Die Rolle Goebbels

So einen Verriss habe ich lange nicht gelesen! Allein deswegen lohnt es sich wahrscheinlich, dieses Thema weiter zu diskutieren.
Dito :D Wobei sich der Verriss nicht nur auf die psychologische Komponente beschränkt. Der große Buchhandel mit a sagte mir, die Bio käme am Freitag, dann muss ich nur noch die gut 900 Seiten lesen und ich kann mit der Psycho-Komponente zu Goebbels loslegen.
 
... dann muss ich nur noch die gut 900 Seiten lesen und ich kann mit der Psycho-Komponente zu Goebbels loslegen.

Seine Himmler-Biographie ist jedenfalls erstklassig, und die hatte immerhin über 1000 Seiten. Mal sehen, an wem er sich im Dritten Reich noch im 2-Jahres-Takt in diesem Umfang abarbeitet.
 
Zuletzt bearbeitet:
So einen Verriss habe ich lange nicht gelesen! Allein deswegen lohnt es sich wahrscheinlich, dieses Thema weiter zu diskutieren.

Eigentlich nicht verwunderlich, denn so ein psychologischer Ansatz mit Erklärungsmutmaßungen wird aus der Natur der Sache immer spekulativ bleiben und dem "belegorientiertem" Historiker immer Bauchschmerzen verursachen.
 
Ich habe die Biographie gelesen. Das verlinkte Interview wird dem Buch nicht gerecht. Der psychologische Ansatz, der in dem Interview so betont wird, spielt nicht die Rolle, die das Interview glauben macht. Es ist eine m.E. eine klassische historische Biographie, mit einem 200'seitigen Anmerkungsapparat.

Die dort konstatierte narzzistische Persönlichkeitsstörung verwendet Peter Longererich, um die "gefühlsbetonte" Abhängigkeit Goebbels von der Gunst des "Führers" erklären zu können. Ich bin kein Psychologe und würde dieses Buhlen um die Gunst des "Führers" eher als Hofmechanismus bezeichnen wollen.

Fazit: Eine sehr gute Biographie und daher lesenswert.

M.
 
Eigentlich nicht verwunderlich, denn so ein psychologischer Ansatz mit Erklärungsmutmaßungen wird aus der Natur der Sache immer spekulativ bleiben und dem "belegorientiertem" Historiker immer Bauchschmerzen verursachen.
Das ist eben genau das Problem. Bei Verstorbenen kann man eben nur mutmaßen, testen geht ja nun nicht mehr und über die wenigsten liegen entsprechende Gutachten oder auch nur derart persönliche Aufzeichnungen vor, dass man wirklich etwas aussagen könnte. Wichtig ist - zumindest aus psychologischer Sicht - dass man nur Hypothesen betrachtet und keine Behauptungen platziert, die de facto nicht belegt werden können (auch Psychologen sind belegorientiert :winke:). Leider geht da so einiges drunter und drüber, wenn man sich die ein oder andere Veröffentlichung anschaut.

Der psychologische Ansatz, der in dem Interview so betont wird, spielt nicht die Rolle, die das Interview glauben macht.
Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Eines meiner Steckenpferde ist allerdings der Erklärungs"zwang" - insbesondere von grausamen Verbrechen - mittels psychologioscher Erkenntnisse (oder das was man dafür hält), dementsprechend gab es bei mir durch das Interview einen verschärften "haben-muss"-Reflex. Wäre der Bezug im Interview nicht hergestellt worden, wäre das Buch eher Kategorie, "ja, les ich... irgendwann" gewesen.

Die dort konstatierte narzzistische Persönlichkeitsstörung verwendet Peter Longererich, um die "gefühlsbetonte" Abhängigkeit Goebbels von der Gunst des "Führers" erklären zu können. Ich bin kein Psychologe und würde dieses Buhlen um die Gunst des "Führers" eher als Hofmechanismus bezeichnen wollen.
Kommt auf die zugrunde liegende Methodik an. Grundsätzlich kann man aber viel konstruieren wenn man denn will und entsprechend unsauber arbeitet.

Seine Himmler-Biographie ist jedenfalls erstklassig, und die hatte immerhin über 1000 Seiten.

