Entstehung und Fälschung des Corpus Paulinum?

... aber er zitiert die Synoptiker und den 1. Korintherbrief.

Ergänzend,

"Mark Harding notes the extensive examination of Albert Barnett in 1941 in which there is early citation of ‘1 Corinthians by Clement, Ignatius, Polycarp, and Justin’. M. Harding, ‘Disputed and Undisputed Letters of Paul’, in S. E. Porter (ed.), The Pauline Canon (Leiden: Brill, 2004), pp. 129–68; p. 130. Jewett cites Mitton: ‘It is clear that 1 Corinthians is the letter of Paul which has most clearly impressed itself on the minds of early Christian leaders. This epistle is confidently known early in the second century in the churches of Roma and Asia Minor, and perhaps in Syria.’ Jewett, ‘Redaction’, p. 431."

Zitiert nach Malcolm: Paul and the Rhetoric of Reversal in 1 Corinthians - The Impact of Paul’s Gospel on His Macro-Rhetoric?
 
Ergänzend,
[...Literaturverweise...]
@Silesia:
warum machst du dir diese Mühe?

Angesichts solcher Eskapaden wie
Wir wissen, dass Paulus eine Kollekte "für die Armen", die Gemeinde in Jerusalem veranstaltet hat. Geld war auch ohne Staatsmacht ein schlagendes Argument. So hat er sich m.E. die Anerkennung der echten Jesusschüler erkauft.
ist meiner Ansicht nach jede ernsthafte Reaktion (um im frühchristlichen Kontext zu bleiben) eine Sünde, vgl. Matth. 7 Vers 6 :D:D

Judas Phatre solle erstmal nachweisen, dass er "die echten Jesusschüler" kennt und woher er sie kennt (Quellen) - solange das nicht der Fall ist*), darf man das gesamte Gefasel getrost als Nonsense abtun.
______________
*) und das wird so bleiben.
 
In dem Fall ging es um die Darstellung von Chan, der solche Details selektiv und gerne für seine Verschwörungstheorien der zwei Jahrhunderte verwendet, #30 [siehe die Replik zu El Quijotes Argumentation]
Die wohl echten Paulusbriefe spielen eine große Rolle in der Aufklärung der Geschichte und damit auch in meinem Modell. Sie sind viel wichtiger als die Synoptiker oder die pseudoepigraphischen Briefe. Wenn diese 7 Briefe nicht mehr in der Mitte des 1. Jh verfasst worden sein sollen, dann bricht nicht nur die klassisch-kirchliche, sondern auch meine Sicht der Ereignisse in sich zusammen. Wenn also jemand das ganze Christentum als Fälschung entlarven will (und ich vermute, das ist das Ziel der Radikalkritik), dann muss er plausibel machen, dass diese Briefe fingiert sind. Die Evangeliendiskussion ist nur ein Nebenschauplatz.
 
Die wohl echten Paulusbriefe spielen eine große Rolle in der Aufklärung der Geschichte und damit auch in meinem Modell.
...du solltest "dein" skurriles "Modell" nicht mit "der Aufklärung der Geschichte" gleichsetzen!...
Wenn also jemand das ganze Christentum als Fälschung entlarven will (und ich vermute, das ist das Ziel der Radikalkritik), dann muss er plausibel machen, dass diese Briefe fingiert sind.
...mit Ausnahme von dir*) hat bislang noch niemand in dieser und in thematisch verwandten Diskussionen hier im GF das komplette Christentum als "Fälschung" darstellen wollen (geschweige denn als solche entlarvt). Der einzige, der hier über "massive Fälschungen" schwadroniert, bist du.

so, und jetzt zum drittenmal:
Wir wissen, dass Paulus eine Kollekte "für die Armen", die Gemeinde in Jerusalem veranstaltet hat. Geld war auch ohne Staatsmacht ein schlagendes Argument. So hat er sich m.E. die Anerkennung der echten Jesusschüler erkauft.
wer sind "die echten Jesusschüler", welche seriöse Quelle nennt diese, welche seriöse Quelle teilt mit, dass der böse Paulus diese quasi gekauft habe????


