Ein bisschen Vorgeschichte(n) italienisch-türkischer bzw. Lybischer Krieg 1911-1912

Die Vorgeschichte(n) des Libyschen Krieges enthält viele Perspektiven; ein paar Gesichtspunkte, die in der einschlägigen wissenschaftlichen Lit. zu diesem Krieg öfter oder fast immer genannt werden, soweit in der kurzen Recherche greifbar, werden unten aufgeführt.

Teil 1

  • Spätestens mit Vollendung der Italienischen Einheit ab 1870 entstanden weit verbreitete Vorstellungen eines neuen Römischen Imperiums als Erbe des antiken Römischen Reiches. Welches u.a. erneut das zentrale Mittelmeer sowie die 'Vierte Küste' direkt gegenüber Süditalien/Siziliens beherrschten sollte, mithin vor allem die Provinz Tunesien des Osmanischen Reiches. Tausende italien. Siedler nahmen dort Land, ließen sich nieder, ital. Firmen dominierten schließlich das Gebiet wirtschaftlich - in zunehmender Konkurrenz mit franz. Firmen und Bestrebungen. Die diplomatisch mit Einverständnis der Großmächte sowie militärisch durchgesetzte franz. Errichtung eines Protektorats 1881 vergiftete über mehr als 10 Jahre das Verhältnis zwischen den franz. und ital. Administrationen, forcierte Roms Beitritt in das Zweierbündis und weckte das Interesse der römischen Administration am einzig noch 'freien' Gebiet unter der formalen Osmanischen Oberherrschaft in Nordafrika, nach antiker römischer Tradition im Königreich Italien 'Libyen' genannt. (Q: Bruce Vandervort, A Military History of the Turco-Italian War (1911-1912) for Libya and its Impact on Italy’s Entry into the First World War, in: Vanda Wilcox (Hrsg.), Italy in the Era of the Great War (2018), S. 14-29, S. 15.)

  • Zuvor hatte der Berliner Kongress 1878 im Nachgang des russ.-osmanischen Krieges diverse informelle Absprachen, formelle Abkommen und weitere, nach Ende des Kongresses fortgesetzte informelle Absprachen bewirkt und eingeleitet hinsichtlich der Neuordnung Europas. ÖU konnte so mit britischer Unterstützung Bosnien besetzen, GB in Übereinkunft mit der osmanischen Regierung Zypern, die tunesische Provinz des Osmanischen Reiches wurde in informellen Gesprächen (GB, auch Dtl.) der franz. Reg. als Einflussgebiet zugebilligt (Nachbarland Algerien war schon länger franz. annektiert worden)

  • Bereits Ende 1884 begannen in Rom ernsthaftere Besetzungs-Planungen für 'Libyen', da die ital. Regierung Bestrebungen der franz. Regierung wahr genommen hatte, nach Tunesien nun auch in Marokko zunehmend Einfluss aufzubauen in Perspektive, dort ebenfalls ein franz. Protektorat zu errichten (Q: Bruce Vandervort, S. 15).
    Womit sie in Konkurrenz mit neuen Ambitionen der ital. Regierungen trat, die ihrerseits auch Marokko als neues lohnenswertes Objekt ital. Einflussnahme gesehen hatte, nach der 'Tunis-Niederlage'.

  • Dass es intensive Bemühungen der franz. Administration hinsichtlich Marokkos gab, war offenkundig und spiegelte sich unter anderem in einer Bemerkung des britischen Premierministers Salisbury während eines Gesprächs mit dem dt. Botschafter in London, Graf Hatzfeldt, im Februar 1887 wider (Telegramm vom 5. Februar 1887, Dt. Botschaft an das Dt. AA in Berlin), in welchem Salisbury meinte, Hatzfeld möge Bismarcks Aufmerksamkeit auf Marokko lenken, und Salisbury habe ganz vertraulich hinzugefügt, daß ein weiteres und ernstliches Vorgehen Frankreichs dort in seinen Augen für England ein Kriegsfall sein würde. (Q: GP 4, S. 303, # 884)
 
Teil 2


  • In dem Zusatzvertrag Dt. Reich-Königreich Italien vom 20. Februar 1887 werden die Ansprüche der ital. Reg. wg. Marokko und Tripolitanien anerkannt. (Q: Alfred Pribram, The secret Treaties of Austria-Hungary 1879-1914, Vol. 1 (London 1920), S. 110-115, S. 114)

  • In der britisch-italienischen Übereinkunft vom 12. Februar 1887 werden die ital. Ansprüche auf die nordafrikanischen Küstengebiete anerkannt, und speziell nochmals in 'Libyen'. (Q: Alfred Pribram, The secret Treaties, S. 96 f.)
    Die Verständigung wird wesentlich von Bismarck gefördert.

  • Dieser britisch-italien. Mittelmeerentente tritt Ende März 1887 die ÖU-Regierung bei, wiederum von Bismarck gefördert.

  • 1900, 1901 und 1902 gab es zw. franz. und ital. Reg. Absprachen/Verständigungen wg. Marokko und Libyen, wobei die ital. Seite die Ansprüche von Paris hinsichtlich Marokko nun anerkennt, Paris umgekehrt jene der ital. Reg. auf Libyen ebenfalls. Vor allem die Visconti Venosta-Barrère Übereinkunft (1901) stellte den Zusammenhang her zwischen einer 'Modifikation' der politischen oder territorialen Integrität Marokkos und einem entsprechenden Recht der ital. Regierung, entsprechend ihren Einfluss in Libyen 'weiter zu entwickeln'. Oder einfacher: Die italien. Regierung ist nur dann frei, nach Libyen zu gehen, nachdem 'Frankreich' nach Marokko gegangen ist. (Q: Timothy Childs, Italo-turkish Diplomacy and the war over Libya 1911-1912, 1990, S. 4 f.).
Was natürlich in der 2. Marokko-Krise 1911 wirksam wurde, nachdem franz. Truppen Teile Marokkos besetzt hatten.​

Die Prinetti-Barrère Erklärung vom 30.6.1902 zwischen ital. und franz. Regierung stellte dann fest, dass beide Parteien unabhängig voneinander in Marokko bzw. ‚Libyen‘ tätig werden können (Q: Timothy Childs, Italo-turkish Diplomacy, S. 6 f.)​


  • In einer Geheim-Erklärung vom 30. Juni 1902 anerkannte die ÖU-Regierung gegenüber der ital. Regierung die Ansprüche der italien. Reg. hinsichtlich Tripolitaniens und der Cyrenaika. (Q: Alfred Pribram, The secret Treaties, S. 233.)