Fazit: Eine sehr gute Biographie und daher lesenswert.
Für mich liest sich das Interview durchaus als gute Literaturempfehlung, anderenfalls hätte ich mir die Bio nicht gekauft ;) (die Doktorarbeit die Silesia verlinkt hat, brauche ich beispielsweise ganz sicher nicht :D)
 
Von Goebbels besitzen wir immerhin seine Tagebücher als Innenansicht. Die wird er doch nicht nur geschrieben haben, um sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Er konnte ja nicht ahnen, welches Ende er einmal nimmt - jedenfalls nicht in den 1930ern.
 
Von Goebbels besitzen wir immerhin seine Tagebücher als Innenansicht.
Das stimmt zwar einerseits, allerdings war Goebbels in seinen Tagebuchaufzeichnungen wenig innenansichtig orientiert. Stellenweise lesen sich die Tagebücher wie ein nachträglich geführter Terminkalender (ich kenne sie allerdings nur in Auszügen)

Die wird er doch nicht nur geschrieben haben, um sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Er konnte ja nicht ahnen, welches Ende er einmal nimmt - jedenfalls nicht in den 1930ern.
Ein Selbstdarsteller war er allerdings schon.
 
Das stimmt zwar einerseits, allerdings war Goebbels in seinen Tagebuchaufzeichnungen wenig innenansichtig orientiert.
Seine Intimfeindschaft zu Göring, der sich gern wie ein barocker Potentat aufführte und den er (zu Recht) für unfähig hielt, wird dort allerdings sehr deutlich. Ähnlich war seine Meinung zur Heeresleitung, in seinen Augen eine abgehobene Adelsclique. Er stellte in seinen Betrachtungen Stalins Marschälle dem gegenüber, die er nach Porträtfotos als "aus gesundem Volksholz geschnitzt" bezeichnete. Der einzige deutsche Heerführer, auf den er etwas hielt, war ausgerechnet Ferdinand Schörner, der wegen seiner Standgerichte bei der Truppe berüchtigt war.
Ferdinand Schörner ? Wikipedia
 
...

Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Eines meiner Steckenpferde ist allerdings der Erklärungs"zwang" - insbesondere von grausamen Verbrechen - mittels psychologioscher Erkenntnisse (oder das was man dafür hält), ...

Kommt auf die zugrunde liegende Methodik an. Grundsätzlich kann man aber viel konstruieren wenn man denn will und entsprechend unsauber arbeitet. ...

@Lili

Das keyword in Deinem oben zitierten Posting ist aus meiner Sicht "Erklärungs"zwang"". Immer wenn ich mich mit Psychologen austausche, habe ich Verständnisprobleme, logisch, liegt an mir. Welchen Erklärungszwang meinst Du, den des Biographen oder den des Protagonisten? :S

Die psychologische Methodik kann ich nicht einschätzen, die historische ist lege artis.


M.
 
Von Goebbels besitzen wir immerhin seine Tagebücher als Innenansicht. Die wird er doch nicht nur geschrieben haben, um sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen. Er konnte ja nicht ahnen, welches Ende er einmal nimmt - jedenfalls nicht in den 1930ern.

Ich habe die Tagebücher zu Hause.

Man muss bei denen sehr vorsichtig sein. Zum einen zeigen sie natürlich wie Goebbels getickt hat. Dennoch hat er sie nicht nur für sich geschrieben, sondern ganz klar auch für die Nachwelt. Egal wie es sein Ende aussah.

Es sind gute Quellen, aber auch die man eben sehr genau lesen und sie Quellenkritisch anschauen muss.
 
Seine Intimfeindschaft zu Göring, der sich gern wie ein barocker Potentat aufführte und den er (zu Recht) für unfähig hielt, wird dort allerdings sehr deutlich. Ähnlich war seine Meinung zur Heeresleitung, in seinen Augen eine abgehobene Adelsclique. Er stellte in seinen Betrachtungen Stalins Marschälle dem gegenüber, die er nach Porträtfotos als "aus gesundem Volksholz geschnitzt" bezeichnete. Der einzige deutsche Heerführer, auf den er etwas hielt, war ausgerechnet Ferdinand Schörner, der wegen seiner Standgerichte bei der Truppe berüchtigt war.
Ferdinand Schörner ? Wikipedia
Das mag ja alles sein, nur sagt das nur bedingt etwas über sein Selbstbild aus. Um Schlüsse auf Goebbels Selbstbild zu ziehen, muss man hier schon wieder konstruieren. Zum Selbstbild: Selbstbild ? Wikipedia

Das keyword in Deinem oben zitierten Posting ist aus meiner Sicht "Erklärungs"zwang"".
Ich meine damit eher den allgemein verbreiteten "Zwang" (im psychologischen Sinne ist es keiner daher "") besonders schlimme Verbrechen damit zu erklären, dass die entsprechenden Täter/Protagonisten psychisch nicht gesund sind/waren. Gerade im Zusammenhang mit dem Dritten Reich ist das sehr verbreitet.