_________
*) ich erinner an dein der-wahre-Jesus-des-Thomasevangeliums-Geschwafel
 
Zuletzt bearbeitet:
...mit Ausnahme von dir*) hat bislang noch niemand in dieser und in thematisch verwandten Diskussionen hier im GF das komplette Christentum als "Fälschung" darstellen wollen (geschweige denn als solche entlarvt). Der einzige, der hier über "massive Fälschungen" schwadroniert, bist du

Eine Korrektur.

Es gibt hier eine Schnittmenge zu Chan, der in seinen diversen Fantasy-"Fundierungen" bezüglich der Quellen Überarbeitungen, "Unechtheit", Fäschungen und Fiktionalitäten behauptet. Das ist Teil des forschungsfernen- ich zitiere Chan: - "Theaters".

Allerdings ist der weltanschauliche Ausgangspunkt und die religiöse "Stoßrichtung" nach meinem Eindruck eine völlig andere. :D
 
Übrigens werden Paulusbriefe (wie auch die kanonischen Evangelien) bei Justin nie erwähnt.

Welchen Sinn hat so ein Satz? Er soll doch wohl implizieren, dass die genannten Texte, weil sie vom Autor X nicht erwähnt wurden, nicht existierten.

Gehen wir doch mal quellenkritisch an die erhaltenen Texte Iustins heran:
1. Iustin zitiert, ohne die Quellen explizit zu nennen aus dem Matthäus- und/oder Lukasevangelium. (Erste Apologie, Kapitel 15, 16, 17, 19)
2. Im Dialog mit Tryphon, der wohl ein Lehrbuch für Christen darstellt, wie man Juden vom christliche Glauben überzeugen solle, rekurriert Iustin hauptsächlich auf das Alte Testament. Das ist doch auch ganz natürlich: Er geht von Dialogpartnern aus, welche die Autorität der christlichen Quellen nicht anerkennen (können). Also muss er diese [also die angenommenen Dialogpartner] Kraft der Autorität der von ihnen anerkannten Quellen (eben der Thora) von der Wahrheit des Christentums überzeugen. Da ist es völlig logisch, dass er sich explizit auf das AT als Quelle bezieht und die Evangelien und Paulusbriefe nicht weiter thematisiert (was nicht heißt, dass er diese nicht ohne sie explizit zu nennen auch hier zitieren könnte).
3. Analog dazu, dass er gegenüber Juden sich aus dem AT bedient, bedient er sich gegenüber Antoninus Pius aus den Philosophen der grecorömischen Antike. Er pflicht zwar in seine Darstellung Jesusworte mit ein, wieder ohne die Quellen zu nennen, nennt aber Mythen und Philosophen, die er zitiert. Wobei auch das interessant ist: In der Ersten Apologie zitiert er Platon erstmals im dritten Kapitel, nennt ihn explizit aber erst um siebten...
 
Welchen Sinn hat so ein Satz? Er soll doch wohl implizieren, dass die genannten Texte, weil sie vom Autor X nicht erwähnt wurden, nicht existierten.
Mit einer Unterstellung beginnen? Frag' ihn doch einfach, ob er das so meint!
Das ist ein wichtiger Punkt, der eine faire Diskussion verdient. Ich frage ihn:
Chan, meinst Du, dass auch die sogenannten echten Paulusbriefe eine Fälschung aus dem 2. Jh sind?
 
Wieso Unterstellung? Ein Scheinargument ist ein Scheinargument. Außerdem ist chan schon ein wenig länger im Forum, er hat schon häufiger in dieser Richtung argumentiert.
 
Damit das Thema nicht wieder zerfasert, vorab und unabhängig von der Frage jedweder "Fälschung":

Wie sind der Forschungsstand zur Entwicklung des Corpus Paulinum bzw. die Datierungen in der Entwicklung der Kollektion zu beschreiben?

Zuntz-Hypothese?
Hypothese der Alands?
Entstehungsgeschichte nach Trobisch?
Schmid-Hypothese zur Briefkollektion von Marcion ("7 aus 10")
Einordnung des Kanon-Standes nach P46?
Abgleich mit dem Kanon Muratori und dem Codex Sinaiticus?
Hypothese von Duff bzgl. Zuordnung der Pastoralbriefe?
Abgleich mit dem Codex Fuldensis?

