Erinnerungskultur - Was ist wichtig für die Deutschen?

"Verzeihung, natürlich ist es grundsätzlich falsch zwischen die sowjetische und die NS-Okkupation einfach ein Gleicheitszeichen zu packen."
Das habe ich ja gar nicht bestritten. Ich denke nur, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn man sich die Frage, um wie viel verwerflicher der Nationalsozialismus als der Stalinismus war (oder gar umgekehrt), einfach nicht stellt. Das macht, um das noch einmal zu sagen, gerade die polnische Perspektive deutlich. Wenn heute vielleicht vermehrt an das stalinistische Unrecht erinnert wird, werden die deutschen Taten deswegen doch nicht als relativ weniger verwerflich empfunden.

Wer an die stalinistischen Verbrechen erinnert, muss nicht ständig im Hinterkopf behalten, oder in einer Fußnote anmerken, dass sie ja Gott sei Dank von anderer Natur als die nationalsozialistischen und auch nicht so schlimm wie diese waren.
 
Ich denke nur, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn man sich die Frage, um wie viel verwerflicher der Nationalsozialismus als der Stalinismus war (oder gar umgekehrt), einfach nicht stellt.

Die Frage der "Verwerflichkeit" ist ein nachgelagerter Schritt der Bewertung. Es geht um neutrale Rekonstruktion und Verständnis der politischen Systeme. Dazu gibt eine umfangreiche Literatur zum "Totalitarismus". Diese hat Ähnlichkeiten und Unterschiede des Stalinismus und des NS-System gut beschrieben. Das ist die einzige komparative wissenschaftliche Sicht. Der Rest bewegt sich im Bereich der politischen Instrumentalisierung.

Es ist im Forum eigentlich Konsens, dass Unrecht nicht gegeneinander aufgewogen werden kann. Deswegen relativiert das eine Unrecht nicht das andere.

Und auf diese neutrale Rekonstruktion sollte ein Geschichtsbild aufgebaut sein, um nationalistische Überheblichkeit keinen Boden zu bieten und den Respekt und das Verständnis für die historische Entwicklung anderer Völker zu fördern.

Und das heißt, dass die Polen kritisch ihre Vergangenheit aufarbeiten, die Deutschen das gleiche tun und die Russen aufgefordert sind, auch weiterhin kritisch den Stalinismus zu beleuchten.

Geyer, Michael; Fitzpatrick, Sheila (Hg.) (2009): Beyond totalitarianism. Stalinism and Nazism compared. Cambridge: Cambridge Univ. Press.
Kershaw, Ian; Lewin, Moshe (Hg.) (1997): Stalinism and nazism. Dictatorships in comparison. Cambridge: Cambridge University Press.
 
Ich denke nur, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn man sich die Frage, um wie viel verwerflicher der Nationalsozialismus als der Stalinismus war (oder gar umgekehrt), einfach nicht stellt. Das macht, um das noch einmal zu sagen, gerade die polnische Perspektive deutlich. Wenn heute vielleicht vermehrt an das stalinistische Unrecht erinnert wird, werden die deutschen Taten deswegen doch nicht als relativ weniger verwerflich empfunden.

Ich halte es sogar für sehr sinnvoll diese Frage außen vor zu lassen, weil sie zum einen eine Vergleichbarkeit der beiden Regimes suggerieren würde, die so nicht gegeben ist, da sie eben auf sehr verschiedene Methoden zurückgriffen und außerdem, weil dann auch subjektive, persönliche oder Familienschicksale eine Rolle spielen können, die bei der Bewertung den Ausschlag für die eine oder andere Seite geben, was dann möglicherweise emotional verständlich begründbar ist, aber eben nicht rational.
Das Problem ist bei Vergleichen, wie gesagt nicht irgendeine Aufrechnung von Schuld oder Verbrechen, das wären dann emotionale, politische oder juristische Kategorien, aber keine Historischen.
Ein Problem im Hinblick auf Geschichtsbilder gibt es allerdings doch, wenn die Vorgehensweise und Handlungsweise der jeweiligen Regime nicht mehr differenziert betrachtet da wiederrum liegt das Problem der Sinnhaftigkeit von Vergleichen.

Wer an die stalinistischen Verbrechen erinnert, muss nicht ständig im Hinterkopf behalten, oder in einer Fußnote anmerken, dass sie ja Gott sei Dank von anderer Natur als die nationalsozialistischen und auch nicht so schlimm wie diese waren.
Letzteres, Vermessung, wie schlimm auf einer Skala von schlimm bis ganz schlimm nun etwas ist, ist eine persönliche Bewertung, die in das Gechichtsbild an und für sich ohnehin nicht rein gehört.
Darüber hinaus, wenn es einigermaßen konsequent und umfassend sein soll, muss ersteres eben gerade doch geleistet werden, weil es diese Verbrechen eben auch gab und sich das Vorgehen beider Regimes nach Kriegsbeginn, schon durch den Hitler-Stalin-Pakt auch gegenseitig bedingte.
Die sowjetische Okkupation war eine Folge der deutschen Agression und des Kriegsveraufs und deswegen kann man (mMn) nicht mal eben eine Bewertung der stalinistischen Politik in Polen vornehmen und die NS-Deutsche dabei vollkommen außen vor lassen.
Wie gesagt, emotional für einzelne Familienschicksale mag das ei e oder das andere das beherrschende Thema sein.

