"Dissident" im 3. Reich

lebefroh

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Ich ordne und übersetze gerade den Nachlass eines Israelis, der 1938 aus Deutschland geflohen ist. Unter den Unterlagen ist seine Abmeldung bei der polizeilichen Meldebehörde. Er war zuvor in Dachau interniert gewesen, hatte aber, weil seine Mutter die amerikanische Staatsbürgerschaft hatte, ein Visum für Palästina bekommen können. In dem Abmeldeformular gibt es nun folgende Rubrik: "Bezeichnung des religiösen Bekenntnisses (ob Angehöriger einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, gottgläubig oder glaubenslos). Dort ist aber nicht "Jude" eingetragen, sondern "Dissident". Kann jemand damit etwas anfangen? Wieso wurde jemand unter Religion als Dissident bezeichnet? Kann es sein, dass der Betreffende diese Bezeichnung selbst gewählt hat und es den Behörden egal war?
Heute würde ich der Betitelung "Dissident" eine positive Konotation zuschreiben, im Sinne von "jemand der sich gegen eine Regime auflehnt", welche Konotation hatte das Wort damals?
 
Eigentlich bedeutet Dissident, dass jemand vom herrschenden religiösen Glauben (hier dann wohl das Christentum) abweicht. Die Bezeichnung Dissident wäre hier also nicht antisemitisch, sondern eher antijudaistisch.

Wikipedia weiß zur Begriffsgeschichte folgendes:

Der Begriff wurde 1573 in der Warschauer Konföderation für die Protestanten geprägt, die nicht der herrschenden Staatsreligion angehörten. Im 17. Jahrhundert fand er als „Dissenter“ Eingang nach England als Bezeichnung für protestantische Gruppen, die nicht zu einer Integration in die anglikanische Kirche bereit waren. Im 18. Jahrhundert bezeichnet der Begriff diejenigen, die keiner anerkannten, ab dem 19. Jahrhundert jene, die keiner Religionsgemeinschaft angehörten. Auch die Mitglieder der deutschkatholischen Vereine, die sogenannten Deutschkatholiken, sowie die protestantischen Freien Gemeinden, die sogenannten Lichtfreunde, die sich 1856 mit den Deutschkatholiken zum Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands zusammenschlossen, wurden offiziell als Dissidenten bezeichnet. Üblich war der Begriff in Deutschland mindestens bis in die 1930er Jahre.
Das wäre dann ein gewisser Widerspruch zu meiner obigen Überlegung, nämlich, dass der Israeli ein Atheist gewesen ist, die Formulierung also nicht als antijudaistisch zu werten wäre. Ich würde da jetzt eher Wikipedia folgen, aber zuvor noch einmal in einem Konversationslexikon der 30er Jahre.
Bei zeno.org findest du verschiedene Lexika des 19. Jahrhunderts und eins aus dem Hause Meyer von 1905:


Dissidénten (lat., »Getrennte, Außerkirchliche«), diejenigen Personen, die nicht zu der Staatskirche oder doch nicht zu den in einem Staat als vollberechtigt anerkannten Kirchen gehören. Da in den einzelnen Staaten nicht dieselben Religionsgemeinschaften als vollberechtigt anerkannt sind, so können die Angehörigen einer Kirche oder religiösen Sekte in dem einen Staatsgebiet als D. betrachtet werden, während sie in einem andern der privilegierten Kirche angehören. In Deutschland nennt man diejenigen Religionsgesellschaften D., die sich von den drei christlichen Hauptkonfessionen, der katholischen, lutherischen und reformierten, losgesagt haben. Da durch die neuere Gesetzgebung das Prinzip der Toleranz mehr und mehr zur Geltung gelangt ist, so ist heutzutage den dissidentischen Religionsgemeinschaften regelmäßig das Recht der freien und öffentlichen Religionsübung zugestanden, wenn sie auch die Rechte einer Korporation oder juristischen Person nur durch besondere staatliche Verleihung erlangen können. Für das Deutsche Reich begründet in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung die Konfession keinen Unterschied der Behandlungsweise mehr. – Eine besondere historische Bedeutung hat das Wort D. in Polen als Bezeichnung aller polnischen Nichtkatholiken, namentlich der Lutheraner, Reformierten, Griechen und Armenier, mit Ausschluß jedoch der Wiedertäufer, Sozinianer und Quäker. Vgl. Lukasiewicz, Geschichtliche Nachrichten über die D. in Posen (deutsch, Darmst. 1843); Koniecki, Geschichte der Reformation in Polen (Bresl. 187

Demnach würde ich dann doch wieder - eingeschränkt - dem Wort die Möglichkeit einräumen, antijudaistisch gemeint zu sein.
 