Immer wenn ich mich mit Psychologen austausche, habe ich Verständnisprobleme, logisch, liegt an mir.
Zur Goebbels-Betrachtung bemühe ich mich, verständlich zu sein und gehe auch gerne detaillierter auf die entsprechende Methodik ein, versprochen. Ansonsten einfach fragen :winke:
 
Ich habe die Tagebücher zu Hause.

Man muss bei denen sehr vorsichtig sein. Zum einen zeigen sie natürlich wie Goebbels getickt hat. Dennoch hat er sie nicht nur für sich geschrieben, sondern ganz klar auch für die Nachwelt. Egal wie es sein Ende aussah.

Es sind gute Quellen, aber auch die man eben sehr genau lesen und sie Quellenkritisch anschauen muss.

Ich habe leider nur eine Taschenbuchausgabe betr. die letzten Kriegsmonate, ausführliches Vorwort von R. Hochhuth. Dass man sie kritisch sehen und genau lesen sollte, versteht sich von selbst.
 
Ich habe die Tagebücher zu Hause.

Man muss bei denen sehr vorsichtig sein. Zum einen zeigen sie natürlich wie Goebbels getickt hat. Dennoch hat er sie nicht nur für sich geschrieben, sondern ganz klar auch für die Nachwelt. ...

@ursi

D'accord. Wenn man es genau besieht, hat er hinsichtlich historischer Präsenz auch nichts falsch gemacht mit seinen TB. Wie präsent ist Daluege, Bouhler, Best oder gar Graf Schwerin von Krosigk usw. Das wir uns mit seinen TB befassen, vllt. ein später Sieg im Hofmechanismus der Verbrecher.

M.
 
@ursi

D'accord. Wenn man es genau besieht, hat er hinsichtlich historischer Präsenz auch nichts falsch gemacht mit seinen TB. Wie präsent ist Daluege, Bouhler, Best oder gar Graf Schwerin von Krosigk usw. Das wir uns mit seinen TB befassen, vllt. ein später Sieg im Hofmechanismus der Verbrecher.

M.

Bei Tagebüchern ist es immer sehr schwer herauszufinden für wen sie geschrieben wurden. Es gibt ja solche die wurden bewusst für die Nachwelt verfasst und andere die kamen zufälligerweise an die Öffentlichkeit.

Wenn man die Tagebücher von Goebbles liest, dann erkennt man schon welche Einträge für ihn persönlich sind, zum Beispiel sein Verhältnis und Streit mit seiner Frau und solche die er für die Nachwelt aufgeschrieben hat. Sie zeigen aber auch wie er Hitler "geliebt" hat. Sie bringen schon viel wenn man die Psyche von ihm genauer untersuchen will.

Wir müssen aber beim Lesen der Tagebücher immer vor Augen haben, dass wir heute mehr wissen und nicht unser Wissen in die Tagebücher hineininterpretieren. Was nicht immer einfach ist.
 
Wenn ich die Anmerkung von Heiber zu der frühen Ausgabe der Tagebücher 1925/26 richtig im Kopf habe, so habe Goebbels die Tagebücher "gemäßigt" geschrieben in der Absicht, später daraus eine Geschichte des Dritten Reiches herauszugeben. Er soll sie auch als Altersversorgung angesehen haben.

Wenn das stimmt, wäre Vorsicht angebracht.
 
Wenn ich die Anmerkung von Heiber zu der frühen Ausgabe der Tagebücher 1925/26 richtig im Kopf habe, so habe Goebbels die Tagebücher "gemäßigt" geschrieben in der Absicht, später daraus eine Geschichte des Dritten Reiches herauszugeben. Er soll sie auch als Altersversorgung angesehen haben.

