Die Vorstellung vom Totenreich

springsiedler

Neues Mitglied
Liebe Leute,
bin absoluter Laie aber sehr interessiert an den Geschichten um das alte Ägypten.
Ich verfolge gespannt im TV die diversen Ausgrabungen und Erklärungen.
Es stellen sich einige Fragen die ich gerne an Euch richten möchte:

Woher habe diese Leute Ihre Kenntnis, ihr Wissen oder ihre Vorstellungen vom
" Leben " nach dem Tod ( Es wird ja teilweise ganz minutiös beschrieben was der Tote danach zu tun hat ).
Überlieferrung ? Wenn ja von wem ? Oder nur Fantasie ?

Bin für jede Erklärung dankbar,
liebe Grüße,
springsiedler
 
Servus Ravenik,
deiner Antwort entnehme ich, dass ich mich möglicherweise mißverständlich ausgedrückt habe.

Mit " Woher habe diese Leute ...... " meinte ich nicht die heutigen Wissenschafter und Ägyptologen
sondern ich wollte wissen woher die alten Ägypter diese Weisheiten hatten.
 
Also anders gefragt: Wie entstehen Mythen?
In einer vormodernen* Welt, wo ein Wesen, wie der Mensch, das begabt ist, Hypothesen zu bilden (und sich Geschichten auszudenken) aber die zugängliche Information nur spärlich ist, da werden Hypothesen. Ängste und Wünsche zu Geschichten verwoben.
Wir Menschen haben ja oft, vor allem, wenn wir noch jünger sind, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Vergessenwerden und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich uns. Das haben viele Religionen mit der Idee der Wiedergeburt oder andere mit der mit dem Leben nach dem Tod/in einer anderen, im besten Falle besseren Welt erklärt, andere mit der Glückseeligkeit im ewigen Nirvana.
In auffällig vielen Kulturen - ob nun in der Megalithkultur oder in andinen Kulturen - spielt die aufgehende Sonne eine Rolle im Bestattungswesen: Entweder werden die Toten mit dem Gesicht zur aufgehenden Sonne bestattet, oder der Grabeingang ist dorthin ausgerichtet. Das wird naheliegenderweise - in Varianten - als Glauben an ein Leben nach dem Tode interpretiert, so wie die Sonne jeden Abend "stirbt" und am folgenden Morgen "wiedergeboren" wird. Wir können also mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, auch wenn wir von den Kulturen keine schriftliche Hinterlassenschaften haben, dass sie glaubten, dass es ein Leben nach dem Tode oder eine Wiedergeburt oder etwas dergleichen gab (ob in dieser oder einer anderen Welt).
Im Islam und im Christentum wandelt sich die Orientierung von der Sonne weg hin zu Jerusalem und Mekka, obgleich westliche Kirchen nach wie vor geostet sind (meist auf den Sonnenaufgangspunkt des jeweiligen Patroniziums).
Rituale, Mythen etc. sind nicht von jetzt auf gleich da. Sie entwickeln sich. Sie entspringen - ich spreche jetzt über den Umgang mit dem Tod, das gilt aber auch für andere Lebensbereiche - dem Bedürfnis, der Angst vor dem Tode/Vergessenwerden/der Sinnlosigkeit des Seins zu begegnen und dem Trauer- und Abschiedsbedürfnis der Angehörigen, sie entwickeln sich im Laufe der Jahre und Jahrhunderte.
Ich merke bei mir immer wieder, dass ich Dinge "weiß", die meine Eltern mir als Kind erzählt haben und dann irgendwann hinterfrage, z.B. wenn ich einen historischen Sachverhalt hier im Forum anführen möchte: Stimmt das überhaupt? Ist das wiedergabefähig?!
Meine Eltern haben mir diese Dinge selber in der Überzeugung erzählt, dass die so wären, aber das stimmt ja dann nicht automatisch.
Jetzt versetz dich 8000 Jahre zurück. Ein kleines Kind fragt seine Eltern nach dem Tod eines Angehörigen und die erzählen ihm eine Geschichte, die das Kind versteht. Andere Kinder der Gemeinschaft hören das auch und die übrigen Erwachsenen nicken zustimmend. Eine Generation später ist diese Geschichte wahr und wird in das Trauer- und Abschiedsritual mit eingebaut. 3000 Jahre später hast du dann im Alten Ägypten eine elaborierte und komplexe Totenmythologie, eben eine Mischung aus den Ängsten, Sorgen und Wünschen der Menschen mit ihren Beobachtungen (diese Tiere können fliegen, diese Tiere sind gefährlich, diese Tiere fressen Aas, diese Schlange ist giftig, aber auch eine gute Mäusefängerin...)

Wir sind erzählende Affen.