Wenn die Hypothesen zur fließenden Entwicklung des Corpus dargestellt sind, kann man zur Frage übergehen, was unter "Fälschung" genau verstanden werden soll.

Optionen:

"(1) All manuscripts are descended from one archetype of a single edition of fourteen letters, and the task of the editor is to reconstruct this text.

(2) All manuscripts are descended from the same two or more archetypes, between them containing the fourteen letters, which the editor should reconstruct.

(3) Some manuscripts are descended from the archetype of one collection, some from the archetype of another (or multiple archetypes, as in (2)). Here the editor would have to reconstruct a number of different text forms, before making a final decision as to whether a single earlier form of text from which these were derived could be reconstructed, and whether this is best described under (1) or (2) or (5).

(4) Some manuscripts are descended from archetypes of collections, while some are descended from manuscript traditions of separate letters predating the formation of a collection, or at least contain readings derived from these earlier manuscript traditions. The same set of editorial procedures would apply here as for (3) and (5).

(5) All manuscripts are descended from manuscript traditions of separate letters, which may be reconstructed without reference to the formation of any collection.

The question therefore is whether we have a unified tradition, the whole descended from a single point, namely a first collected edition of fourteen letters, or whether the tradition is hybrid. It is only when decisions have been made in this regard that the editorial task will become clear. These questions cannot be answered here, since the letters await the attentions of the Editio critica maior. It is possible, however, to outline the most important contribution yet to have been made to the Pauline letters, and to illustrate how it sheds light on these problems."


Parker, New Testament Manuscripts ..., S. 279/80.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo silesia,
schön, dass Du eine Zusammenfassung der Sichtmöglichkeiten gefunden hast. Die Frage war aber nach den 7 generell als echt eingestuften Briefen.
Und...
Hast Du vielleicht sogar eine eigene Meinung dazu?
 
Da es hier hauptsächlich um die Fälschungsfrage geht, bin ich so frei, den gegenwärtigen Wortführer der Radikalkritik ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, der besser als jeder andere die radikalkritische Position zu diesem Thema darlegen kann:

Aus "Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe" von H. Detering:

http://www.radikalkritik.de/GnostEin.pdf

Radikale Kritik versucht anhand zahlreicher Belege den Nachweis zu erbringen, daß Paulus in der Geschichte des frühen Christentums erst als ein verspäteter Gast in der Mitte des 2. Jahrhundert „neben eingekommen” ist. Wenn von „Paulus“ die Rede ist, so ist damit nicht die Person des Apostels, sondern die Literatur, die in seinem Namen verfaßt wurde, gemeint, für die nach radikalkritischer Auffassung kein anderer terminus a quo denkbar ist als das Ende des hadrianischen Zeitalters (117-138)20. Das Erscheinen der paulinischen Literatur steht somit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem zur selben Zeit aufkommenden Marcionitismus21, der sich von Anfang an auf die Briefe des Apostels berief („solus Paulus“22), um seine theologischen Gedanken im kirchenpolitischen Machtkampf des 2. Jahrhunderts zu legitimieren. Die paulinischen Briefe sind marcionitische Schreiben an und für marcionitische Gemeinden. In ihnen begegnet uns die Welt des zweiten Jahrhunderts (aus der marcionitischen Innensicht) hinter der fiktiven Folie des ersten.Gebrochen wird diese Sicht nur durch zahlreiche spätere Einschübe, die auf das Konto großkirchlicher Bearbeiter gehen (über die im nächsten Abschnitt noch Näheres gesagt werden soll).