Wenn das stimmt, wäre Vorsicht angebracht.

Ja einige der Eintragungen sollten nach dem "Endsieg" veröffentlicht werden.

Bei seinen frühen Eintragungen kommt auch immer wieder sein literaturwissenschaftliches Studium hervor. Schliesslich wollte er ja mal Dramen und Gedichte schreiben.
 
...

Ich meine damit eher den allgemein verbreiteten "Zwang" (im psychologischen Sinne ist es keiner daher "") besonders schlimme Verbrechen damit zu erklären, dass die entsprechenden Täter/Protagonisten psychisch nicht gesund sind/waren. Gerade im Zusammenhang mit dem Dritten Reich ist das sehr verbreitet.


Zur Goebbels-Betrachtung bemühe ich mich, verständlich zu sein und gehe auch gerne detaillierter auf die entsprechende Methodik ein, versprochen. Ansonsten einfach fragen :winke:

@Lili

Eine psychische Erkrankung/Störung beinhaltet eine Exculpierung, sowohl im strafrechtlichen als auch im moralphilosohischen Sinne. Wahrscheinlich litt Martin Sommer an einer psychischen Erkrankung/Störung, aber Kaltenbrunner, Schellenberg, Pohl oder um die unteren Machtebenen zu bedienen, ein Dr. Konrad Morgen, doch wohl eher nicht.

Die Gefahr einer psychologisierenden Geschichtsbetrachtung ist m.E., abgesehen von der schwierigen quellenkritischen Würdigung und der Nachvollziehbarkeit (darauf hast Du hingewiesen), daß damit pathologische Kategorien in die Geschichte eingeführt werden könnten.

Ein aus meiner Sicht hochkomplexes und schwieriges Gebiet.


M. :friends:


P.S.: ursi, in bezug auf die TB hast Du m.E. recht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine psychische Erkrankung/Störung beinhaltet eine Exculpierung, sowohl im strafrechtlichen als auch im moralphilosohischen Sinne.
Ja. Hinzu kommt, dass gerade bei den nachträglichen Vermutungen zu psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit dem Dritten Reich die Frage ist, wer entschuldigt wird. Also soll die betrachtete agierende Person "reingewaschen" werden ("der kann ja nix dafür, weil...") oder versucht man die Verbrechen erklärbarer zu machen ("normale Menschen sind dazu gar nicht fähig..."). Je nach dem mit welcher Intention solche nachträglichen Betrachtungen durchgeführt werden, führt das natürlich auch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Wie gesagt, ist das ein Thema, das mich grundsätzlich fesselt, wirklich wissenschaftlich betrachtet habe ich es allerdings nicht.

Wahrscheinlich litt Martin Sommer an einer psychischen Erkrankung/Störung, aber Kaltenbrunner, Schellenberg, Pohl oder um die unteren Machtebenen zu bedienen, ein Dr. Konrad Morgen, doch wohl eher nicht.
Es ist ganz allgemein gesprochen, sogar sehr wahrscheinlich, dass das absolute Gros der NS-Protagonisten geistig absolut gesund war. Allerdings ist die Psychologie eine derart nette Wissenschaft, dass man mittels ein paar Auslassungen, Umgewichtungen und etwas freieren Interpretationen jeden irgendwie "bekloppt" kriegt, deswegen ist es auch so wichtig absolut sauber zu arbeiten und sich nicht in irgendwelche Tatsachenbehauptungen zu verrennen, die sich nicht eindeutig verifizieren oder falsifizieren lassen.

Die Gefahr einer psychologisierenden Geschichtsbetrachtung ist m.E., abgesehen von der schwierigen quellenkritischen Würdigung und der Nachvollziehbarkeit (darauf hast Du hingewiesen), daß damit pathologische Kategorien in die Geschichte eingeführt werden könnten.
Dabei kommt es mE eben darauf an wie und warum entsprechende Betrachtungen vorgenommen werden und wie sie genutzt werden (können).

Ein aus meiner Sicht hochkomplexes und schwieriges Gebiet.
Definitiv, allerdings auch sehr interessant.
 
