Einführung in die jüdische Geschichte der Schweiz

ursi

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Wie auch in andern Ländern Europas im Mittelalter gab es auch auf dem Schweizer Gebiet Verfolgungen von Juden. 1348/49 wurden die jüdischen Einwohner in Zofingen, Bern, Zürich und Basel beschuldigt die Brunnen vergiftet und so die Pest verbreitet zu haben. Frauen und Männer wurden gefoltert und man erpresste ihnen Geständnisse heraus, daraufhin wurden sie öffentlich verbrannt. Den Obrigkeiten, die einerseits die ökonomische Nützlichkeit der jüdischen Bevölkerung erkannten und auch zu schätzen wussten, kamen solche regelmässig wiederkehrende Judenverfolgungen gelegen, weil sie auf diese Weise ihre Schulden bei den jüdischen Geldgebern streichen konnten. Zuweilen versuchten die Machthaber auch Ausschreitungen zu vermeiden, mussten dann aber den fanatisierten Massen nachgeben, so 1348/49 in Zürich, Basel und in der Umgebung der Kyburg. In Montreux, Bern, Zofingen und Solothurn gab es regelrechte Vernichtungsprozesse gegen Juden
Im Laufe des 14. Und 15. Jahrhunderts wurden die Juden aus fast allen schweizerischen Städten vertrieben. Das Zinsverbort für die Christen wurde aufgehoben und somit waren sie als Geldleiher entbehrlich geworden. In der älteren Forschung ging man noch davon aus, das ab Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts keine Juden mehr in der Eidgenossenschaft lebten. Dies wurde aber durch neue Forschungen widerlegt. Die Juden lebten nicht mehr in den Städten sondern auf dem Land.
Im 17. Und 18. Jahrhundert hatten die Juden offiziell nur in den beiden „Judendörfer“ Lengnau und Obererendingen die Möglichkeit sich Niederzulassen. Beide Dörfer werden in den Quellen erwähnt, das eine 1633 und das andere 1678. Sie hatten nicht das Recht Boden zu besitzen und erhielten auch nur das beschränkte Niederlassungsrecht, dies war jeweils auf 16 Jahre beschränkt. Sie durften nur wenige Berufe ausüben und waren zu Leibzollabagben verpflichtet.
Ab 1797 lebten auch wieder einzelne jüdische Familien in den Städten, Basel, Bern, Waadt, Neuenburg und Genf. Das waren zum grössten Teil elsässische Juden, die den Status eines französischen Bürgers hatten. 1826 wurde die Kleinstadt Avenches zeitweise zur grössten jüdischen Gemeinde in der Schweiz. In der deutschen Schweiz wurde 1859 in Baden die erste jüdische Kultusgemeinde ausserhalb Surbtals (Lengnau und Obererendingen) gegründet.
Noch ein Wort zu den beiden „Judendörfer“ in den Surbtaler Gemeinden. Die eidgenössischen Orte verfolgten mit der Duldung von jüdischen Einwohnern zwei Ziele: die Belebung des Handels an der Messe von Zurzach und die Erhebung des Leibzolls für Juden an allen Grenzübergengen und Zollstellen. In den beiden Dörfern lebten aber immer auch Christen und diese bildeten die Mehrheit. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts forderten die in der Grafschaft Baden lebenden Christen mindestens sechsmal die Vertreibung der Juden. Dies wurde von der Obrigkeit aus finanziellen Interessen immer wieder verhindert. Sie wollten nicht auf die Einnahmen der Judensteuern verzichten. 1802 kam es dann zu einem Plünderungszug der Christen gegen die Surbtaler Juden. Dieser ging mit dem harmlosen Namen „Zwetschgenkrieg“ oder „Bändelikrieg“ in die Geschichte ein.
Erst mit der Revision der Bundesverfassung 1866 durften sich die Juden überall Niederlassen und sie waren nun auch vor dem Gesetze gleich. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit bekamen sie aber erst bei der Totalrevision 1874. 1893 wurde das Schächten verboten.
Nach der politischen Emanzipation folgten nun eine kulturelle Assimilation der Juden an das städtische Leben. In dieser Zeit keimte vom Konkurrenzdenken angespornte Antisemitismus auf. Den Juden die erfolgreich im städtischen Handel und Gewerbe tätig waren, lastete man nun die Schuld an den Modernisierungsschüben an. Nach 1917 konnte man den Juden das doppelte Feindbild des Kapitalisten und Bolschewisten anhängen und pflegen. In den zwanziger Jahren herrschte in gewissen Kreisen des öffentlichen Lebens der Schweiz ein virulenter Antisemitismus, der hausgemacht und nicht Folge einer Ansteckung aus Deutschland war. Denn anders als in Deutschland wurden in der Schweiz der zwanziger und dreissiger Jahre gesamthaft gesehen keine politischen Karrieren auf antisemitischer Politik aufgebaut.
 
