Teil I
Am 10.6.1940 begannen deutsche Truppen die Offensive im Westen gegen die Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien. Sie überschritten dazu ohne Kriegserklärung die belgische, niederländische und luxemburgische Grenze. Vorausgegangen war aufgrund des deutschen Einmarsches in Polen und der nachfolgenden Kriegserklärung der alliierten Westmächte ein mehrmonatiger „Sitzkrieg“ an der deutsch-französischen Front, eine Phase des Abwartens, bei der sich beide Seiten auf den bevorstehenden möglichen Feldzug vorbereiteten. In den Planungen beider Seiten spielte von Beginn an die Haltung Belgiens aus strategischen Gründen eine herausragende Rolle. Während England und Frankreich eine Wiederholung des deutschen offensiven Vorgehens über belgisches Territorium wie 1914 fürchteten, waren die deutschen Überlegungen durch die Besorgnis bestimmt, das die Westmächte unter Mitwirkung oder sogar gegen den Willen Belgiens strategische Aufmarschpositionen gegen deutsche Industriegebiete für die weitere Kriegsführung besetzen könnten. Im folgenden wird die Vorgeschichte des deutschen Angriffs darlegen, wobei der Schwerpunkt sachbedingt auf Belgien gelegt wird.
1. Die Entwicklung bis zum Ausbruch des europäischen Krieges am 3.9.1939
Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges und der Aufhebung seiner Neutralität 1919 orientierte sich Belgien zunächst außenpolitisch an Frankreich. Aufgrund des Versailler Vertrages erhielt Belgien vom Deutschen Reich die Gebiete von Eupen-Malmedy und Moresnet, außerdem das Mandat des Völkerbundes über die bislang deutsche Kolonie Ruanda-Urundi.
Noch im gleichen Jahr 1919 schloss Belgien eine Militärkonvention mit Frankreich ab und beteiligte sich im Rahmen dieses Abkommens ab 1923 auch an der Besetzung des Ruhrgebietes. In Jahr 1925 schloss es neben Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern den Vertrag von Locarno mit dem Deutschen Reich, der die Unverletzlichkeit der bestehenden deutschen Westgrenze, d. h. auch der veränderten belgisch-deutschen Grenze als Folge des Ersten Weltkrieges garantierte.
Die durch Hitler von der deutschen Seite veranlasste Aufkündigung des Locarno-Vertrages in 1936, parallel zu seiner Verletzung durch die Besetzung des Rheinlandes, beendete das bisher bestehende westeuropäische Sicherheits- und Paktsystem. (1) Die Folge war, dass in den westeuropäischen Staaten nunmehr intensive Überlegungen einsetzten, welches Sicherheitssystem an Stelle der bisherigen Verträge treten könne, so auch in Belgien. (2) Die notwendige werdende Neuorientierung für Belgien vollzog König Leopold III., indem er 1936 nach der deutschen Aufkündigung des Locarno-Vertrages seinerseits die vertragliche Anlehnung an den Westen wieder aufgab, die bestehende Militärkonvention mit Frankreich kündigte und in der Folge Belgien für neutral erklärte. Das offizielle Signal hierzu setzte König Leopold III. in seiner Kabinettsrede am 14.10.1936, nachdem sich bereits in den bilateralen Gesprächen seit Juli 1936 gegenüber den bisherigen Verbündeten die belgische Kehrtwendung zur Neutralitätspolitik andeutete. (3) Belgien erklärte damit erneut außenpolitisch seine Neutralität, die es 1919 mit dem Versailler Vertrag, später ergänzt durch den Vertrag von Locarno, aufgegeben hatte.