  • in der Geheimübereinkunft/Notenaustausch von Racconigi am 24.10 1909 zw. russ. und italen. Regierung wurden die italien. Ansprüche auf Libyen anerkannt (Q: Timothy Childs, Italo-turkish Diplomacy, S. 10)
 
Zuletzt bearbeitet:
Tausende italien. Siedler nahmen dort Land, ließen sich nieder, ital. Firmen dominierten schließlich das Gebiet wirtschaftlich - in zunehmender Konkurrenz mit franz. Firmen und Bestrebungen.

Hierzu eine kleine Ergänzung:

Die Einwanderung italienischer Auswanderer nach Tunesien hinein und das Aufnehmen wirtschaftlicher Tätigkeiten dort, beginnt eigentlich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch vor der italienischen Einigung.
Angefangen wohl bei Kauf- und Seeleuten aus der Toskana und vor allem den mittelitalienischen Kleinstaaten, mit späterer schwerpunktmäßiger Verlagerung auf armutsbedingte Auswanderung aus den Territorien des Kgr. Beider Sizilien.

Die Vorstellung der "4.Küste" und ihre Entstehung hat auch etwas damit zu tun, dass zum Zeitpunkt der italienischen Einigung, im Besonderen, wenn man diese als Prozess von 1848-1870/1871 auffasst, bereits entsprechende italienische Gemeinden in Tunesien vorhanden waren.
 
Hierzu eine kleine Ergänzung:

Die Einwanderung italienischer Auswanderer nach Tunesien hinein und das Aufnehmen wirtschaftlicher Tätigkeiten dort, beginnt eigentlich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch vor der italienischen Einigung.
Angefangen wohl bei Kauf- und Seeleuten aus der Toskana und vor allem den mittelitalienischen Kleinstaaten, mit späterer schwerpunktmäßiger Verlagerung auf armutsbedingte Auswanderung aus den Territorien des Kgr. Beider Sizilien.

Die Vorstellung der "4.Küste" und ihre Entstehung hat auch etwas damit zu tun, dass zum Zeitpunkt der italienischen Einigung, im Besonderen, wenn man diese als Prozess von 1848-1870/1871 auffasst, bereits entsprechende italienische Gemeinden in Tunesien vorhanden waren.
Jau...stimmt...ich hatte es knapp gehalten. Gut, dies explzit nochmals darzulegen, auch hinsichtlich der später massiv einsetzenden franz. Bemühungen, Einfluss und Dominanz in Tunesien über 'Italien' zu gewinnen, was im franz. Protektorat ab 1881 endete.
 
Die offenkundige nachträgliche Einfügung jenes Memos mit Datum vom 28. Juli 1911 vom damaligen ital. Außenminister San Giuliano, an den ital. Ministerpräsdenten Giolitti und an den ital. König Vittorio Emanuele III. gerichtet, vom bekannten Ende her in eine große Geschichtserzählung, hier bei Clarks I.Weltkrieg-Titel Schlafwandler, verführt verständlicherweise zu 'Kurzschlüssen'. Mit etwas Übung und Erfahrung oder 'wissenschaftlicher Akribie' lösen sich solche Groß-Narrative besonders an den 'Rändern' im Rahmen eigener Recherchen und Bemühungen, dem jeweiligen Thema eine eigene Dynamik und Berechtigung zu geben, gerne mal etwas auf in weitere 'Untergeschichten', die damals keineswegs jeweils notwendig, linear in die vom Ende her bekannte Finalität münden mussten.

Clarks Ausführungen suggerieren - in der deutschen Übersetzung einen Hauch stärker - San Giulianos Verantwortung für den späteren Balkanbund und dessen sehr schnellen und erfolgreichen Krieg ab Oktober 1911 gegen das Osmanische Reich mit allen Folgen und Nachwirkungen hin zum kommenden Weltkrieg aufgrund einer riskanten, fast verantwortungslosen Außenpolitik, die ab Sommer 1911 eine gefährliche, militärisch gestützte Realisierung der ital. Kolonialansprüche in Tripolitanien um fast jeden Preis forcierte. Oder doch nicht? ;-)

Jener Abschnitt im Memo San Giulianos lautet vollständig und im Original:

La ragione principale, per la quale io credo preferibile di evitare la spedizione in Tripolitania è la probabilità (probabilità non certezza) che il colpo, che il successo di tale spedizione darebbe al prestigio dell'Impero Ottomano, spinga all'azione contro di esso i popoli balcanici, entro e fuori dell'Impero, oggi più che mai irritati contro il pazzesco regime centralista giovane-turco, ed affretti una crisi, che potrebbe determinare e quasi constringere l'Austria ad agire nei Balcani.​

(Q: Francesco Malgeri, La Guerra Libica, Roma 1970, Appendice, I.- Documenti: 1. Promemoria del ministro degli esteri Di San Giuliano. S. 385-389, S. 385)

Die Kursivsetzung, und damit Betonung, von non stammt vom Original, also von San Giuliano. Übersetzt via deepl und eigener Tätigkeit:

Der Hauptgrund, warum ich glaube, dass es besser wäre, die Expedition nach Tripolitanien zu vermeiden, ist die Wahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit, nicht Gewissheit), dass der Schlag, den der Erfolg einer solchen Expedition dem Ansehen des Osmanischen Reiches versetzen würde, die Balkanvölker innerhalb und außerhalb des Reiches gegen das Osmanische Reich aufbringen würde, die heute mehr denn je gegen das verrückte jungtürkische zentralistische Regime gereizt sind, und eine Krise beschleunigen würde, die Österreich zum Handeln auf dem Balkan bestimmen und fast zwingen könnte.