Zwischenzeitlich kam die Biografie an und nachdem es mir direkt beim Lesen des Prologs regelrecht die Haare aufgestellt hat ob der Behauptungen, die dort getroffen wurden, habe ich die Bio mal eben schnellgelesen um sie jetzt noch mal richtig zu lesen (mit dem richtig lesen bin ich allerdings noch nicht fertig) und: Melchior hat recht! Das Interview wird Longerichs Biografie nicht gerecht. Der psychologische Fokus, der in dem Interview herausgehoben wird, spielt in dem Buch keinesfalls eine derartig herausgehobene Rolle, es handelt sich um eine klassische historische Biografie, die sich ganz wunderbar liest und die ich an der Stelle gerne jedem Interessierten weiterempfehlen möchte.

Auf die wenigen psychologischen Aussagen, zu denen sich Longerich hinreißen lässt, möchte ich dennoch eingehen, weil ich doch der Ansicht bin, dass man auch oder gerade derartig nebenbei behauptetes nicht unkommentiert stehen lassen sollte. Ich gebe mir dabei wie versprochen die größte Mühe verständlich zu sein, wenn nicht, einfach schreien.

Die gesamte Lektüre hindurch fällt auf, dass Longerich psychologisches Fachvokabular nutzt, allerdings nicht begrifflich sauber, was aber eher der Tatsache geschuldet ist, dass viele Fachausdrücke der Psychologie Eingang in die Umgangssprache gefunden haben. So spricht er beispielsweise von Depressionen oder bezeichnet Goebbels als Narzisst. Grundsätzlich hat aber ein Narzisst nicht automatisch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Auch ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung nicht synonym zu einer narzisstischen Persönlichkeitstruktur, nichts desto trotz verwendet Longerich diese Begriffe synonym. Ich erspare es mir aber hier jedes auftauchen des Ausdrucks "Narzisst" aufzuführen, da ich unterstelle, dass Longerich hier eben keine psychologische Aussage treffen wollte, sondern schlicht Goebbels beschreibt, weswegen ich die Verwendung des Ausdrucks durchaus angemessen finde.

