem inlautenden -d- wird ein -t-
- Und wir haben sogar ein urkundliches Zeugnis mit dem Beleg Zarduna aus dem Jahr 765, das haargenau die Situation zwischen den beiden Phasen zeigt.
Aus namenkundlicher Sicht haben wir also eine praktisch lückenlose Beweiskette. Auch der archäologische Befund ist überdeutlich: "Handel und Handwerk, Austausch und Produktion zeigen, dass am Ausgang des letzten vorchristlichen Jahrtausends auf dem Gebiet des heutigen Kirchzarten eine Großsiedlung überregionaler Bedeutung existierte."

Zu Carrodunum, das sie bei Rýmařov/Römerstadt lokalisieren, schreiben sie: "Ob der deutsche Name 'Römerstadt' in einem Zusammenhang mit einer antiken Siedlung steht, bleibt offen." Das bleibt beileibe nicht offen, sondern das lässt sich eindeutig klären: Der Ortsname lautete bei der Ersterwähnung 1351 Raymarstat; die Verballhornung zu Römerstadt fand erst im 16. Jahrhundert statt.

Die genannten Beispiele sagen sehr wohl etwas zur Methode aus. Ortsnamen werden "flankierend" eingesetzt, um unhaltbare Behauptungen zu untermauern, dabei werden auf der einen Seite wissenschaftliche Erkenntnisse unterschlagen, wenn sie der eigenen These widersprechen, andererseits wird offenkundiger Bullshit herangezogen, wenn er der eigenen These nutzt.

Diese "Methode" ist, um es deutlich zu sagen, pseudo-wissenschaftlich.

Kleineberg et al. bezweifeln, dass Iuvavum tatsächlich Claudium Iuvavum geheißen hat, mit der Begründung, diese Form sei literarisch und inschriftlich nicht belegt. Das ist inzwischen widerlegt, es gibt einen Inschriftenfund, der die Form bezeugt:

"Die ersten vier Zeilen bieten keine Lese- und Verständnisschwierigkeiten. Der Grabstein ist an erster Stelle einem P. Seppius Severus gesetzt worden, der decurio und duumvir des Munizipiums Claudium Iuvavum war."​
A. Krammer/B. Steidl, Ein neues Grabmonument für einen decurio et duumvir des municipium Claudium Iuvavum aus Chieming. Bayerische Vorgeschichtsblätter 82, 2017, 111-137

Da nun die Namenform gesichert ist, hat sich die gängige Hypothese bestätigt.


Ich gebe einen kurzen Gesamtüberblick über die norischen Siedlungsnamen. Zunächst nach der Sortierung bei Kleineberg et al. nach der Sicherheit der Identifkationen:

"unsicher"
6 Claudivium (Wallsee)
7 Gabavodurum (bei St. Pölten)
8 Gesodunum (bei Steyr)
9 Bedacum (bei Strass im Zillertal)
11 Vacorium (Treffen)
15 Idunum (Gurina)

"wahrscheinlich"
5 Arelate (bei Linz)

"sicher"
10 Aguntum (Dölsach)
12 Poedicum (Bruck an der Mur)
13 Virunum (Zollfeld)
14 Teurnia (St. Peter in Holz)
16 Sianticum (Villach)
17 Celeia (Celje)
18 Iulium Carnicum (Zuglio)

Wie bereits oben erwähnt, ist Bedacum sehr wahrscheinlich mit Bedaium gleichzusetzen (und damit bei Seebruck am Chiemsee zu lokalisieren). Außerdem Vacorium mit Vocarium (nicht genau lokalisierbar, aber gemäß der Peutingertafel nach Salzburg und Kuchl die nächste Station, also ca. 25 km südlich von Kuchl zu suchen.
Dass die Lokalisierung von Arelate auf der Peutingertafel (zwischen dem Ybbsübergang und Traismauer) von den Autoren schlichtweg unterschlagen wird, hatte ich auch bereits erwähnt.

Wenn ich die unsicheren Identifikationen ausklammere und das sicher identifizierte Claudium Iuvavum sowie die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu identifizierenden Orte Bedacum, Vacorium und Arelate berücksichtige, ergibt sich folgendes Bild

5 Arelate (Pöchlarn): von Ptolemaios falsch lokalisiert
6 Claudivium (Salzburg): von Ptolemaios falsch lokalisiert
9 Bedacum (Seebruck): von Ptolemaios falsch lokalisiert
11 Vacorium (ca. Pfarrwerfen): von Ptolemaios falsch lokalisiert
10 Aguntum (Dölsach): von Ptolemaios falsch lokalisiert
12 Poedicum (Bruck an der Mur)
13 Virunum (Zollfeld)
14 Teurnia (St. Peter in Holz): von Ptolemaios falsch lokalisiert
16 Sianticum (Villach)
17 Celeia (Celje): von Ptolemaios falsch lokalisiert
18 Iulium Carnicum (Zuglio)

Das heißt: In einem Gebiet, das von römischen Straßen mit Meilensteinen und Meilenangaben durchzogen war, hat Ptolemaios fast zwei Drittel der Orte mit Sicherheit oder wahrscheinlich falsch lokalisiert.