Tatsächlich liegt San Giulianos Hauptaufmerksamkeit nun deutlicher bei der ÖU-Administration und deren mögliche Reaktionen und Aktionen auf dem Balkan und besonders hinsichtlich Albanien, einer Osmanischen Provinz, um welche politische Entscheidungs-Kräfte sowohl in Rom wie in Wien konkurrierten.


Was, entgegen vom bekannten Ende her entlang großer Narrative, San Giuliano nicht wissen konnte oder realistischer Weise dabei berücksichtigt hatte, auch wenn es sich irgendwie danach anhört:

  • Bei Abfassung des Memos bestanden innerhalb der neuen Balkanstaaten bedeutende Spannungen, man stand mit den jeweiligen großnationalen Ambitionen und entsprechender Propaganda in erheblicher Konkurrenz untereinander. Serbien und Bulgarien beispielsweise. Eine mögliche Balkanliga, wie ab Frühjahr 1912 entstanden, war im Juli 1911 weder absehbar, erkennbar, noch realistischer Weise erwartbar.
  • Weder war die italienische Militärexpedition nach 'Libyen' als Krieg, gar als längerer Krieg, geplant oder nach üblicher Erfahrung erwartbar. Sie war als militärisch gestützte, schnelle Besetzung geplant und gedacht.
Erst der sich entwickelnde und dann länger fortdauernde Krieg ab Ende Oktober 1911 und die spätestens im Dezember 1911 offenbar werdende Tatsache, dass das Osmanische Reich mit militärischen Mitteln den italienischen Streitkräften in 'Libyen' keine entscheidende Niederlage bereiten konnte oder sie zum Rückzug aus 'Libyen' zwingen konnte, führte ab Dezember 1911 zu gewissen Überlegungen - sowohl bei der ÖU-Regierung wie manchen Balkanstaaten.

Erkennbar wird dies beispielsweise in einem vertraulichen Bericht des GB-Gesandten in Rumänien, Walter Townley, an den britischen Außenminister Edward Grey vom 6. Dezember 1911 u.a.:

Nachdem ich Herrn Maioresco [rumänischer Außenminister, Anm. von mir] gesehen habe, habe ich Ihre Depesche Nr. 13 vom 2. Dezember erhalten, in der Sie mir einen Bericht des Botschafters Seiner Majestät in Wien über eine Unterredung zwischen dem französischen Botschafter und Graf Aehrenthal übermitteln. Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß der König von Rumänien und das Kabinett die von König Ferdinand geäußerte Besorgnis über das, was sich im Frühjahr auf dem Balkan ereignen könnte, wenn sich der türkisch-italienische Krieg in die Länge zieht oder die Türkei ernsthaft in Bedrängnis gerät, voll teilen.

(Q: BD 9,1, S. 519 f., Nr. 529, S. 520.)
 
Soweit bislang übersetzt, folgen nun die weiteren, übersetzten Teile des Memo mit Datum vom 28. Juli 1911 von San Giuliano an den ital. MP Giolitti und den ital. König.

Teil 1

S. 385 (ohne Vorwort):

Die komplizierte internationale und lokale Situation in Tripolitanien veranlasst mich zu der Annahme, dass Italien in einigen Monaten gezwungen sein könnte, eine militärische Expedition nach Tripolitanien zu unternehmen. Es ist notwendig, bei der gesamten Ausrichtung unserer Politik diese Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen, während wir meines Erachtens versuchen, sie zu vermeiden.
Wie ich im Folgenden zeigen werde, bezwecken und bewirken einige der Mittel, die zur Vermeidung einer solchen Maßnahme erforderlich sind, dass der Erfolg erleichtert wird, wenn sie notwendig wird.
Der Hauptgrund, warum ich glaube, dass es besser wäre, die Expedition nach Tripolitanien zu vermeiden, ist die Wahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit, nicht Gewissheit), dass der Schlag, den der Erfolg einer solchen Expedition dem Ansehen des Osmanischen Reiches versetzen würde, die Balkanvölker innerhalb und außerhalb des Reiches gegen das Osmanische Reich aufbringen würde, die heute mehr denn je gegen das verrückte jungtürkische zentralistische Regime gereizt sind, und eine Krise beschleunigen würde, die Österreich zum Handeln auf dem Balkan bestimmen und fast zwingen könnte.
Dies würde höchstwahrscheinlich zu Änderungen des territorialen Status quo auf dem Balkan und in der Adria führen, von denen einige den Interessen Italiens wirklich schaden würden und einige von der italienischen Öffentlichkeit als solche - wenn auch zu Unrecht - beurteilt würden.