Die veränderte belgische Position löste auch unmittelbar Diskussionen in den Abstimmungsgesprächen zwischen der französischen und britischen Regierung aus. In einer französisch-englischen Erklärung vom 24.4.1937 wurde als Folge der veränderten politischen Rahmenbedingungen gegenüber Belgien eine militärische (Beistands-) Erklärung für den Fall abgegeben, dass es von einem dritten Land, und hiermit war Deutschland gemeint, angegriffen wird. (4) Zugleich wurde der belgische Ausstieg aus dem Sicherheits- und Beistandssystem des Locarno-Vertrages durch Frankreich und England bestätigt, die Neutralität wurde nochmals offiziell durch die Erklärung anerkannt. (5)
Im Abstand von einigen Monaten, nämlich im Oktober 1937, erkannte auch das Deutsche Reich die Neutralität Belgiens im Zuge eines ausgetauschten Notenwechsel unter der allgemein üblichen außenpolitischen Bedingung und in Wiederholung der britisch-französischen Erklärung an, dass auch dritte Länder seine Neutralität beachten würden. (6)
Die nur im engen Kreis vorgetragenen persönlichen Überlegungen, (7) die sich bei Hitler aus der veränderten belgischen Position ergaben, fanden wenig später einen ersten Niederschlag im November 1937 im so genannten Hossbach-Protokoll. Hitler (8) führte danach in seinen strategischen Überlegungen aus, dass die deutsche Politik nunmehr künftig mit den beiden möglichen Gegnern England und Frankreich (9) zu rechnen habe. Ohne dass England helfend eingreifen würde, sei allerdings mit einem Durchmarsch Frankreichs durch Belgien und Holland nicht zu rechnen. Hitler betrachtete in dieser Phase die Lage gegenüber Großbritannien als ungeklärt und hoffte auf eine Interessenverständigung. Daraus folgerte er auch umgekehrt für die deutsche Seite, dass bei einem möglichen Konflikt mit Frankreich der deutsche Durchmarsch durch Belgien außerhalb jeder Betrachtung bleiben müsse. Dieses würde ansonsten nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in jedem Fall die Feindschaft Englands direkt zur Folge haben. (10)
Die bei Hitler in dieser Phase noch vorherrschende Überlegung, Großbritannien in seine eigenen politischen Ziele bei der Ausweitung des deutschen Einflussgebietes einzubinden und eine Auseinandersetzung zu vermeiden, führte ihn also zu dem logischen Schluss, auch die belgische Neutralität in diesem Kontext unbedingt zu beachten. (11) Allerdings ist in seinen Ausführungen laut Hossbach-Protokoll bereits die strategische Überlegung offenbar, in einem künftigen deutschen Konflikt im Westen mit der Gefährdung der deutschen Westgrenze durch eine über belgisches Territorium vorgetragene Offensive konfrontiert werden zu können. Diese Überlegung Hitlers folgt historischen Vorgaben, da die deutschen Truppen 1914 in gleicher Weise über belgisches Territorium vorgegangen waren und ein Vorgehen Frankreichs südlich der belgischen Grenze als unwahrscheinlich und zu dieser Zeit als wenig Erfolg versprechend angesehen wurde.
Ein weiterer Hinweis auf Hitlers Einstellung zur Neutralität der kleineren europäischen Länder findet sich im weiteren Verlauf am 21.1.1939 in einer Unterredung mit dem tschechoslowakischen Außenminister Chvalkowsky. Hitler führte ihm gegenüber aus, dass die Stärke der holländischen und dänischen Armee nicht in ihnen selbst liegen würde, sondern in dem Wissen der Welt um die absolute Neutralität der Staaten. Bei Belgien lägen allerdings die Dinge nach Auffassung anders, da dieses Land Abmachungen mit dem Generalstab Frankreich getroffen habe. (12)
Diese, die Neutralität nicht verletzenden Kontakte Belgiens zu den Westmächten, resultierten aus der Erfahrung des ersten Weltkrieges und der belgischen Befürchtung, die deutschen militärischen Pläne würden für einen Kriegsfall die Verletzung der belgischen Neutralität mit Gewissheit vorsehen. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Besprechungen in der Realität und auch aus damaliger belgischer Sicht keinen offensiven Charakter sich trugen, sondern ausschließlich der Verteidigung des Landes im Fall eines deutschen Überfalls dienen sollten.
Bemerkenswert im Hossbach-Protokoll ist weiterhin der Hinweis Hitlers auf die „absolute“ Neutralität als Voraussetzung derselben. Dieses ist ein politisch ausfüllbarer und beliebig zu beurteilender Begriff. Daneben ist die Tatsache bemerkenswert, dass er bereits die Gespräche Belgiens mit den Westmächten (feste Absprachen zwischen den Generalstäben existierten tatsächlich nicht) als Verletzung der Neutralität ansah. Schließlich ist auf den vorherigen deutschen Bruch des Locarno-Vertrages als Grenz- und Sicherheitsgarantie zwischen beiden Ländern hinweisen, dessen vertraglich vorgesehene Kündigungsklauseln zunächst durch Deutschland nicht eingehalten worden waren, woraus sich die belgische Reaktion in der Folgezeit unmittelbar ergab. Während die Befürchtungen Belgiens gegenüber Deutschland einen realen Hintergrund in der Außenpolitik Deutschlands bis 1939 fanden (Österreich, Tschechoslowakei, Memelgebiet, Danzig), bestand für ähnliche Befürchtungen Belgiens den Westmächten gegenüber kein Anlass.