Wie mag das auf dem Gebiet der Germania Magna aussehen, wo es keine römischen Meilensteine gab und wir keine einzige sicher identifizierbare Siedlung haben?

Kleine Anmerkung: Schon bevor mir der Bericht über den Inschriftenfund zur Kenntnis gelangt ist, der die Namenform Claudium Iuvavum für Salzburg eindeutig belegt, hatte ich die (jetzt als falsch erwiesene) alternative Deutung aus methodischen Gründen (Zirkelschluss) für unzulässig gehalten.

Was für ein Murks bei dieser Methode unterm Strich herauskommen kann, sieht man schön an den Orten in der heutigen Suisse Romande, die bis nach Vorarlberg und Tirol verlegt werden müssen:

Wenn man wie Kleineberg et al. die Alpes Graiae mit dem Kleinen St. Bernhard und die Alpes Poeninae mit dem Großen St. Bernhard identifiziert, sind die nördlich davon verzeichneten Orte leicht zu identifizieren:

- "Vicus" ohne weiteren Zusatz kann kein Siedlungsname sein, man muss von einer Verkürzung oder Verballhornung ausgehen. Naheliegend wäre eine Identifizierung mit Viviscus/Vevey.
- Bei "Ebodurum" liegt eine Verschreibung von Eburodunum/Yverdon nahe.
- Octodurum ist zweifelsfrei mit Martigny zu identifizieren.

[...]

Erstaunlicherweise lehnen die Entzerrer die Identifikationen aller drei Orte ab! Mit für mich nicht nachvollziehbaren Begründungen verlegen sie sie weit in den Osten, Vicus nach Altstätten (Kanton St. Gallen), Ebodunum nach Bludenz (Vorarlberg), Octodurum gar nach Landeck (Tirol):



Ich hatte dich auch damals schon darauf hingewiesen, dass Lelgemann et al. von Fachleuten wegen methodischer Mängel erheblich kritisiert wurden, und dass Lelgemann selbst einwandfrei lokalisierbare Orte falsch verortet. So verortet Lelgemann Lucentum bei Águilas, obwohl Águilas und Alacant/Alicante 140-150 km voneinander entfernt liegen.

Irgendwo wurde auch schon die Rezension von Gyula Pápay verlinkt, wo es z. B. heißt:

"Das kann mit einem konkreten Beispiel belegt werden. Celamantia gehört zu den ganz wenigen Orten in der Tabelle zu Germania Magna (S. 31), deren Koordinaten (18° 14’ und 47° 45’) als sicher bezeichnet wurden. Demzufolge wurde dieser Ort mit Leányvár (bei Komarno) identifiziert. Die archäologische Forschung schließt jedoch eine solche Identifizierung definitiv aus. Dieses Beispiel belegt zugleich, dass die Identifizierungsresultate, zum Teil sogar diejenigen, die als sicher angegeben werden, mit Vorsicht zu betrachten sind."

Der Schluss lautet:

"Die vorliegende Publikation kann nicht den Anspruch erheben, die ptolemäischen Koordinaten entschlüsselt zu haben. Sie bereichert lediglich die bisherige Vielzahl der Identifizierungsvorschläge für Germanien und die Anrainergebiete. Der Identifizierung von Thule kann nicht einmal eine solche Wertung eingeräumt werden, denn sie ist weitgehend spekulativ, und daher ist sie äußerst fragwürdig."
 
Pápay habe ich damals ausschnittsweise zitiert, als die Bücher von Lelgemann et al. noch relativ frisch waren und dann ein weiteres Mal gegenüber Dion, u.a. zwei Beiträge unter dem, den er heute zitiert hat.
 
Pápay habe ich damals ausschnittsweise zitiert, als die Bücher von Lelgemann et al. noch relativ frisch waren und dann ein weiteres Mal gegenüber Dion, u.a. zwei Beiträge unter dem, den er heute zitiert hat.

Ach ja, auf die völlige Untauglichkeit des argumentum ad verecundiam hattest Du ihn damals schon hingewiesen.

Das ist ein klassisches argumentum ad verecundiam:
- bestinformiertester Wissenschaftler
- er vertraute auf Pytheas.
- bestausgestattete Bibliothek
(gleich zwei Mal best-)
Ja, wir können ziemlich sicher davon ausgehen, das Eratosthenes gut informiert war und dabei noch ein schlauer Mensch war (nicht nur im Sinne von belesen sondern auch im Sinne, dass er selber innovativ war). Das ändert aber nichts an seiner Abhängigkeit von Pytheas.