Die rechtliche Gleichstellung der Juden ist eng mit der französischen Revolution verbunden. Auf Drängen Frankreichs mussten die schweizerischen Behörden 1797 die jüdischen Franzosen von der Anwendung diskriminierender Bestimmungen auszunehmen. In der Helvetischen Republik wurden alle persönlichen Sonderabgaben aufgehoben, die Juden wurden aber nicht zum Vollbürger erklärt. Sie bekamen den Status: Niedergelassener Fremder, dies war bereits eine Verbesserung. Mit der Restauration 1815 wurden die Juden aber wieder mit restriktiven Bestimmungen belegt. Die Juden aus dem beiden Surbtaler Dörfer waren zum Beispiel aus dem Militärdienst ausgeschlossen, sie mussten eine kollektive Militärsteuer von jährlich 1000 Franken bezahlen. 1842 stellen sie ein Gesuch, dass diese Diskriminierung aufgehoben werde, dies wurde abgelehnt. Von militärischer Seite her gab es keine Einwände, hingegen befürchtete man, dass die religiösen Gebote der Juden mit dem Dienstbetrieb kollidieren könnte und das die christlichen Soldaten vielleicht ungern mit jüdischen Waffenbrüdern Dienst tun würden, so könnte die Disziplin in der Armee leiden.
1848 wurde die neue Bundeverfassung verabschiedet, die Gründungsväter wagen es nicht die Gleichstellung der Juden einzuführen. Man hatte Angst, dass es einen Widerstand geben könnte und so die neue Verfassung gefährdet sei. Diese Annahme war nicht unbegründet. Die Innerschweizer Katholisch-Konservativen setzten die Judenfeindlichkeit als zugkräftiges Vehikel gegen die liberale Idee des Bundesstaates ein.
Die Niederlassungsfreiheit für Juden wurde in der Verfassungskommission mit 17 gegen 4 Stimmen massiv abgelehnt. So wurden schliesslich die Niederlassungsfreiheit (Art. 41 BV), die Gleichstellung vor dem Gesetz und im Gerichtsverfahren (Art. 48 BV) und die freie Ausübung des Gottesdienstes (Art. 44 BV) nur den männlichen christlichen Schweizern garantiert. Obwohl die in Art. 29 BV gewährleistete Handels- und Gewerbefreiheit keine Einschränkung zum Nachteil der Juden enthielt, wurde von einzelnen Kantonen unter Berufung auf Art. 48 einschränkend gegen die Juden angewandt.
Ein Bundesbeschluss 1856 bekräftigte zwar die Handels und Gewerbefreiheit doch der Widerstand gegen die Gleichstellung der Juden war auf Kantonsebene enorm gross. Im Kanton Aargau gab es eine starke Opposition, die man erst mit Druck von Bern zur Ordnung rufen konnte.
Auch die Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit für jüdische Schweizer auf Bundesebene kam erst mit Druck von aussen zu Stande. 1864 wollte der Bund einen Vertrag mit Frankreich aushandeln, dieser kam erst zu Stande, als die Schweiz allen Franzosen, auch den jüdischen Franzosen eine Niederlassungs- und Berufsfreiheit garantierte. Das kam dann auch den Schweizer Juden zu Gute, 11 Kantone praktizierten nun eine Niederlassungsfreiheit für Juden. Es entstanden jüdische Gemeinden in Zürich, Basel, Bern, Lausanne und Genf.
1866 gewährte der Souverän bei der Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung die Niederlassungsfreiheit und die Gleichstellung vor dem Gesetz auch für Juden. Es waren aber immer noch 46,8% dagegen. Auch Schweizerpersönlichkeiten wie zum Beispiel Albert Bitzius, besser bekannt unter dem Namen Jeremias Gotthelf äusserten sich gegen die Juden. Von Gotthelf sind folgende Zeilen aus dem Jahr 1821 erhalten geblieben: „Die Kerls sind wie die Fliegen; man mag sie noch so derb treffen, wenn man sie nicht gerade totschlägt, so kommen sie immer wieder.“ Gotthelf war auch in älteren Jahren ein bekennender Judenhasser. Dazu muss man nur Ueli der Pächter lesen, dann kann man das sehr gut erkennen.
1873 wurden im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise eine grosse Anzahl von antisemitischen Schriften in den Umlauf gebracht, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Jetzt kamen die rassenbiologischen Thesen auf. In der Schweiz gab es eine heftige Diskussion um den staatlichen Rückkauf der privaten Eisenbahnen, hier wurden ebenfalls die Juden als „Sündenböcke“ hingestellt. Was man dabei aber ausser Acht lies. Keiner der Geschäftsleute die in diese Affäre involviert waren, waren Juden. 1893 wurde das Schächteverbot eingeführt, damit wollte man die Einwanderer aus dem Osten abschrecken. Eigentlich wollten aber die Initianten die Gleichstellung von 1866 aufheben.
1897 fand in Basel unter der Führung von Theodor Herzl der Erste Zionistenkongress statt. Der Kongress wurde in der Schweiz gut aufgenommen. Es gab zwar auch antisemitische Reaktionen und Stimmen die hinter dem Kongress eine Verschwörung sahen. Diese Stimmen waren aber nur vereinzelt wahrzunehmen.
 