S. 386:
Dies und die sich daraus ergebenden anti-österreichischen Demonstrationen, vor allem in Oberitalien, würden genau zu dem Zeitpunkt stattfinden, an dem sich Italien, wenn auch nur vorübergehend, auch zu Lande und zur See erheblich geschwächt (und daher in Europa weniger einflussreich und von Österreich militärisch weniger gefürchtet und geschätzt) wiederfindet, denn die Expedition nach Tripolitanien würde mindestens ein Armeekorps und fast die gesamte Flotte erfordern.
In Anbetracht der vorhandenen türkischen Landstreitkräfte in Tripolitanien und der vorhandenen türkischen Seestreitkräfte im Mittelmeer besteht kein Zweifel daran, dass die Expedition nur mit einer so bedeutenden Streitmacht durchgeführt werden darf, dass ihr Erfolg sicher und schnell ist.
Die Notwendigkeit eines schnellen und sicheren Erfolges ist offensichtlich. Ganz Europa muss vor vollendete Tatsachen gestellt werden, bevor dies überhaupt in Frage gestellt werden kann, und die sich daraus ergebende Situation muss in den internationalen Beziehungen rasch gelöst werden.
Frankreich kann sich dem wegen des Abkommens nicht entgegenstellen; England, Österreich und Deutschland werden diesen unseren Akt mit Bedauern sehen, aber sie werden ihn nicht verhindern können, vor allem, wenn er schnell ausgeführt wird.
Ich wiederhole, dass der Hauptgrund, warum ich glaube, dass wir versuchen sollten, einen solchen Akt zu vermeiden, die Furcht vor seinen Rückwirkungen auf die Situation auf der Balkanhalbinsel und in der Adria ist. Es wird vielleicht nicht passieren, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert, ist jetzt so groß, dass es wünschenswert ist, es zu vermeiden.
Abgesehen von diesem überaus gewichtigen Grund sprechen meiner Meinung nach alle außenpolitischen Erwägungen dafür, die Besetzung Tripolitaniens zu forcieren.

Ich werde die wichtigsten davon nennen:
1. Frankreich erfüllt loyal das Abkommen von 1902, hat aber derzeit, da es Marokko noch nicht tunisiert hat, ein Interesse daran, es zu erfüllen. Dieses Interesse Frankreichs endet, wenn es Marokko tunisiert hat, d.h. wenn der für Frankreich günstige Teil des französisch-italienischen Abkommens seinen Zweck bereits erfüllt hat und nur noch der für Italien günstige Teil in Kraft bleibt.
2. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Tunisierung Marokkos, die wahrscheinlich das Ergebnis der derzeitigen deutsch-französischen Verhandlungen sein wird, das Gleichgewicht im Mittelmeerraum zu unseren Ungunsten verändern würde.
3. Wenn wir die Frage von Tripolis vor der Erneuerung des Dreibundes gelöst hätten, wären wir gegenüber unseren Verbündeten in einer besseren Position, um die zu ändernden Vereinbarungen auszuhandeln.
4. Es könnte sein, dass die Alliierten die Auflösung des französisch-italienischen Abkommens von 1902 zur Bedingung für die Erneuerung des Bündnisses machen, was uns in ernste Schwierigkeiten bringen würde, ob wir diese Bedingung nun ablehnen oder akzeptieren. Diese Schwierigkeiten würden sich verringern, wenn vor
[S. 387] der Erneuerung des Bündnisses das französisch-italienische Abkommen beendet würde, und das würde nicht durch unsere Kündigung oder unseren Bruch geschehen, sondern automatisch durch die Tatsache, daß der Gegenstand des Abkommens nicht mehr vorhanden ist, das heißt, daß wir Tripolitanien und Frankreich Marokko bereits eingenommen haben.

Fortsetzung folgt...
 
Soweit bislang übersetzt, folgen nun die weiteren, (via deepl und mir) übersetzten Teile des Memo mit Datum vom 28. Juli 1911 von San Giuliano an den ital. MP Giolitti und den ital. König.

Teil 2

S. 387 weiter:
5. Es wäre auf jeden Fall nützlich für uns, Tripolis besetzt zu haben, bevor der territoriale Status quo auf dem Balkan und in der Adria geändert wird, um zu verhindern, dass unsere Verbündeten Tripolis als Kompensation für eine mögliche territoriale Erweiterung Österreichs betrachten, während wir behaupten, dass die Kompensation im adriatischen Becken selbst liegen muss, und die italienisch-österreichischen Vereinbarungen lassen dies im Ungewissen.
6. In der gegenwärtigen internationalen Lage werden sie nicht auf allzu große politische Hindernisse für die Besetzung Tripolitaniens stoßen, während sie zu einem anderen Zeitpunkt, wenn sie aus anderen Gründen absolut unvermeidlich wird, schwerwiegender sein können.
7. Erst nach der Besetzung Tripolitaniens werden wirklich freundschaftliche Beziehungen zwischen Italien und der Türkei möglich sein (natürlich erst nach einer gewissen Zeit und Spannung).
8. Die ernsten militärischen Schwierigkeiten der Türkei in verschiedenen Teilen des Reiches würden es ihr nun erschweren, umfangreiche Streitkräfte nach Tripolitanien zu entsenden.
9. Wenn das Osmanische Reich aus politischen Gründen nicht geschwächt oder aufgelöst wird, wird es in zwei oder drei Jahren über eine große Flotte verfügen, die uns das Unternehmen Tripolis erschweren oder gar unmöglich machen kann und die Türkei zu einer noch provokativeren und feindseligeren Haltung gegenüber unseren Interessen in Tripolitanien veranlassen wird als bisher.

Nachdem also die außenpolitischen Gründe für und gegen eine bevorstehende Besetzung Tripolitaniens untersucht wurden, ist zu prüfen, ob die italienische Öffentlichkeit der Regierung (dem jetzigen oder einem anderen Ministerium) eine solche Entscheidung aufzwingen wird.
Diese Wahrscheinlichkeiten nehmen aus folgenden Gründen täglich zu:

Soweit bisher, Fortsetzung folgt später.
 