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1 Scheil, Fünf plus Zwei, S. 438, schreibt hierzu, dass die europäische Politik durch die Aufkündigung des Locarno-Vertrages wieder ihren gewohnten Gang aufnahm und zu den nationalen Eigeninteressen statt des Systems der kollektiven Sicherheit überging. Abgesehen von der damit verbundenen Banalisierung des deutschen Vertragsbruches ist der Schluss richtig, dass Belgien nur der Schritt zur Erklärung der Neutralität blieb, nachdem die Westmächte diesen Vorgang des Vertragsbruches hingenommen hatten. Falsch ist jedoch die Folgerung, dass Belgien mit der Annahme der Akzeptanzerklärungen sowohl der Westmächte als auch Deutschlands einen besonderen Status der „Unabhängigkeit“ selbst geschaffen habe. Die Akzeptanzerklärungen standen lediglich unter dem diplomatisch üblichen Vorbehalt der allseitigen Anerkennung. Im Übrigen konnten diese Akzeptanzerklärungen von der belgischen Seite nicht beeinflusst werden, die Einschränkung ging also von den beteiligten Großmächten aus. Die deutsche Note gab Belgien auch nicht einem Einmarsch preis, sondern setzte die vorherige Verletzung der Neutralität durch ein drittes Land bedingend voraus. Belgien war nicht „durch die Neutralitätserklärung“ zwischen die Fronten geraten, sondern in direkter Folge aufgrund seiner geographischen Lage und verursacht durch die deutsche Aufkündigung des Locarno-Paktes, siehe ebenda, S. 439 und 440.
2 HMSO, GS I, 616
3 HMSO, GS I, 616
4 HMSO, GS II, 157
5 HMSO, GS I, 623
6 Der Notenwechsel vom 13.10.1937 ist abgedruckt in ADAP, V, Nr. 475.
7 Die Ausführungen sollten für Hitler testamentarischen Charakter im Falle eines Ablebens entwickeln, sie wurden im engsten Kreis vorgetragen; Hitler soll dabei von dem vorausgehenden Mussolini-Besuch und dessen außenpolitischen Erfolgen stark beeindruckt gewesen sein, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 188.
8 Hitler hatte am 4.2.1938 den Oberbefehl über die Führung der Wehrmacht übernommen, zu den Auswirkungen Warlimont, Wehrmacht, S. 27.
9 Diese Linie Hitlers , die Haltung gegenüber den so bezeichneten „Hassgegnern“ England und Frankreich im Hoßbach - Protokoll, findet sich bestätigend ein zweites Mal auch in der Ansprache gegenüber den Wehrmachtsbefehlshabern vom 22.8.1939 kurz vor Ausbruch des Krieges, vgl. IMT, XXII, S. 502. Ferner zum Beispiel im Gespräch mit Ciano, IMT, III, 255. Die Bedeutung seiner Ausführungen für Hitler selbst lässt sich aus dem Verweis auf Friedrich den Großen und Bismarck schließen; auch deren Handlungen seien von großem Risiko und großer Schnelligkeit in der Durchführung geprägt gewesen. Mit seinen nachfolgenden Entscheidungen sah sich wohl Hitler in einer direkten Linie, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 188.
10 IMT, XXV, 402 ff., 386-PS. Die Ausführungen sollen für den Teilnehmerkreis überraschend gekommen sein, selbst für Göring, was Hoßbach aus seinem spontanen Vorschlag in der Diskussion schließt, das „Spanien-Unternehmen“ einzustellen, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 191. Hoßbach deutet auch die Diskussionsbeiträge als glatte Ablehnung der außenpolitischen Pläne durch die Heeresführung. Blomberg, Fritsch und von Neurath waren innerhalb von drei Monaten verabschiedet. Zum Inhalt führt Neurath aus: „ Die Aufzeichnung über den Inhalt dieser Ansprache ist … aus dem so genannten Hoßbach-Protokoll, fünf Tage nach der Ansprache im Auszug aus einer zwei- oder dreistündigen Rede aus dem Gedächtnis gemacht worden. Wenn diese von Hitler in dieser langen Rede vorgetragenen Pläne auch keinen konkreten Inhalt hatten und die verschiedenen Möglichkeiten zuließen, war doch für mich zu erkennen, dass die Gesamttendenz seiner Pläne aggressiver Natur waren.“ Neurath, Fritsch und Beck besprachen etwas zwei Tage danach, was sie unternehmen konnten, um „Hitler umzustimmen“, vgl. IMT, XVI, S. 699-701.