Ich kenne den Begriff "Dissident" im Religiösen Umfeld eigentlich nur in Bezug auf Mitglieder der Freikirchen, sowohl Lutherisch wie Altkatholisch.
 
@lebefroh

In dieser Studie der HU/Rewi habe ich den Begriff "Dissident" in der Verwaltungspraxis gefunden:

"Ein aus anderen Gründen bemerkenswerten Fall bildet die Entlassung des Strafrechtlers Max Alsberg.150 Alsberg genoss in der Weimarer Republik einen unangefochtenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ruf. Er führte viele Aufsehen erregende Prozesse, engagierte sich für eine umfassende Strafrechtsreform, verfasste Abhandlungen zur Ethik und Philosophie der Verteidigung und zwei Theaterstücke. Politisch war er u.a. durch seine Verteidigung Carl von Ossietskys aufgefallen, der sich wegen seines Artikels zur verdeckten Aufrüstung des Reiches in der "Weltbühne" wegen Landesverrates verantworten mußte.151 Alsberg lehrte seit 1931 als Honorarprofessor an der Friedrich Wilhelm Universität. Die Frage nach seiner Konfession beantwortete er mit "Dissident". Dem preußischen Wissenschaftsministerium galt er - nach Auswertung seiner Fragebögen - jedoch als "100% nicht-arisch". Er fiel unter keinen der Ausnahmetatbestände des GzWBB und war somit nach § 3 Abs. 1 GzWBB zu entlassen. Folgerichtig stellte Stuckart am 4. September 1933 die Entpflichtungsurkunde für Alsberg aus.152 Um so erstaunlicher ist, dass Stuckart zwei Tage später Rust eine konträre Stellungnahme übermittelte, in der er um Erwägung einer Ausnahme bat: "Nach Ziff. 2 zu § 3 der 3. Durchführungsverordnung153 kann einem planmäßigen Beamten gleichgestellt werden, wer am 1.8.1914 sämtliche Voraussetzungen für die Erlangung seiner ersten planmäßigen Anstellung erfüllt, insbesondere die hierfür erforderliche letzte Prüfung abgelegt und sich während seiner Tätigkeit als Beamter in hervorragendem Maße bewährt hat. Die erste Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn man die Habilitation als erforderliche letzte Prüfung für die Laufbahn des Hochschulprofessors ansieht. Dagegen ist die Voraussetzung der hervorragenden Bewährung m.E. zweifelsfrei gegeben. Alsberg ist ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter und anerkannter Strafrechtler und Strafprozessrechtler. Seine Entlassung würde ganz zweifelsfrei im In- und Ausland größtes Aufsehen erregen. Es ist daher m.E. zu erwägen, ob hier nicht eine Ausnahme gemacht werden kann, indem man die hervorragende Bewährung allein entscheiden läßt."154 Für eine Ausnahme war es jedoch schon zu spät. Der durch die Ereignisse tief gedemütigte Alsberg nahm sich am 11. September 1933, in der Schweiz das Leben155, woraufhin seine Entpflichtung für unwirksam erklärt und die Vernichtung der Reinschrift angeordnet wurde."

Vergl. forum historiae iuris - Hans-Christian Jasch

dort: "Fall Alsberg", Textziffer 71

Wenn man der kruden rassistischen Logik der Nazis folgt, wäre also ein "Dissident", ein nach den Nürnberger Gesetzen als Jude klassifizierter ("rassisch"), der aber nicht dem jüdischen Glauben anhängt.

@Forum

Bitte Quellen- und Interpretationskritik.

M.
 
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Vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten.

