Also anders gefragt: Wie entstehen Mythen?
In einer vormodernen* Welt, wo ein Wesen, wie der Mensch, das begabt ist, Hypothesen zu bilden (und sich Geschichten auszudenken) aber die zugängliche Information nur spärlich ist, da werden Hypothesen. Ängste und Wünsche zu Geschichten verwoben.
Wir Menschen haben ja oft, vor allem, wenn wir noch jünger sind, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Vergessenwerden und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich uns. Das haben viele Religionen mit der Idee der Wiedergeburt oder andere mit der mit dem Leben nach dem Tod/in einer anderen, im besten Falle besseren Welt erklärt, andere mit der Glückseeligkeit im ewigen Nirvana.
In auffällig vielen Kulturen - ob nun in der Megalithkultur oder in andinen Kulturen - spielt die aufgehende Sonne eine Rolle im Bestattungswesen: Entweder werden die Toten mit dem Gesicht zur aufgehenden Sonne bestattet, oder der Grabeingang ist dorthin ausgerichtet. Das wird naheliegenderweise - in Varianten - als Glauben an ein Leben nach dem Tode interpretiert, so wie die Sonne jeden Abend "stirbt" und am folgenden Morgen "wiedergeboren" wird. Wir können also mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, auch wenn wir von den Kulturen keine schriftliche Hinterlassenschaften haben, dass sie glaubten, dass es ein Leben nach dem Tode oder eine Wiedergeburt oder etwas dergleichen gab (ob in dieser oder einer anderen Welt).
Im Islam und im Christentum wandelt sich die Orientierung von der Sonne weg hin zu Jerusalem und Mekka, obgleich westliche Kirchen nach wie vor geostet sind (meist auf den Sonnenaufgangspunkt des jeweiligen Patroniziums).
Rituale, Mythen etc. sind nicht von jetzt auf gleich da. Sie entwickeln sich. Sie entspringen - ich spreche jetzt über den Umgang mit dem Tod, das gilt aber auch für andere Lebensbereiche - dem Bedürfnis, der Angst vor dem Tode/Vergessenwerden/der Sinnlosigkeit des Seins zu begegnen und dem Trauer- und Abschiedsbedürfnis der Angehörigen, sie entwickeln sich im Laufe der Jahre und Jahrhunderte.
Ich merke bei mir immer wieder, dass ich Dinge "weiß", die meine Eltern mir als Kind erzählt haben und dann irgendwann hinterfrage, z.B. wenn ich einen historischen Sachverhalt hier im Forum anführen möchte: Stimmt das überhaupt? Ist das wiedergabefähig?!
Meine Eltern haben mir diese Dinge selber in der Überzeugung erzählt, dass die so wären, aber das stimmt ja dann nicht automatisch.
Jetzt versetz dich 8000 Jahre zurück. Ein kleines Kind fragt seine Eltern nach dem Tod eines Angehörigen und die erzählen ihm eine Geschichte, die das Kind versteht. Andere Kinder der Gemeinschaft hören das auch und die übrigen Erwachsenen nicken zustimmend. Eine Generation später ist diese Geschichte wahr und wird in das Trauer- und Abschiedsritual mit eingebaut. 3000 Jahre später hast du dann im Alten Ägypten eine elaborierte und komplexe Totenmythologie, eben eine Mischung aus den Ängsten, Sorgen und Wünschen der Menschen mit ihren Beobachtungen (diese Tiere können fliegen, diese Tiere sind gefährlich, diese Tiere fressen Aas, diese Schlange ist giftig, aber auch eine gute Mäusefängerin...)
Wir sind erzählende Affen.
*Eigentlich funktioniert das auch heute in unserer postmodernen Welt noch genauso, man muss sich nur ansehen, wie sich Verschwörungserzählungen verbreiten und von den Gläubigen selbständig weiterentwickelt werden, ohne dass einer von denen sich am Ende darüber klar ist, dass er an der Mythologie der Verschwörungserzählung aktiv mitgewirkt hat. Letztlich ist das ein aus mangelhafter Information (und einer ordentlichen Portion Verschwörungsgläubigkeit) zusammengesetztes Werk aus nicht hinterfragten Hpyothesen, welche die Welt für den Menschen, der an sie glaubt, erklären sollen.