Die Briefe sind pseudepigraphische Dokumente, verfaßt im Namen der legendären Gestalt des Apostels Paulus aus dem ersten Jahrhundert. Die Spuren des Legendenhaften sind auch in den paulinischen Briefen noch allenthalben greifbar; Tierkampf in Ephesus, 1 Kor 15:32 (vgl. die Pauluslegende von AP fr. 4. lin. 1ff 23) ; allerlei Wundertaten (Röm 15,19; 2 Kor 12,12), die Selbststilisierung des Apostels (Gal 1,16; 1 Kor 3,10; 4,11-13.16; 9,19-27; 11,1; Phil 1,29f; 2,17: 3,17; 1Thess 1,6). Über den historischen Kern der zugrundeliegenden Pauluslegende läßt sich wenig historisch Zuverlässiges sagen. Die vom Verfasser der erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts abgeschlossenen Apostelgeschichte entworfene Paulus-“Biographie“ ist ein durch und durch tendenziöses Werk und als Quelle für den historischen Paulus praktisch wertlos. Die vom Verfasser konzipierte Gestalt des Apostels ist, wie schon Bruno Bauer beobachtete24, ein abgeschattetes Pendant des ihm in allem vorangehenden Petrus, ohne jedes individuelle Leben, und stellt ein reines Kunstprodukt der katholischen Kirche in der Mitte des 2. Jahrhunderts dar, mit dessen Hilfe sie das antinomistische Paulusbild der Briefe widerlegen und außer Kraft zu setzen versuchte (bezeichnenderweise weiß die Apostelgeschichte nichts von den Briefen des Apostels an dessen Gemeinden).

(...)

Die Briefe geben nicht nur einen Einblick in die inneren Parteienkämpfe der Marcioniten, sondern auch mit ihren äußeren Gegnern, unter denen die Katholiken und „Judaisten“ den ersten Platz einnehmen. Die kämpferische Leidenschaft des Verfassers in der Auseinandersetzung mit ihnen (z.B. 2 Kor 10-13) ist also keineswegs ein Indiz für die Echtheit der Briefe. Sie läßt sich ebensogut bzw. besser vor dem Hintergrund des 2. Jahrhunderts erklären, und zwar als Versuch eines marcionitischen Autors, die judaisierenden Gegner seiner Gegenwart unter der Maske des „Apostels“ zu bekämpfen. Möglicherweise handelt es sich um judenchristliche bzw. katholische Missionare, die im 2. Jahrhundert (Antoninus Pius) die marcionitischen Gemeinden bedrängten. Vor diesem Hintergrund versteht sich übrigens auch die Unschärfe und Unklarheit der in den Briefen dargestellten Verhältnisse und Beziehungen. Verständlicherweise konnte(n) die Autoren/der Autor keine Namen aus ihrer/seiner Gegenwart nennen, da sonst der pseudepigraphische Charakter ihrer Schreiben den Lesern sofort deutlich geworden wäre.

Nach übereinstimmender Meinung der Historiker gilt Marcion als der erste Herausgeber eines Kanons von 10 paulinischen Briefen. Die von ihm herausgegebenen Briefe sind vermutlich Produkte einer Schule, in deren Zusammenhang Menander, Satornil und Cerdo von den Kirchenvätern erwähnt werden und die ihrerseits alle auf den Erzhäretiker Simon, den sinistren Doppelgänger des Paulus im 1. Jahrhundert, zurückgeführt werden31. Ob die von Marcion unter dem Namen des Paulus herausgegebenen Schriften bereits Produkte seiner Vorgänger sind und dann von ihm überarbeitet wurden, oder ob sie auf das Konto der Gesinnungsgenossen und Schüler Marcions oder gar auf diesen selbst zurückgehen, läßt sich kaum entscheiden. Bei dem Galaterbrief, der kurz vor Marcions Exkommunikation (ca. 144 n.Chr.) verfaßt sein dürfte, könnte letzteres der Fall sein32. Allerdings gibt es neben Marcion noch eine Reihe anderer als Autoren oder Mitautoren in Frage kommender christlicher Lehrer, wie z.B. den oben genannten Cerdo33, Apelles (der in den Briefen möglicherweise als als Apollos figuriert) und dessen Begleiterin, die Visionärin Philumene. Um die Annahme einer bestimmten, literarisch hochbegabten und charismatischen Persönlichkeit innerhalb dieses Kreises, der den typisch paulinischen Stil (der sog. Hauptbriefe) prägte, wird man nicht umhinkönnen.

(...)