Die offenkundige nachträgliche Einfügung jenes Memos mit Datum vom 28. Juli 1911 vom damaligen ital. Außenminister San Giuliano, an den ital. Ministerpräsdenten Giolitti und an den ital. König Vittorio Emanuele III. gerichtet, vom bekannten Ende her in eine große Geschichtserzählung, hier bei Clarks I.Weltkrieg-Titel Schlafwandler, verführt verständlicherweise zu 'Kurzschlüssen'. Mit etwas Übung und Erfahrung oder 'wissenschaftlicher Akribie' lösen sich solche Groß-Narrative besonders an den 'Rändern' im Rahmen eigener Recherchen und Bemühungen, dem jeweiligen Thema eine eigene Dynamik und Berechtigung zu geben, gerne mal etwas auf in weitere 'Untergeschichten', die damals keineswegs jeweils notwendig, linear in die vom Ende her bekannte Finalität münden mussten.

Clarks Ausführungen suggerieren - in der deutschen Übersetzung einen Hauch stärker - San Giulianos Verantwortung für den späteren Balkanbund und dessen sehr schnellen und erfolgreichen Krieg ab Oktober 1911 gegen das Osmanische Reich mit allen Folgen und Nachwirkungen hin zum kommenden Weltkrieg aufgrund einer riskanten, fast verantwortungslosen Außenpolitik, die ab Sommer 1911 eine gefährliche, militärisch gestützte Realisierung der ital. Kolonialansprüche in Tripolitanien um fast jeden Preis forcierte. Oder doch nicht? ;-)

Jener Abschnitt im Memo San Giulianos lautet vollständig und im Original:

La ragione principale, per la quale io credo preferibile di evitare la spedizione in Tripolitania è la probabilità (probabilità non certezza) che il colpo, che il successo di tale spedizione darebbe al prestigio dell'Impero Ottomano, spinga all'azione contro di esso i popoli balcanici, entro e fuori dell'Impero, oggi più che mai irritati contro il pazzesco regime centralista giovane-turco, ed affretti una crisi, che potrebbe determinare e quasi constringere l'Austria ad agire nei Balcani.​

(Q: Francesco Malgeri, La Guerra Libica, Roma 1970, Appendice, I.- Documenti: 1. Promemoria del ministro degli esteri Di San Giuliano. S. 385-389, S. 385)

Die Kursivsetzung, und damit Betonung, von non stammt vom Original, also von San Giuliano. Übersetzt via deepl und eigener Tätigkeit:

Der Hauptgrund, warum ich glaube, dass es besser wäre, die Expedition nach Tripolitanien zu vermeiden, ist die Wahrscheinlichkeit (Wahrscheinlichkeit, nicht Gewissheit), dass der Schlag, den der Erfolg einer solchen Expedition dem Ansehen des Osmanischen Reiches versetzen würde, die Balkanvölker innerhalb und außerhalb des Reiches gegen das Osmanische Reich aufbringen würde, die heute mehr denn je gegen das verrückte jungtürkische zentralistische Regime gereizt sind, und eine Krise beschleunigen würde, die Österreich zum Handeln auf dem Balkan bestimmen und fast zwingen könnte.

Tatsächlich liegt San Giulianos Hauptaufmerksamkeit nun deutlicher bei der ÖU-Administration und deren mögliche Reaktionen und Aktionen auf dem Balkan und besonders hinsichtlich Albanien, einer Osmanischen Provinz, um welche politische Entscheidungs-Kräfte sowohl in Rom wie in Wien konkurrierten.


Was, entgegen vom bekannten Ende her entlang großer Narrative, San Giuliano nicht wissen konnte oder realistischer Weise dabei berücksichtigt hatte, auch wenn es sich irgendwie danach anhört:

  • Bei Abfassung des Memos bestanden innerhalb der neuen Balkanstaaten bedeutende Spannungen, man stand mit den jeweiligen großnationalen Ambitionen und entsprechender Propaganda in erheblicher Konkurrenz untereinander. Serbien und Bulgarien beispielsweise. Eine mögliche Balkanliga, wie ab Frühjahr 1912 entstanden, war im Juli 1911 weder absehbar, erkennbar, noch realistischer Weise erwartbar.
  • Weder war die italienische Militärexpedition nach 'Libyen' als Krieg, gar als längerer Krieg, geplant oder nach üblicher Erfahrung erwartbar. Sie war als militärisch gestützte, schnelle Besetzung geplant und gedacht.
Erst der sich entwickelnde und dann länger fortdauernde Krieg ab Ende Oktober 1911 und die spätestens im Dezember 1911 offenbar werdende Tatsache, dass das Osmanische Reich mit militärischen Mitteln den italienischen Streitkräften in 'Libyen' keine entscheidende Niederlage bereiten konnte oder sie zum Rückzug aus 'Libyen' zwingen konnte, führte ab Dezember 1911 zu gewissen Überlegungen - sowohl bei der ÖU-Regierung wie manchen Balkanstaaten.

Erkennbar wird dies beispielsweise in einem vertraulichen Bericht des GB-Gesandten in Rumänien, Walter Townley, an den britischen Außenminister Edward Grey vom 6. Dezember 1911 u.a.:

Nachdem ich Herrn Maioresco [rumänischer Außenminister, Anm. von mir] gesehen habe, habe ich Ihre Depesche Nr. 13 vom 2. Dezember erhalten, in der Sie mir einen Bericht des Botschafters Seiner Majestät in Wien über eine Unterredung zwischen dem französischen Botschafter und Graf Aehrenthal übermitteln. Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß der König von Rumänien und das Kabinett die von König Ferdinand geäußerte Besorgnis über das, was sich im Frühjahr auf dem Balkan ereignen könnte, wenn sich der türkisch-italienische Krieg in die Länge zieht oder die Türkei ernsthaft in Bedrängnis gerät, voll teilen.

(Q: BD 9,1, S. 519 f., Nr. 529, S. 520.)

Danke für die Präzisierungen.