Bevor ich jetzt auf Longerichs "Gutachten" eingehe, noch kurz etwas zu der von ihm verwendeten Literatur im Zusammenhang mit seinen Aussagen zur Psyche Goebbels. Er verweist zum einen auf Claus-Ekkehard Bärsch "Der junge Goebbels – Erlösung und Vernichtung" aus dem Jahr 1995, wozu er in der Quellenkritik kurz schreibt, dass die
Longerich - S. 699 schrieb:
Untersuchung von Claus-Ekkehard Bärsch über den jungen Goebbels ist ein eigenwilliges und gleichzeitig außerordentlich anregendes Buch, das, insbesondere was die narzisstische Grundstruktur Goebbels’, seine Gottsuche (einschließlich des Versuchs der Selbstdivinierung) sowie sein Mutter- und Frauenbild anbelangt, als grundlegend beizeichnet werden muss, auch wenn Bärsch zur Zeit der Veröffentlichung seines Buches wichtige Teile der frühen Tagebücher noch nicht kennen konnte.
Zu Bärsch muss noch erwähnt werden, dass er Religionspolitologe ist, also auch nicht unbedingt eine fachliche Instanz zum Fällen eines psychologischen Urteils darstellen muss. Sein von Longerich zitiertes Werk kenne ich allerdings nicht.
Zum anderen verweist er auf Peter Gathmann/Martina Paul "Narziss Goebbels – eine psychohistorische Biographie" aus dem Jahr 2009, welches er in der Quellenkritik enorm verreißt (warum zitiert er dann daraus?):
Longerich - S. 699f schrieb:
Das Buch des Psychoanalytikers Pater Gathmann und der Autorin Martina Paul, "Narziss Goebbels", hätte die Chance geboten, Bärschs Überlegungen weiterzuführen. Doch als Biographie ist das Buch schon deswegen untauglich, weil es auf einer völlig inakzeptablen Quellengrundlage beruht: unverständlich bleibt insbesondere die Vernachlässigung der 2006 abgeschlossenen Tagebuchedition und die nahezu vollständige Ignorierung der einschlägigen historischen Literatur, während die Autoren gleichzeitig in hohem Maße den dubiosen Erinnerungen von ehemaligen Goebbels-Mitarbeitern und den Kolportagen der älteren Literatur vertrauen. Die unzähligen banalen Fehler, falschen Datierungen, Verwechslungen und erratischen Quellenangaben (wie zum Beispiel "ZDF") lassen die Lektüre zum Ärgernis werden.
Ok, Gathmann ist Psychiater (kein Psychoanalytiker :motz:), ein renommierter sogar, nach seiner psychohistorischen Begutachtung des Kronprinzen Rudolf habe ich mir aber geschworen nie mehr wieder eines seiner Hobbybüchlein zur Begutachtung historischer Persönlichkeiten zu lesen, weil er zwar nicht in psychologischer Hinsicht schlampig arbeitet, dafür aber in historischer. Longerichs Kritik glaube ich daher auch ohne Gathmanns "Werk" dazu lesen zu müssen (ich frage mich aber immer noch, wieso um alles in der Welt Longerich dann trotzdem daraus zitiert – mit den falschen Quellen können doch auch nur die falschen Schlüsse gezogen werden, oder?)
In der Danksagung erwähnt Longerich zudem eine Hamburger Psychoanalytikergruppe, mit der er diskutiert habe und die ihm wichtige Anhaltspunkte zu Goebbels Persönlichkeitsstruktur gegeben habe. Leider hat ihm die erwähnte Gruppe aber wohl nicht mitgeteilt, dass man bei psychologischen Begutachtungen Toter lediglich spekulieren, nicht aber behaupten kann. Aber gut, kommen wir zu den Behauptungen zunächst direkt zu dem Haare Aufsteller aus dem Prolog:
Longerich - S. 12 schrieb:
Joseph Goebbels war ein Mensch, den zeitlebens ein außergewöhnlich starkes Bedürfnis nach Anerkennung durch andere antrieb, der regelrecht süchtig war nach der Bewunderung durch seine Mitmenschen. Diese Sucht war im Grunde genommen nicht wirklich zu befriedigen. Sie zeigte sich etwa darin, dass der Propagandaminister und Herr über die Öffentlichkeit des "Dritten Reiches" nach jahrelanger Tätigkeit immer noch enthusiastisch freute, wenn seine Reden in dem von ihm kontrollierten Medien groß herausgestellt und anerkennend kommentiert wurden. Solche "Erfolge" vermerkte er regelmäßig in seinem Tagebuch.
Die Sucht nach Anerkennung und sein in jungen Jahren schon stark entwickelter Drang nach Größe und Einmaligkeit, seine megalomanen Phantasien über seine künftige Rolle in der Welt, seine Arroganz und sein Hochmut, sein Mangel an Empathie und sein Hang, persönliche Beziehungen eiskalt auszunutzen, einerseits und auf der anderen Seite die Bereitschaft, sich einer vermeintlichen größeren Persönlichkeit bedingungslos unterzuordnen, und nicht zuletzt seine Depressionsschübe, die dann einsetzen, wenn die erwarteten außerordentlichen Erfolge ausblieben – damit sind alle wesentlichen Kriterien erfüllt, die nach dem heutigen Stand der Psychoanalyse eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit charakterisieren.
Und weiter:
Longerich - S. 12 schrieb:
Ohne Zweifel war die narzisstische Sucht nach Anerkennung der wesentliche Antrieb für Goebbels Karriere. Ihre vorrangigen Merkmale – Selbstüberschätzung, ratlose Arbeitswut, bedingungslose Unterwerfung unter ein Idol, Geringschätzung anderer menschlicher Beziehungen und die Bereitschaft, sich im Interesse der eigenen Sache über allgemein anerkannte moralische Normen hinwegzusetzen – lassen sich als Konsequenz dieser Sucht ausmachen.
Bevor ich diese beiden Zitate gleich en detail zerpflücke, möchte ich zunächst erklären, was denn nun eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ausmacht. Charakteristisch ist zunächst ein grandioses Selbstbild sowie die Einzigartigkeit der Fähigkeiten der betroffenen Person. Zudem phantasieren die Betroffenen von absolut grandiosen Erfolgen, sie fordern andauernde Aufmerksamkeit und Bewunderung und sind davon überzeugt nur von besonderen elitären Menschen wirklich verstanden zu werden. Sie haben kaum soziale Beziehungen, da diese regelmäßig nach kurzer Zeit aufgrund mangelnder Empathie, Neid und Arroganz in die Brüche gehen. Zudem beuten die Betroffenen ihr Umfeld aus, sind nur auf ihren Vorteil bedacht, stellen Ansprüche und erwarten Vergünstigungen ohne zu Gegenleistungen bereit zu sein (abgesehen von der mangelnden Empathie wurden diese Symptome durch Ronnigstam &Gunderson empirisch belegt). Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist allerdings nicht separat im ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) gelistet, da die Symptome zu unterschiedlich sind.
Lediglich eine Vermutung ist bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung das dahinter steckende schwache Selbstwertgefühl. Betroffene mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung suchen sich auch nur dann ein Ideal (in aller Regel sind sie ja selbst der Tollste), wenn sie von sich selbst enttäuscht sind.