Es gibt ja auch genügend Deutsche, für die auf Grund ihrer persönlichen Erfahrung die Auseinandersetzung mit der DDR ein weit größeres Thema ist, als die Auseinandersetzung mit dem NS. Das ist auf persönlicher, emotionaler und psychischer Ebene auch vollkommen in Ordnung, aber zum allgemeinen akzeptierbaren GEschichtsbild und der öffentlichen Erinnerungskultur taugt es nicht, da müsste man sich von dieser Sicht schon lösen.
 
Ich möchte die Diskussion gar nicht in die Länge ziehen, wenn es eigentlich keinen Widerspruch gibt. Vielleicht noch eine Frage. Shinigami sagt: "Vermessung, wie schlimm auf einer Skala von schlimm bis ganz schlimm nun etwas ist, ist eine persönliche Bewertung, die in das Gechichtsbild an und für sich ohnehin nicht rein gehört." Dass etwa der Nationalsozialismus schlimm war, sollte wohl nicht nur die Bewertung von fast allen Einzelnen sein, sondern auch ein breiter Konsens der Gesellschaft als ganzes. Wenn ein Historiker diese Bewertung gelegentlich wiederholt, spricht er dann nicht mehr in dem Rahmen, den ihm seine Profession vorgibt, sondern nur noch als Mensch mit eigenem ethischem Urteil?
 
Dass etwa der Nationalsozialismus schlimm war, sollte wohl nicht nur die Bewertung von fast allen Einzelnen sein, sondern auch ein breiter Konsens der Gesellschaft als ganzes.
Und eben genau das ist eine Kategorie die mit Geschichte und Erinnerungskultur wenig zu tun hat. Natürlich ist es wünschenswert, wenn die Gesellschaft in einem breiten Konsens die Praktiken des NS ablehnt. Nur ist die Geschichtsschreibung nicht für Volkserziehung verantwortlich um die Leute eben da hin zu bringen, diese Praktiken abzulehnen

Wenn ein Historiker diese Bewertung gelegentlich wiederholt, spricht er dann nicht mehr in dem Rahmen, den ihm seine Profession vorgibt, sondern nur noch als Mensch mit eigenem ethischem Urteil?
Ich würde meinen letzteres. Und um da nicht falsch verstanden zu werden, ist es auch vollkommen in Ordnung, wenn er das tut.
Allerding sind wie auch immer bewertende Adjektive einmal keine überprüfbaren Tatsachen und können somit auch keine allgemeine Gültigkeit und Akzeptanz aus sich selbst heraus beanspruchen.
Was genau qualifiziert den historiker denn zu moralischen Urteilen, die so hinzunehmen und zu teilen sind und warum sollte die Gesellschaft einen Historiker benötigen, um zu verstehen, dass Weltkriege und Genozide moralisch anrüchig sein könnten?

Ich denke sich ein entsprechendes Urteil zu bilden, kann man jeder erwachsenen Person so gerade eben noch zutrauen, was solche Dinge betrifft.
 
Gestern Abend gab es einen interessanten Beitrag in "ttt" zur Erinnerungskultur des offiziellen, politischen Deutschlands und der öffentlichen Meinung.

Götz Aly kritisierte die "lustlose" Haltung der Regierung, anzuerkennen, dass auch Millionen von Russen gefallen sind im WW2, auch um Deutschland vom NS-System zu befreien. Konkret ging es dabei um die Frage, ob und wie die Regierung an den Feierlichkeiten zu Ehren der Roten Armee des WW2 in Moskau teilnehmen soll.

Karl Schlögel sprach sich gegen eine Teilnahme aus, da er die Gefahr der Instrumentalisierung sah für die Politik von Putin. Erstaunlicherweise sprach sich Jörg Baberowski entschieden für eine Teilnahme aus, da durch die Teilnahme eine Ehrung der Toten des WW2 erfolgt und keine Ehrung von Putin vorgenommen wird.

Zudem wies er darauf hin, dass auch Oppositionelle zu Putin kein Verständnis zeigen würden, wenn man den Toten aus dieser Periode keinen Respekt aus deutscher Seite zeigen würde. Und meinte, dass würde auch der Haltung der Mehrheit des russischen Volkes entsprechen.

https://www.daserste.de/information...ng/streit-gedenken-zweiter-weltkrieg-100.html

Insgesamt zeigt sich eine zweigeteilte Erinnerungskultur, die den Toten aus dem Westen Respekt entgegenbringt und den Toten der Roten Armee keinen Respekt zeigt. Und das hat, so Aly. in Deutschland eine lange und nicht ausreichend kritisch hinterfragte Tradition.

Es wäre höchste Zeit, so Aly, auch das sowjetische Ehrenmal, beispielsweise in Treptow, in den offiziellen Kalender der staatlichen Ehrungen einzubeziehen und auch diesen Toten den angemessenen Respekt zu zeigen.
 
Die Frage ist doch eigentlich nicht ob, sondern wie, auf welche Art und Weise dieser Respekt gezeigt werden sollte. Denn die Folgen sind doch auch mit zu berücksichtigen.
 
1. In der Regel wurde der Respekt den Opfern gegenüber gezeigt, durch die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen.

- a. durch die Teilnahme an den Gedenkfeierlichkeiten in Moskau.
- b. durch ein offizielles Gedenken der Toten in Treptow.

2. Die Folgen sind zu bedenken und genau das betont ja Baberowski.
 
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