Die großkirchlichen Interpolationen - Gegnerfrage

Neben der Annahme einer marcionitischen Grundschicht der paulinischen Briefe gehört die These, daß diese Grundschicht in späterer Zeit einer großkirchlichen Korrektur unterzogen wurde, zu der zweiten grundlegenden Säule, auf der die radikalkritische Erklärung der paulinischen Briefe basiert.

Heute gilt die literarkritische Methode oft als antiquiert. Man möchte die neutestamentlichen Schriften gerne „kohärent“ lesen. Aber die Vorstellung, daß uns die einzelnen ntl. Schriften als unversehrtes Ganzes erhalten und überliefert sein könnten, zeugt von Weltfremdheit und mangelnder Vertrautheit mit den antiken Gepflogenheiten beim Umgang mit literarischen Werken. Wer sich näher mit antiker Literatur, insbesondere der frühchristlichen, befaßt, wird bald feststellen, daß die Annahme von Interpolationen, redaktionellen Einschüben etc. grundlegend für das Verständnis dieser Texte ist. Celsus schildert die literarischen Sitten der Christen seiner Zeit mit dem kritischen Abstand des Christengegners und behauptet, daß sie ihre heiligen Schriften, „wie Betrunkene, die selber Hand an sich legen“, ständig neu überarbeiten36. Mit Bezug auf Marcion deutet Tertullian Ähnliches an, wenn er die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Marcioniten mit einem Tauziehen vergleicht, bei dem er und Marcion ihre Kräfte erproben und „mit gleicher Anstrengung hin- und herziehen. Ich sage, ich habe die Wahrheit. Marcion sagt, er hat sie. Ich sage, Marcions ist gefälscht, Marcion sagt dasselbe von meiner“37.

Die literarkritische Methode hat ihre Berechtigung, auch wenn ihr in vielen Fällen der Charakter des Hypothetischen anhaftet und sich eine Interpolation nur in wenigen Fällen mit absoluter Sicherheit als solche identifizieren läßt. Zumindest im Hinblick auf die Paulusbriefe stellt sich die Situation sogar besser dar, weil sich die Literarkritik hier mit der Textkritik verbindet. Die Rekonstruktion der marcionitischen Textversion der Paulusbriefe ermöglicht in vielen Fällen einen Vergleich zwischen marcionitischer und katholischer Textversion (z.B. Röm 1:1-7 oder Röm 9-11). Die Annahme, daß der marcionitische Text ursprünglicher sei als der katholische, beruht also nicht auf bloßer Mutmaßung – wie in vielen anderen Fällen, in denen für eine literarkritische Vermutung keine handschriftliche Zeugen beigebracht werden können38 – sondern auf der Grundlage des rekonstruierten marcionitischen Textes und seinem Vergleich mit dem katholischen.

Wie die Analyse zeigt, ist der Charakter der zur marcionitischen Version der Paulusbriefe hinzukommenden Überarbeitungen in der Regel antimarcionitisch bzw. katholisch.