Auswahl an Quellen und Literatur zu den beiden Beiträgen:

Peter Kamber: Pogrome und Schwarzer Tod. Wie die Schweiz im 14. Jahrhundert ein Verfolgungschema exportierte.

Christine Lauener: La communatué juive d'Avenche. Organisation et intégration.

Anne C. Friedrich: Juden in Dornach. Zur Geschichte der Landjudengemeinde.

Willy Guggenheim: Juden in der Schweiz. Glaube, Geschichte, Gegenwart.
 
Im 20. Jahrhundert gab es auch in der Schweiz eine offengezeigte judenfeindliche Haltung. In Berufsverbänden, Studentenverbindungen und in einigen politischen Vereinigungen gab es antisemitische Äusserungen in Wort und Bild. Die Zeitung „Le Pilori“ trat bis in die fünfziger Jahre hin, als eine starke antisemitische Zeitung auf. Im Ersten Weltkrieg bildet sich ein geistiges und administratives Instrumentarium zur Abwehr des „Fremden“ heraus. Zunächst galt diese Abwehr den Deserteuren und den echten und vermeintlichen Kriegsgewinnlern, die sog. Schiebern und Wucherern. Das wurde dann sehr bald ausgeweitet und alles als „Fremden“ was die Schweiz bedrohte. In dieser Argumentation wurden die Juden zu „Fremden“ und nicht „Assimilierbar" gemacht. Die Abwehr durch die Behörden richtete sich gegen die Juden die vor den Pogromen in Russland geflüchtet waren. Das waren vor allem emanzipierte Intellektuelle die eine andere traditionelle ostjüdisch-orthodoxe Lebensform in die Schweiz mitbrachten. Die Pogrome in Russland von 1905 und 1911/13 riefen in verschieden Schweizer Städten Solidaritätskundgebungen hervor. Es gab aber auch Stimmen die meinten die Juden seien selber schuld.
Mancherorts wurde den Schweizer Juden der Zugang zu höheren Posten in der Wirtschaft, in die Verwaltung oder zu höheren Militärchargen verwehrt. Deshalb arbeiteten viele Juden in selbständigen Berufen in Handel und Gewerbe oder in der Kultur und Wissenschaft. In der kommunalen, kantonalen und nationalen Politik wurden besonders nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Juden aufgestellt und auch gewählt. Zwischen 1900 und 1930 gab es drei jüdische Nationalräte. Leider war aber auch hier der Wahlkampf mit antisemitischen Parolen gespickt. Vor allem in den lokalen Wahlen in St. Gallen, Basel und Genf.
1917 entstand in der Schweiz die Eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei. Sie arbeitete mit der Bundesanwaltschaft und dem Nachrichtendienst zusammen. Ein Teil dieser Arbeit richtete sich gegen die Juden. Aus dem Tagebuch des Bundesrates Heinrich Häberlin , Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement: „Im Übrigen muss ich mit der Antijuden-Praxis der Zentralstelle schon etwas zum Rechten sehen; es riecht manchmal nach gerechtem Kammmacher und auch nach auserwählter Nation. Immerhin ist es richtig, dass wir nicht vor Vorlage des Einbürgerungsartikels den Morgenschweizer mit vielen „Itzigson“-Juden kopfscheu machen wollen“.
Mit der Russischen Revolution von 1917 erweiterte sich das judenfeindliche Klischee auch in der Schweiz. Jetzt konnte man den Kapitalisten und den Bolschewisten als Feind anschauen – das Bild des bolschewistischen Juden wurde auch in der Schweiz verbreitet und führte zur antijüdischen Politik. Vor allem in beiden Einbürgerungen wurde diese Tendenz wahrgenommen.
Der Antisemitismus der frühen zwanziger Jahre war ein hausgemachtes Phänomen. Die Schweiz wurde nicht von Deutschland angesteckt. Es war eine Abwehr gegen Modernisierungsschübe, die Schweiz sollte von einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Überfremdung geschützt werden. Die Wirtschaftskrise von 1922 tat dann ihr nächstes. So stand auf einer Basler Fasnachtslaterne 1923:“Die Juden und ihr Geld regieren die Welt.“

Literaturtipps folgen noch.
 
Liebe ursi

Ich erlaube mir noch ein interssanter Literaturtipp dazu:

Brunschwig Anette u. a.: Geschichte der Juden im Kanton Zürich, Von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Zürich OF 2005.

Liebe Grüsse

maki
 
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