Unter dem Datum des 01.November 1911 machte der König von Montenegro den ÖU Geschäftsträger Giesl interessante Eröffnungen.
König Nikolaus bot Österreich-Ungarn die Armee Montenegros für den Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung gegen jeden Feind, Ausnahme Russland und Serbien, an. Darüber hinaus war Nikolaus bereit in "Allem und Jedem Österreich-Ungarns Ratschläge und Weisungen zu befolgen."
Als Gegenleistung erbat König Nikolaus die Unterstützung Österreich-Ungarns hinsichtlich der Ansprüche Montenegros auf Nordalbanien, wenn die Verhältnisse eine Aktion bedingen. Kurz, wenn es an die Liquidation der Türkei geht. (1)

Natürlich betonte Nikolaus noch das so eine Aktion entgegen aller Voraussicht läge.

König Nikolas erbat möglichst schnell eine Antwort.

Der Gesandte Österreich-Ungarns machte gegenüber Aehrenthal jedenfalls keinen Hehl daraus, das er Zweifel an der Aufrichtigkeit von Nikolaus hat.

Ich frage mich, weshalb man in Rom so kurzsichtig und der Meinung gewesen war, durch Tripolitanien und die Cyrenaika einen Spaziergang durchführen und weitestgehend ohne militärisches Gefechte auskommen zu können. Ganz offenkundig war man der sehr irrigen Meinung, die einheimische Bevölkerung würde die Italiener als neue Herrn des Landes begrüßen oder zumindest einfach hinnehmen. Und die türkische Armee hatte man wohl sträflich unterschätzt und seine eigene militärische Leistungsfähigkeit hoffnungslos überschätzt.

In der Summe bleibt , dass das italienische Agieren potenziell Gefahren und Risiken bargen und die Einschätzungen fehlerhaft.

(1) Bittner, Uebersberger, Österreich-Ungarns Außenpolitik, Band 3, Seite 499
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich frage mich, weshalb man in Rom so kurzsichtig und der Meinung gewesen war, durch Tripolitanien und die Cyrenaika einen Spaziergang durchführen und weitestgehend ohne militärisches Gefechte auskommen zu können.
Siehe Marokko 2! Bitte unterschlage oder vielmehr übersieh nicht einfach die scheinbar gelungenen 'Vorbilder'. Tunesien.

In der Summe bleibt , dass das italienische Agieren potenziell Gefahren und Risiken bargen und die Einschätzungen fehlerhaft.
Tat das dt. Agieren in Marokko 2 (Marokko 1 ....naja) ebenso, und war weitaus kriegsgefährlicher (und, sorry, hirnrissiger). Und vieles andere mehr. Oder glaubst Du, die Liman-Sanders-Mission käme bei mir ernsthaft besser weg - vor allem vom vermeintlichen Ende her, dem I. Weltkrieg, und moralisch im heutigen Sinne beurteilt?

Wir sind uns doch bestimmt einig, dass es nicht primär um moralische Urteile nachträglicher Art geht. Weiterhin hatte ich oben San Giulianos Memo recht ausführlich in Übersetzung, soweit sie bisher erfolgt ist, gepostet. Da sind doch die plausiblen Argumente a b g e b i l d e t. Es lohnt sich jede Zeile im Memo..der noch zu übersetzende Teil folgt noch.

Warum also sollte die ital. Reg. aufgrund einer von dir hundert Jahre später verlangten 'höheren Einsicht' oder größeren Weitsicht oder vermeintlich realistischeren Einschätzung, die keine der anderen Großmächte bzw. ihre Regierungen und Herrscher, und ihre einflussreichen Kreise sowie jene sogenannte mediale Öffentlichkeit, zu jener Zeit im heutigen Sinne gewünschten Ausmaß aufbrachte, und n a c h d e m uns mehrere Generationen später die weitere, in einem Grauen endende Groß-Entwicklung später sattsam bekannt ist, warum sollte ausgerechnet sie das leisten und auf die Besetzung Libyens verzichten, welche diverse italien. Reg. lange auch Dank der Einflussnahme der Großmächte, siehe oben, hinaus geschoben hatten? ;)


Was wir ruhig versuchen können, versuche ich, indem ich dem Rand, den Kleinen im Großkonzert, eigenes Gewicht, eine eigene dynamische, plausible, nachvollziehbare Geschichte eben nicht nur als - vermeintlich - leider unzuverlässiger Zulieferer, als Fußnote oder knapp bestätigendes Zwischenkapitel in einem Großnarrativ der Großmächte zu geben versuche.
 
Unter dem Datum des 01.November 1911 machte der König von Montenegro den ÖU Geschäftsträger Giesl interessante Eröffnungen.
König Nikolaus bot Österreich-Ungarn die Armee Montenegros für den Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung gegen jeden Feind, Ausnahme Russland und Serbien, an. Darüber hinaus war Nikolaus bereit in "Allem und Jedem Österreich-Ungarns Ratschläge und Weisungen zu befolgen."
Als Gegenleistung erbat König Nikolaus die Unterstützung Österreich-Ungarns hinsichtlich der Ansprüche Montenegros auf Nordalbanien, wenn die Verhältnisse eine Aktion bedingen. Kurz, wenn es an die Liquidation der Türkei geht. (1)

Liest Du eigentlich gelegentlich auch mal meine Beiträge zumindest fallweise durchgehend und ausreichend gründlich?:)
Ich hatte das Folgende am 15.1.22, Nr. 29, im Faden 'Italien im Ersten Weltkrieg' gepostet:

Die ital. Reg. wollte zunächst den Krieg auf Tripolitanien lokalisieren und lehnte daher beispielsweise das Angebot eines militärisches Vorgehens von Seiten der montenegrinischen Administration bei Kriegsbeginn ab, gegen das osmanische Albanien vorzugehen. Die montenegrinische Administration wandte sich nun Ende Oktober an die ÖU-Regierung mit diesem Angebot, doch auch diese ging nicht darauf ein.
 