(...)
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke Chan,
was mir zuerst auffällt ist das fehlende Ziel oder Gesamtkonzept. Wohin soll das Ganze führen, was erklärt es besser als gängige Modelle? Nur so wäre eine völlige Änderung des Gehabten zu begründen, wenn für die neue Version in keinem Fall mehr oder schlüssigere Indizien vorhanden sind. In meinen Augen hinterlässt dieses Modell nur ein noch viel größeres schwarzes Loch als die gängige Sicht.
Besonders deutlich wird das für die zentrale Stellung des Markion. Den kennen wir doch gar nicht! Alle Angaben über ihn sind massiv gefärbt, da sie von seinen Gegnern stammen. Hier muss man sein Modell auf Sand bauen. Ich gebe zu, dass man, wie vorgestellt, mit Lüdemann einer Meinung sein und die Pastoralbriefe als Antwort auf Markion auffassen kann. Aber gerade die hält sowieso keiner für echte Paulusbriefe außer vielleicht hirngewaschene Vollchristen (ich hoffe, ich trete keinem zu nahe, sonst diskutieren wir das aus).
Du schreibst, dass die Radikalkritik den homogenen Schreibstil der im Gegensatz dazu stehenden Paulusbriefe anerkennt, ihn aber einem Fälscher des 2. Jh zuschreibt. Also Markion oder einem seiner Schüler.
Was waren dann seine theologischen Ziele, die sich in diesen Briefen widerspiegeln und warum hat die rechtgläubige Kirche genau die übernommen? Das erstaunlichste Dokument ist dann aber der "echte" Paulusbrief, der gar keine Lehrbotschaft enthält: der Brief an Philemon. Ist das ein Pausenfüller?
Die Pseudoepigraphien wie die Pastoralbriefe zeichnen sich dadurch aus, dass sie plumpe Fehler begehen, z.B., dass sie eine Kirchenhierarchie voraussetzen. Warum findet sich in den "echten" nichts dergleichen? Perfekte Fälschungen waren bei dem sehr eingeschränkten Horizont des Einzelnen etwas sehr Aufwändiges. Die äußerst vagen Hinweise auf "Zeichen und Wunder" stehen doch im krassen Gegensatz zu den unfreiwillig komischen Wundergeschichten in den Evangelien. Paulus erzählt von keinen konkreten Fällen, oder? Das Phantasiereichste sind seine Visionen. Diese Wendungen erhöhen m.E. den authentischen Eindruck der Briefe.
 
Die Pseudoepigraphien wie die Pastoralbriefe zeichnen sich dadurch aus, dass sie plumpe Fehler begehen, z.B., dass sie eine Kirchenhierarchie voraussetzen. Warum findet sich in den "echten" nichts dergleichen? Perfekte Fälschungen waren bei dem sehr eingeschränkten Horizont des Einzelnen etwas sehr Aufwändiges.

Die plumpen Fehler beweisen, was für raffinierte Fälscher da am Werk waren.

Sie haben nämlich nicht nur die "echten" Paulusbriefe perfekt gefälscht, sondern auch mit Absicht einige plump gefälschte Briefe fabriziert.

So verhinderten sie, dass der Fälschungsverdacht auf das gesamte Corpus fiel.
 
Bei der Gelegenheit fällt mir eine bessere Fälschung ein, übrigens wieder eine Lüdemann-These: 1 Thess und 2 Thess. 2 Thess versucht 1 Thess als Fälschung zu entlarven und nimmt die Naherwartung zurück (aus: Paulus, der Gründer des Christentums). Er imitiert den ersten Brief z.T. mit fast wörtlichen Zitaten. Hier wird die Pseudoepigraphie nur an der fehlenden vordergründigen Intention, an den kopierten Stellen und am eigentlichen Zweck offenbar.
 
Bei der Gelegenheit fällt mir eine bessere Fälschung ein, übrigens wieder eine Lüdemann-These: 1 Thess und 2 Thess. 2 Thess versucht 1 Thess als Fälschung zu entlarven und nimmt die Naherwartung zurück (aus: Paulus, der Gründer des Christentums).

Bessere Fälschung?
Lüdemann-These?

Dass im 2 Thess mit der Naherwartung etwas faul sein könnte, ist schon 200 Jahre früher einem Theologen namens Johann Ernst Christian Schmidt ("Vermutungen über die beiden Briefe an die Thessalonicher") aufgefallen. Schmidts Schlussfolgerung: Der 2 Thess stammt nicht von Paulus.

Dass aber die "echten" Briefe alle gefälscht sind, darauf ist weder Schmidt noch Lüdemann gekommen. Alle sind drauf reingefallen. So raffiniert waren die Fälscher!
 
Da es hier hauptsächlich um die Fälschungsfrage geht, bin ich so frei, den gegenwärtigen Wortführer der Radikalkritik ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, der besser als jeder andere die radikalkritische Position zu diesem Thema darlegen kann:

Aus "Gnosis, Marcionitismus und die Spätdatierung der Paulusbriefe" von H. Detering:

Radikale Kritik versucht anhand zahlreicher Belege den Nachweis zu erbringen,...