Inzwischen habe ich rausgefunden, dass der Vater des Betreffenden 1912 (trotz eindeutige jüdischem Vor- und Nachnamen) auf einem evangelischen Friedhof in Tirol beerdigt wurde und der evangelischen Kirche ein Erbe hinterließ. Es ist also wahrscheinlich, dass der Israeli zumindestens als Kind evangelisch aufwuchs. Klar ist mir jedoch nicht, ob mit "Dissident" die Zugehörigkeit zu einer evangelischen Kirche gemeint war, oder sein Judentum, das für ihn selbst keine Rolle spielte.

Allerdings bin ich fast sicher, dass er den Eintrag "Dissident" selbst gemacht hat, denn es sieht sehr nach seiner Handschrift aus. Das sagt aber natürlich noch nichts darüber aus, ob er die Bezeichnung selbst gewählt hat...
 
@lebefroh,

"Inzwischen habe ich rausgefunden, dass der Vater des Betreffenden 1912 (trotz eindeutige jüdischem Vor- und Nachnamen) auf einem evangelischen Friedhof in Tirol beerdigt wurde und der evangelischen Kirche ein Erbe hinterließ. Es ist also wahrscheinlich, dass der Israeli zumindestens als Kind evangelisch aufwuchs. Klar ist mir jedoch nicht, ob mit "Dissident" die Zugehörigkeit zu einer evangelischen Kirche gemeint war, oder sein Judentum, das für ihn selbst keine Rolle spielte."


von wann ist der Eintrag, wer (welche Institution) war der Initiator des Fragebogens?

M.
 
@melchior

Das Dokument ist von 1938 und ist die Abmeldung bei der polizeilichen Meldebehörde (die also vor einem Umzug ausgefüllt wird)
 
@lebefroh

aus meiner fernen Sicht und mit der gebotenen Vorsicht und unter Einbezug der von Dir gegebenen Hinweise, würde ich zu folgender Interpretation neigen.

"rassisch": Jude (Nürnberger Gesetze)
Religion: nichtjüdisch

Entschuldige bitte die Wortwahl, aber sie ist der Zeit geschuldet.

Ich habe mir die entsprechenden Gesetze und Verordnungen angesehen, es gibt dort prima facie keine Kategorisierung hinsichtlich eines Fragebogens nachgeordneter Meldebehörden.

Reichsbürgergesetz ? Wikipedia

(siehe die Auflistung und Verlinkung am Ende des Artikels)

Meine Meinung/Einschätzung resultiert aus einem Analogieschluss, Posting vom 6.11. ("Fall Max Alsberg" TZ 71) und wird hierdurch gestützt:

"Alsberg entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Er trat aus der jüdischen Gemeinde aus, ohne sich christlich taufen zu lassen. Nach seinem juristischen Studium in München, Berlin, Leipzig und Bonn legte er 1899 das erste juristische Staatsexamen ab. Im November 1906, nachdem er inzwischen auch die große (zweite) juristische Staatsprüfung abgelegt hatte, eröffnete er eine Anwaltspraxis in Berlin. Zuvor hatte er das Angebot eines Lehrstuhls an der Universität Bonn ausgeschlagen."

Quelle: Max Alsberg ? Wikipedia (Abruf: 11.11.2009).

Ich denke, die äußeren Lebensumstände hinsichtlich "Rasse" und Religion sind zwischen Deiner "Person" und Alsberg evident; "Rasse" jüdisch, aber nicht jüdischen Glaubens.

Wenn Dir das sehr wichtig ist, bliebe nur der Gang in das Archiv der Meldebehörde, um dort eventuell entsprechende verwaltungstechnische Ausführungsbestimmungen ("Reichsfluchtgesetz" etc.) zu suchen.

M.

P.S.: Das ist ein äußerst unerquickliches Thema; sollte Dir etwas despektierlich erscheinen - dann hierfür jetzt schon sorry.
 
Noch eine Frage zur Flucht: Ging die vom "angeschlossenen" Österreich aus, oder vom alten Reichsgebiet?
 
Du hattest etwas von Tirol geschrieben. Tirol und '38 verknüpft, klar, dass man da an den sogenannten "Anschluss" denkt.
 
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