Liest Du eigentlich gelegentlich auch mal meine Beiträge zumindest fallweise durchgehend und ausreichend gründlich?:)
Ich hatte das Folgende am 15.1.22, Nr. 29, im Faden 'Italien im Ersten Weltkrieg' gepostet:

Ich sehe schon, du bleibt in einer Hinsicht ein hoffnungsloser Fall. Du kannst einfach nicht ohne solche blöden Bemerkungen auskommen.

Vielleicht übersteigt es ja nicht deine Vorstellungskraft, das es Menschen gibt, die gesundheitlich nicht in wünschenswerter Verfassung sind und dann eben nicht immer im Forum präsent sind und bei Rückkehr nicht sofort jeden Beitrag lesen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ganz offenkundig war man der sehr irrigen Meinung, die einheimische Bevölkerung würde die Italiener als neue Herrn des Landes begrüßen oder zumindest einfach hinnehmen. Und die türkische Armee hatte man wohl sträflich unterschätzt und seine eigene militärische Leistungsfähigkeit hoffnungslos überschätzt.

Ein Versuch der Vertiefung:
Wenn, dann wollte sich vor allem das jungtürkisch geprägte Regime unausgesprochen nicht mehr und erst recht nicht von der italien. Reg., welches wohl Italien ebenfalls als Großmacht 2. Ranges betrachtete, vorführen lassen. Das war zuvor schon dadurch sichtbarer geworden, dass die osmanische Verwaltung vor Ort unter jungtürkischer Zentralregierung einen Kleinkrieg gegen die ital. Einflussnahme verstärkte oder gar initiierte - obwohl das, was die ital. Regierung in Tripolitanien förderte, damals politisch-imperial gesehen absolut business as usual gewesen war. Siehe Tunesien, siehe Marokko, siehe Ägypten; Fälle, die allerdings v o r der Machtübernahme durch das jungtürkische Regime begonnen hatten bzw. durch geführt worden waren.

Ein wichtiges Ereignis, welches die Bereitschaft zum Widerstand, zur Gegenwehr von Seiten des Regimes in Konstantinopel anscheinend erheblich förderte, war die von Vertretern der ital. Reg. Anfang Oktober 1911 der Osmanischen Reg. gegebene Absichtserklärung, 'Libyen' nach Besetzung staatsrechtlich annektieren zu wollen. Das ging, auch nach Gepflogenheiten unter den Großmächten damals, gar nicht. Zumindest nicht so. Und davon hatte auch San Giuliano abgeraten, allerdings konnte er sich im Kabinett gegen Giolitti und den ital. König nicht durchsetzen.

Weiterhin hatte das ital. Militär bzw. vielmehr die Marine versucht, taktisch natürlich vorausschauend geplant, mögliche militärische bzw. Marine-Nachschubwege des Osmanischen Reiches durch eine Seeblocke der Libyschen Küste zu unterbinden und zudem einen ital. Nachschub gefährdende Marine-Einheiten des Osmanischen Reiches soweit beschädigt/zerstört, dass diese keine Gefahr mehr darstellten. Siehe den Angriff auf die vor der albanischen Küste liegende kleine osmanische Torpedoboot-Einheit.

Diese Schutz- oder vorbeugende Maßnahmen reichten aufgrund der Entschlossenheit der jungtürkischen Reg. nicht ganz aus, da
  • die ital. Seeblockade doch immer wieder unterlaufen werden konnte
  • das jungtürkisch geprägte Offizierskorps teils sogar auf eigene Kosten und eigenes Risiko Nachschub und Widerstand organisieren konnte.
Ein weiterer Faktor stellte anscheinend der Umstand dar, dass der Widerstand in 'Libyen' unter der örtlichen ansässigen Bevölkerung wohl ziemlich erfolgreich als Djihad gegen die ungläubigen Italiener vermarktet werden konnte. Ein Novum.

Und es wurden in Libyen massenhaft Schusswaffen an alle und jeden verteilt, der Widerstand leisten wollte und konnte.
 
Soweit bislang übersetzt, folgen nun die weiteren, (via deepl und mir) übersetzten Teile des Memo mit Datum vom 28. Juli 1911 von San Giuliano an den ital. MP Giolitti und den ital. König.
Q: Francesco Malgeri, La Guerra Libica, Roma 1970, Appendice, I.- Documenti: 1. Promemoria del ministro degli esteri Di San Giuliano.

Teil 3

S. 387 weiter:

Nachdem also die außenpolitischen Gründe für und gegen eine bevorstehende Besetzung Tripolitaniens untersucht wurden, ist zu prüfen, ob die italienische Öffentlichkeit der Regierung (dem jetzigen oder einem anderen Ministerium) eine solche Entscheidung aufzwingen wird.

Diese Wahrscheinlichkeiten nehmen aus folgenden Gründen täglich zu:

1. Es ist wahrscheinlich, dass die deutsch-französisch-englischen Verhandlungen in Marokko zu gegenseitigen Kompensationen führen werden, von denen einige, wie die Übernahme Marokkos durch Frankreich, das Gleichgewicht im Mittelmeerraum tatsächlich verschieben würden, während andere, auch wenn sie den italienischen Interessen nicht wirklich schaden, im Lande einen zwar wahrscheinlich unbegründeten, aber nicht weniger schwerwiegenden Eindruck erwecken könnten.
2. Denn das Handeln der osmanischen Regierung, dass sich gegen alle unsere wirtschaftlichen Interessen in Tripolitanien richtet und unsere nationale Selbstachtung verletzt, geht weiter und wird mit ziemlicher Sicherheit weitergehen.
3. weil in Italien ein lebhaftes und weitverbreitetes, wenn auch unbegründetes Gefühl herrscht, dass die Außenpolitik der Regierung zu nachgiebig ist und die Interessen und die Würde Italiens nicht ausreichend respektiert werden; und
[S. 388] es besteht ein allgemeines Bedürfnis, die nationalen Kräfte auf irgendeine Art und Weise energisch unter Beweis zu stellen.
4. weil jeder kleine tripolitanische und italienisch-türkische Vorfall von der Presse aus verschiedenen Gründen gekonnt übertrieben wird, unter anderem wegen des Geldes und der Intrigen der Bank von Rom, die daran interessiert ist, die italienische Besetzung Tripolitaniens zu beschleunigen.