Um die "hauptsächliche" Fälschungsfrage zu diskutieren, ist zunächst die Datierungsfrage der (verschiedenen) Paulinischen Corpora zu klären. Weiterhin ist bzgl. des Forschungskonsenses über Fälschungen der Autorenschaft wesentlich, wie überhaupt das antike "Kopierverhalten", die Verteilungsübung und der Gebrauch zu werten sind.

Das ist wichtig, um einzelne theologische Dispute über Auslegung und Inhalte von der historischen Diskussion zu trennen. "Radikalkritik" und ihre Ziele (ebenso wie ihre Gegenparts) interessieren deshalb erst mal überhaupt nicht.

Wie unwichtig das (Radikalkritik) und der (=Detering) für die historische Forschung zu den Corpore und frühen Quellen, ihre Entstehung, Nachweis und Sammlung ist, sieht man daran, dass sich papyrologische Forschung, internationale historische Forschung zu den Manuskripten, diesbezügliche Textkritik und Wertung der "Editionen" dafür überhaupt nicht interessiert und die Rezeption im Unkenntlichen vernachlässigbar ist.

Zum Stand: Parker, An introduction to the New Testament Manuscripts and their Texts, 2008. Hill/Kruger, The Early Text of the New Testament, 2012.

Im Übrigen kann man - vor der Diskussion - zunächst einmal den Kontext betrachten, der konsensual so beschrieben wird, dass im frühen Christentum zwar Schriften eine bedeutende Rolle spielten, aber die "Verbindlichkeit" und die "Grenzen" in Form eines fixierten Kanons (damit auch die Abgrenzung zu den jüdischen Schriften) keine wesentliche Rolle spielten, und sich diese Fixierungstendenzen erst im Verlauf des 2. Jhdts. ergaben.

Zum Corpus Paulinum:

Mit Ausnahme der Papyri P32 und P46 sind die übrigen frühen Nachweise im Wesentlichen dem 3. und frühen 4. Jahrhundert zuzuordnen (Hill/Kruger: P 12, 13, 15, 27, 49, 65, 87 etc.).

Die Textanalysen und Vergleiche (u.a. Alexandrinisch, West-, Ost-Corpora) würden hier den den Rahmen sprengen, daher Verweis auf Parker.

Interessant ist, ab wann ein "Korpus" angenommen wird. Nach der Zuntz-Hypothese ist das um 100 gegeben, da Clement in 96 sich offenbar nur auf 3 Briefe stützt (so auch Aland-Hypothese), während Ignatius einige Jahre nach 100 von einer größeren Kollektion ausgeht. Einzelne Autoren wie Trobisch nehmen eine Kollektion bereits für Paul an. Als nachgewiesene älteste Kollektion wird weiter die von Marcion akzeptiert, mit 10 Briefen in einem sortierten 7er Kanon.

Eine Serie von Autoren nachgend Gamble, Books and Letters, bringt hier übrigens ganz weltlich die Kostenfrage in die Diskussion, da die Abschriften

a) immens teuer waren (was kleinere und divergierende "Kollektionen" erklären würde), indem sie für den Zeitraum Analysen auch von nichtschristlichen Schriftkopien und ihrer Distribution analysieren.

b) technische "Innovationen" erforderte, da die Paulus-Briefe bereits einzeln übliche Dimensionen sprengten, und zB P46 ca. 3 Meter "in Rolle" abmessen würde.

Nach der Schmidt-Hypothese hat so Marcion einen 10-Briefe-Kanon "übernommen", der einige Jahrzehnte alt gewesen sei.

Das nächste Stück eines Nachweises ist der Kanon Muratori, der textkritisch auf ca. 170 datiert wird, vorhanden in einem lateinischen Manuskript aus dem 8. Jhdt. Das Besondere ist hier nach Parker, dass das Muratori-Fragment offenbar 2 verschiedene Brieflisten verwendet, und mit dieser Sortierung mit dem 7er Kanon von Marcion übereinstimmt.

Die Datierung von ca. 170 leitet auch auf P46 über, das 208 Seiten umfasst hat.