*Eigentlich funktioniert das auch heute in unserer postmodernen Welt noch genauso, man muss sich nur ansehen, wie sich Verschwörungserzählungen verbreiten und von den Gläubigen selbständig weiterentwickelt werden, ohne dass einer von denen sich am Ende darüber klar ist, dass er an der Mythologie der Verschwörungserzählung aktiv mitgewirkt hat. Letztlich ist das ein aus mangelhafter Information (und einer ordentlichen Portion Verschwörungsgläubigkeit) zusammengesetztes Werk aus nicht hinterfragten Hpyothesen, welche die Welt für den Menschen, der an sie glaubt, erklären sollen.
 
Ergänzen möchte ich noch die Möglichkeit des Religionsstifters, also dass eine Person gezielt (neue) Glaubensinhalte formuliert, in der Absicht, damit eine Religion zu reformieren oder gar neu zu schaffen. Auch wenn sie in der Regel auf älteren Vorstellungen aufbaut, kann sie damit doch neues Gedanken- und Glaubensgut schaffen, wenn es ihr gelingt, Menschen (etwa durch ihr Charisma) zu überzeugen.

Aus dem alten Ägypten ist uns zwar kein solcher Religionsstifter bekannt (wenn man einmal von Echnaton mit seiner kurzlebigen Betonung des Aton-Kults als einer Art Henotheismus absieht; und abgesehen vom erst in hellenistischer Zeit gezielt kreierten Serapis-Kult), aber ich würde nicht ausschließen, dass es solche Personen gab (etwa bereits in vorgeschichtlicher Zeit, oder sie sind uns einfach nicht überliefert). Ich denke dabei jetzt nicht an eine Neuerschaffung der ganzen Religion, aber z.B. wesentlicher Aspekte. Z.B.: Irgendein Osiris-Priester möchte die Verehrung seines Gottes stärken (das kann aus durchaus eigennützigen Motiven geschehen sein, etwa um die Bedeutung seines Tempels zu erhöhen und ihm mehr Einkünfte zu verschaffen) und behauptet daher, Osiris würde im Totenreich eine total wichtige Rolle spielen, und schmückt das auch prächtig aus. Wenn er es schafft, die Gläubigen davon zu überzeugen, wäre gezielt ein neuer Mythos geschaffen worden.
 
Ich denke dabei jetzt nicht an eine Neuerschaffung der ganzen Religion, aber z.B. wesentlicher Aspekte. Z.B.: Irgendein Osiris-Priester möchte die Verehrung seines Gottes stärken (das kann aus durchaus eigennützigen Motiven geschehen sein, etwa um die Bedeutung seines Tempels zu erhöhen und ihm mehr Einkünfte zu verschaffen) und behauptet daher, Osiris würde im Totenreich eine total wichtige Rolle spielen, und schmückt das auch prächtig aus. Wenn er es schafft, die Gläubigen davon zu überzeugen, wäre gezielt ein neuer Mythos geschaffen worden.
Ist es nicht tatsächlich so, und zwar sehr häufig? Es sind hier eben - wie du schon sagst - mit den zwei Ausnahmen keine konkreten Personen bekannt, und die These ist durchaus diskussionswürdig, aber ich würde mal sagen: Die teils doch sehr unterschiedlichen Lokalreligionen der einzelnen Orte, Städte und Regionen mit von Ort zu Ort völlig verschiedenen Gottheiten - ob nun ganz andere Gottheiten oder derselbe Name mit ganz anderer Belegung - sind die Ergebnisse solcher Religionsstifter. Nicht vollständig, vieles hat sich aus sich heraus entwickelt, das ist klar. Aber zumindest in einigen Städten, in denen Lokalkulte ganz groß gemacht werden, dürfte eine Person mit entsprechenden Absichten dahinterstecken.

Ein Beispiel, das mir noch einfällt, das (ohne dass konkrete Personen bekannt wären) auch von den Ptolemaiern ausgegangen sein könnte, zumindest stammt es aus ihrer Zeit: In Hermopolis haben wir schon deutlich früher die Achtheit, in verschiedenen Varianten, die für Schöpfung etc. verantwortlich sind, natürlich steht Hermopolis dabei im Mittelpunkt. Einer von vielen Lokal-Schöpfungsmythen des Neuen Reiches.
Nun gibt es ptolemaische Texte, die religionsstiftend(!) diese miteinander verbinden - mit dem Ziel, die Achtheit herauszuheben und über alle anderen Schöpfungsmythen zu stellen, gleichzeitig aber Einigkeit herzustellen. Ein einziger Glaube. Wer auch immer diese Texte geschrieben bzw. schreiben gelassen hat, ist für mich auf jeden Fall ein Religionsstifter.

P.s.: Eine Zusammenfassung jener ptolemaischen Texte liefere ich in den nächsten Tagen noch nach, aber gerade schaffe ich es zeitlich nicht mehr.
 
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