Ich habe bereits gesagt, dass dieselben Mittel, mit denen versucht wird, die Expedition nach Tripolitanien zu verhindern, auch eingesetzt werden, um ihren Erfolg zu sichern, wenn sie unvermeidlich wird; dies gilt sowohl für politische als auch für militärische Mittel.
Es ist klar, dass der Erfolg umso sicherer und schneller eintritt, je besser und gründlicher die militärischen Mittel (Land- und Seestreitkräfte) vorbereitet sind.
Ich glaube daher, dass es ratsam wäre, bereits jetzt mit einigen Vorbereitungen zu beginnen, auch weil, wenn der Beschluss zum Handeln gefasst wird, zwischen dem Beschluss und dem Handeln so wenig Zeit wie möglich liegen sollte, damit keine Gelegenheit für eine diplomatische Intervention durch andere, für größere türkische Vorbereitungen und für eine Änderung der allgemeinen Situation, die günstig erschien, besteht.

Mit gewissen Vorbereitungen zu beginnen, würde (wie im Falle Guzmans) auch dazu dienen, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass die Expedition unvermeidlich wird, denn solche Vorbereitungen würden durch geschickte Indiskretionen allmählich der Öffentlichkeit und auch der Türkei bekannt werden; sie würden von der Regierung auf nicht allzu scharfe Weise dementiert werden und würden dazu dienen, der Türkei zu verstehen zu geben, dass wir nicht länger bereit sind, ihr Verhalten uns gegenüber zu tolerieren. Dies würde sie wahrscheinlich dazu veranlassen, ihr Verhalten zu ändern (wie sie es im Fall von Guzman getan haben), und es uns so leichter machen, die Notwendigkeit zu vermeiden, zu solchen Extremen zu greifen, denn die Türken geben nur der Gewalt nach.

Die politischen Mittel sind die bisher erprobten, die in Verbindung mit dieser leisen Einschüchterung noch ein wenig fortgesetzt werden müssen, in der zugegebenermaßen nicht sehr begründeten Hoffnung, dass sie wenigstens teilweise die gewünschte Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen herbeiführen werden, und auch, um Europa zu zeigen, dass wir, bevor wir handeln, alle freundschaftlichen Versuche ausgeschöpft haben und viel zu langmütig und geduldig waren.
Andererseits sind ein oder zwei Monate friedlicher Versuche nicht umsonst, wenn sie dazu genutzt werden, unsere militärischen Vorbereitungen zu vervollständigen.

Ich kann allerdings meine Überzeugung nicht leugnen, dass das wirksamste Mittel, eine militärische Expedition nach Tripolitanien zu vermeiden, darin besteht,
[S. 389] sie vorzubereiten und der Türkei mitzuteilen, dass wir sie vorbereiten, ohne es ihr offiziell mitzuteilen, denn nur wenn wir sie einschüchtern, können wir sie dazu bringen, ihre Politik gegenüber allen unseren legitimen Aktivitäten in Tripolitanien zu ändern, was unsere Expedition sonst unvermeidlich machen würde.

Und wenn diese Expedition stattfinden sollte, was sollte ihr Ziel sein? Bettólo sieht die Besetzung von Tobruk vor, die jedoch nicht entscheidend wäre und etwas weniger Risiken und Kosten mit sich brächte als die Besetzung von Tripolis.
Wenn wir alle möglichen Konsequenzen einer kühnen Aktion in Kauf nehmen wollen, muss sie das Problem lösen, und deshalb sollte sie sofort und direkt darauf abzielen, die beiden Zentren der türkischen Regierung in Nordafrika einzunehmen, d.h. zuerst Tripolis und dann einige Tage später Bengasi.

Sobald dies geschehen ist, würden wir versuchen, der Ausübung unserer Souveränität über Tripolis die geeignetste Form zu geben, um unsere Ausgaben und den ständigen Einsatz italienischer Streitkräfte in diesen Regionen auf ein Minimum zu reduzieren, zumindest für einige Jahre. Wahrscheinlich könnten wir die noch nicht ausgestorbene Karamanli-Dynastie nutzen oder eine Lösung mit der Türkei finden, wie sie 1878 für Bosnien oder mit China von Deutschland und anderen europäischen Mächten beschlossen wurde.

Aber es ist verfrüht, all dies heute zu erörtern; heute genügt es, sich die Wahrscheinlichkeit vor Augen zu halten, dass die ganze Expedition bald unvermeidlich wird, und unser Handeln von jetzt an auf den doppelten Zweck auszurichten, einerseits zu versuchen, sie zu vermeiden, und andererseits von jetzt an ihren Erfolg vorzubereiten, wenn sie, wie es immer wahrscheinlicher erscheint, gegen unseren Willen unvermeidlich werden sollte.


Besonders die späteren Abschnitte und gegen Ende des Memos erweitern die vermeintlich einschlägige Position des italienischen Außenministers San Giuliano hinsichtlich einer militärischen Libyen-Expedition, soweit sie seine Position lediglich mit ein, zwei bekannten, meist nicht vollständig wiedergegebenen Abschnitten zu Beginn des Memos referieren, um zahlreiche Gesichtspunkte/Überlegungen/Kriterien im Memo.




 
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