Interessant auch die Abweichung zu den griechischen Manuskripten, etwa Codex Sinaiticus, der 14 Briefe (statt 10) umfasste. Diese Abweichungen und Varianten waren nicht etwa mit dem 2. Jhdt. beendet, sondern setzten sich auch in späteren Jsahrhunderten fort (so analysiert Parker einen "Z-Kanon" für etwa 350, aus dem sich spätere Varianten (so auch "X", dem Text der Tertullian-Bibel) entwickelten.

Die möglichen Thesen, die daraus abgeleitet wurden, sind oben in der Parker-Darstellung #12 enthalten. Gab es eine "authentische" Kollektion von 14 Briefen (die laut Detering "verfälscht" wurden, obwohl völlig unklar ist, ob dieser eine Ur-Kanon existierte), oder waren die Weitergaben und Kopien stets "hybrid" (wie die "Kosten-These" oder Parkers Textanalysen nahelegen).

Derzeit ist laut Parker keine Antwort möglich und die Edition Critica Maior abzuwarten, die etwa 2030 als Projekt abgeschlossen sein soll. Dabei ist aus den Textüberlieferungen und Dokumentanalysen zB auch das "Gewicht" zu bestimmen, das etwa den alexandrinischen Editoren (und den übrigen westlichen und östlichen Quellen) beizumessen ist.

Wenn man sich die Komplexität und interdisziplinären Analysen in den internationalen Publikationen dazu anschaut, bleibt für die "radikalkritischen" Erwägungen bereits durch die simplifizierten Text"interpretationen" mangels Wissenschaftlichkeit nur der Weg in die Tonne.
 
Um den Kontext der Verteilung der Briefe zu verstehen, sollte man die "Kosten-Hypothese" um den in der Literatur beschriebenen "Schneeball-Effekt" ergänzen.

Diese Hypothese zeigt deutlich die Zäsur auf, die mit der Sammlung und Ordnung der Edition irgendwann zwischen 100 und 150 begann, die - mangels verschwörerischen "Masterplan" auch die Frage der "Fälschung" erhellt. Warum diese Editierungen erfolgten, mglw. auch in Abgrenzung zur bisherigen Praxis, bleibt spekulativ:

"At some point, Paul’s correspondence was acknowledged to have a wider or more universal application. Other communities, recognising the enduring apostolic and pastoral value of Paul’s letters, acquired copies of letters from neighbouring congregations. As a consequence of such sharing, the collection probably grew incrementally. Commonly called the ‘snowball’ or ‘gradual-collection’ theory, this approach to understanding the development of the Pauline corpus was championed widely in the late nineteenth and early twentieth centuries.9 Proponents of this approach argue that each letter of Paul, which would have been read and reread by the original addressees, gradually found its way to other communities. The assumption is that Paul’s letters had been carried and circulated by significant church leaders in the same way that Paul had his letters delivered by such messengers as Timothy and others (see 1 Thess. 5:27). But it was not until the second century that collections of Paul’s letters emerged."

The Pauline letters as community documents (Ian J. Elmer), in: Neil/Allen: Collecting Early Christian Letters.


"Our three earliest surviving canons of Pauline letters, the Marcionite canon, Muratorian canon and P46, all date from the middle to late second century – although between the three there remain variations in the order and the number of Paul’s letters. Despite the inherent plausibility of the ‘gradual-collection’ proposition, there is no evidence that such small collections existed.

Zu unterscheiden ist, dass die Zweifel über die Verfügbarkeit eines Ur-Kanons für "marcionitische Zwecke" nicht damit zu tun hat, welche Zirkulation die Forschung für diverse "Editionen" und einzelne Briefe annimmt.

Weshalb Detering hier religiös-ideologisch motivierten Unsinn schreibt, der nichts mit der Rezeption des Forschungsstandes zu tun hat:

Chan/Detering: schrieb:
Das Erscheinen der paulinischen Literatur steht somit in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem zur selben Zeit aufkommenden Marcionitismus, der sich von Anfang an auf die Briefe des Apostels berief („solus Paulus“), um seine theologischen Gedanken im kirchenpolitischen Machtkampf des 2. Jahrhunderts zu legitimieren. Die paulinischen Briefe sind marcionitische Schreiben an und für marcionitische Gemeinden.
 
Zurück
Oben