So und jetzt zerpflücke ich mal: Jeder Mensch hat zunächst mal ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung, dieses Bedürfnis ist daher auch für jeden Antrieb. Das ist per se also alles andere als abnorm. Auch Goebbels "Sucht" nach der Bewunderung durch andere spricht noch lange nicht für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, erst recht nicht im Zusammenhang mit dem als Beleg angeführten Beispiel, schließlich verfolgte Goebbels mit seinen Tagebüchern einen eindeutigen Zweck, den auch Longerich herausarbeitet, nämlich seine Tagebücher der Nachwelt als historische Quelle zu hinterlassen, daher würde ich das Erwähnen des Erfolgs seiner Reden eben eher auch in diesem Zusammenhang sehen. Ganz davon abgesehen lässt sich ein Narzisst nicht von jedem bewundern und nicht jede Bewunderung ist ihm wichtig. Den "in jungen Jahren schon stark entwickelter Drang nach Größe und Einmaligkeit" belegt Longerich leider nicht näher sondern konstatiert nur, genauso wie "seine megalomanen Phantasien über seine künftige Rolle in der Welt". Auch die Charakterzüge von Arroganz und Hochmut finde ich bei der Lektüre von Longerich bei Goebbels zwar hin und wieder, aber nicht in einer pathologischen Häufung (vielleicht tue ich das aber noch, wenn ich das Buch vollständig richtig gelesen habe). Einen Mangel an Empathie kann ich bei Goebbels nicht feststellen, genauso wenig einen Hang persönliche Beziehungen eiskalt auszunutzen. Vielmehr hat er – völlig konträr zum Bild der narzisstischen Persönlichkeitsstörung – viele und enge persönliche Beziehungen, zeigt Mitleid, insbesondere wenn es darum geht, eine Beziehung zu beenden. Er erhält mehr als nur einmal eine Beziehung aus Mitleid aufrecht. Depressionen sind zudem auch nicht typisch für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Betroffene sind nicht deprimiert, wenn sie mit sich selbst nicht zufrieden sind, sie werden zum Borderliner, haben Wutausbrüche und Hassanfälle, aber sicher keine Depressionen. Damit sind also alles andere als "alle wesentlichen Kriterien erfüllt, die nach dem heutigen Stand der Psychoanalyse eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit charakterisieren." Und noch mal: nicht Psychoanalyse! Psychologie! Und jetzt mal kurz Tante Wiki zur Psychoanalyse:
Der Begriff "Psychoanalyse" steht sowohl für das auf Freuds Theorien über die Psychodynamik des Unbewussten gegründete Beschreibungs- und Erklärungsmodell der menschlichen Psyche als auch für die psychoanalytischen Therapien – eine Gruppe von Verfahren zur Behandlung innerer und zwischenmenschlicher Konflikte – sowie für die psychoanalytische Methodik, die sich auch mit der Untersuchung kultureller Phänomene beschäftigt. In allen drei Aspekten wird die Psychoanalyse bis heute von Klinikern und Forschern weiterentwickelt und verändert; so ist die moderne Psychoanalyse durch einen theoretischen, methodischen und therapeutischen Pluralismus charakterisiert. Die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse ist jedoch umstritten.
Die Psychoanalyse ist nur ein Teilgebiet der Psychologie – so man denn will. Ich spreche doch auch nicht von einem Mediävisten wenn ich einen Chronologiekritiker meine, der einen Aufsatz über irgendwelche erdichteten Jahrhunderte geschrieben hat. (Jetzt dürfte auch klar sein, wie ich zur Psychoanalyse stehe :fs:)
 
Zurück
Oben