Es ist daher erstmal völlig unerheblich, wie gut die Bibliothek ausgestattet und Eratosthenes informiert war.

Eratosthenes gibt - wohl basierend auf Pytheas - eine völlig verzerrte Lage Britanniens an, nach Nordosten gedehnt und viel länger als tatsächlich. Das bedeutet auch für uns, dass wir Eratosthenes nicht vertrauen können, ein Umstand, den Lelgemann gar nicht erst berücksichtigt.
 
Ah, weil die Autoren von Germania und die Insel Thule an manchen Stellen daneben lagen, ist auch alles andere nichts wert?

Es geht in der von mir verlinkten Schrift aber nicht um Germania, auch nicht um die Alpen, sondern ausschließlich um Thule mit einigen Ausflügen zu Messmethoden und Bestimmungen der geografischen Breiten im Mittelmeerraum durch Ptolemaios. Auch da sind Angaben präzise – bis auf eine: Die von Karthago ist um 4°14’ nach Norden verschoben, obwohl Karthago dem Ptolemaios quasi vor der Nase lag.

Ich halte solche eklatanten Fehlleistungen für Kopierfehler. Wenn man sich die Lebensdaten der hier in Frage kommenden Personen ansieht

Pytheas * um 370 v. Chr.; † um 310
Eratosthenes von Kyrene * zwischen 276 und 273 v. Chr.; † um 194 v. Chr.
Polybios * um 200 v. Chr.; † um 120 v. Chr.
Hipparchos von Nicäa * um 190 v. Chr.; † um 120 v. Chr.
Strabon * etwa 63 v. Chr.; † nach 23 n. Chr.
Plinius der Ältere * 23 oder 24; † 79
Claudius Ptolemäus * um 100; † nach 160

und sich vergegenwärtig, dass so gut wie nichts von dem, was sie vor 2000 und mehr Jahren geschrieben haben, in Original zu uns gekommen ist, dann muss man alle Quellen in Zweifel ziehen, nicht nur jene, die einem in den Kram passen.

Deshalb könnte auch bei Pytheas und Eratosthenes zu Kopierfehlern gekommen sein, zumal deren Schriften "zitiert" worden sind von Leuten, die sich teilweise selbst (z.B. Polybios) für bessere Geografen hielten als diese beiden. Warum also sollte man z.B. Polybios mehr glauben als Pytheas?

Wir sind uns einig, dass je weniger Informationen es über Etwas gibt, desto mehr Interpretationsspielraum haben die Forscher. Und dann geht es fast nur noch darum, welchen (antiken) Autoren glaubt man mehr.
 
Ah, weil die Autoren von Germania und die Insel Thule an manchen Stellen daneben lagen, ist auch alles andere nichts wert?
Dion, geh mal 40 Jahre zurück, Matheklausur. Du rechnest eine Aufgabe aus und verwendest eine falsche Formel. Dementsprechend ist dein Zwischenergebnis falsch. Mit diesem falschen Zwischenergebnis rechnest du weiter. Es kann, wenn du jetzt richtig weiterrechnest, am Ende kein korrektes Ergebnis stehen.

Übertragen wir das auf diese Diskussion: Lelgemann macht a) methodische Fehler und bedient sich b) willkürlicher Festlegungen (Startpunkt Pytheas‘ von den Orkneys aus). Das ist gewissermaßen das Äquivalent zur falsch verwendeten Formel. Seine Ergebnisse sind das fehlerhafte Zwischenergebnis. Mit diesem fehlerhaften Zwischenergebnis kommst du nicht zum richtigen Endergebnis. Du versuchst damit aber - zum wiederholten Male - die Quadratur des Kreises.
 
Für mich ist entscheidend, dass Eratosthenes, einer der besten Kenner der Materie, in wichtigen und hier zu Diskussion stehenden Punkte Pytheas glaubte. Klar, auch Eratosthenes war nicht fehlerfrei, aber wer war das schon in jenen Zeiten.
Was soll das beweisen? Eratosthenes erforschte nie selbst West- und Nordeuropa. Sein ganzes "Wissen" darüber bezog er von anderen.

Eratosthenes stützte sich übrigens auch gerne auf Patrokles, einen Forschungsreisenden, der behauptete, das Kaspische Meer (das er selbst befahren hatte! - wenn auch offenkundig nicht zur Gänze) sei eine Bucht des Okeanos und man könne vom Kaspischen Meer nach Indien segeln. (Hingegen hatte Herodot bereits gewusst, dass das Kaspische Meer ein Binnengewässer ist.) Sollen wir also wegen Eratosthenes' Autorität Patrokles' Angaben glauben?
 
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