11 Die zum Beispiel bei Kluge, Hoßbach-Niederschrift, vorgetragenen Einwände gegen die Echtheit der im Nürnberger Tribunal zum Beweis zugelassenen Abschrift des Protokolls sind sowohl in juristischer als auch in historischer Hinsicht irrelevant. Unter beiden Aspekten fügt sich die Abschrift des Protokolls, auch unter Beachtung aller möglichen Ungenauigkeiten im Detail und der möglichen Fehlerhaftigkeit in den wiedergegebenen Formulierungen Hitlers, in eine ganze Reihe von Dokumenten ein, die die Überlegungen Hitlers in der Eskalationspolitik bis zum Ausbruch des Krieges am 1.9.1939 wiedergeben. Zudem ist diese Kritik für den hier dargestellten Zusammenhang in der Einstellung Hitlers zur Neutralität der Beneluxländer nicht einschlägig. Zur Entstehung der Hoßbach-Niederschrift vgl. Bußmann, VfZ 1968, S. 373.
12 IMT, VII, 237
IMT: Internationales Militärtribunal Nürnberg, Blaue Bände
HMSO, GS: Butler, Grand Strategy, Volume I-VI
ADAP: Akten zur Auswärtigen Deutschen Politik
AA: Auswärtiges Amt, Dokumente zum Kriegsausbruch
EDIT: Fehler nach Hinweis von amicus berichtigt.
Am 10.6.1940 begannen deutsche Truppen die Offensive im Westen gegen die Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien. Sie überschritten dazu ohne Kriegserklärung die belgische, niederländische und luxemburgische Grenze. Vorausgegangen war aufgrund des deutschen Einmarsches in Polen und der nachfolgenden Kriegserklärung der alliierten Westmächte ein mehrmonatiger „Sitzkrieg“ an der deutsch-französischen Front, eine Phase des Abwartens, bei der sich beide Seiten auf den bevorstehenden möglichen Feldzug vorbereiteten. In den Planungen beider Seiten spielte von Beginn an die Haltung Belgiens aus strategischen Gründen eine herausragende Rolle. Während England und Frankreich eine Wiederholung des deutschen offensiven Vorgehens über belgisches Territorium wie 1914 fürchteten, waren die deutschen Überlegungen durch die Besorgnis bestimmt, das die Westmächte unter Mitwirkung oder sogar gegen den Willen Belgiens strategische Aufmarschpositionen gegen deutsche Industriegebiete für die weitere Kriegsführung besetzen könnten. Im folgenden wird die Vorgeschichte des deutschen Angriffs darlegen, wobei der Schwerpunkt sachbedingt auf Belgien gelegt wird.
1. Die Entwicklung bis zum Ausbruch des europäischen Krieges am 3.9.1939
Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges und der Aufhebung seiner Neutralität 1919 orientierte sich Belgien zunächst außenpolitisch an Frankreich. Aufgrund des Versailler Vertrages erhielt Belgien vom Deutschen Reich die Gebiete von Eupen-Malmedy und Moresnet, außerdem das Mandat des Völkerbundes über die bislang deutsche Kolonie Ruanda-Urundi.
Noch im gleichen Jahr 1919 schloss Belgien eine Militärkonvention mit Frankreich ab und beteiligte sich im Rahmen dieses Abkommens ab 1923 auch an der Besetzung des Ruhrgebietes. In Jahr 1925 schloss es neben Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern den Vertrag von Locarno mit dem Deutschen Reich, der die Unverletzlichkeit der bestehenden deutschen Westgrenze, d. h. auch der veränderten belgisch-deutschen Grenze als Folge des Ersten Weltkrieges garantierte.
Die durch Hitler von der deutschen Seite veranlasste Aufkündigung des Locarno-Vertrages in 1936, parallel zu seiner Verletzung durch die Besetzung des Rheinlandes, beendete das bisher bestehende westeuropäische Sicherheits- und Paktsystem. (1) Die Folge war, dass in den westeuropäischen Staaten nunmehr intensive Überlegungen einsetzten, welches Sicherheitssystem an Stelle der bisherigen Verträge treten könne, so auch in Belgien. (2) Die notwendige werdende Neuorientierung für Belgien vollzog König Leopold III., indem er 1936 nach der deutschen Aufkündigung des Locarno-Vertrages seinerseits die vertragliche Anlehnung an den Westen wieder aufgab, die bestehende Militärkonvention mit Frankreich kündigte und in der Folge Belgien für neutral erklärte. Das offizielle Signal hierzu setzte König Leopold III. in seiner Kabinettsrede am 14.10.1936, nachdem sich bereits in den bilateralen Gesprächen seit Juli 1936 gegenüber den bisherigen Verbündeten die belgische Kehrtwendung zur Neutralitätspolitik andeutete. (3) Belgien erklärte damit erneut außenpolitisch seine Neutralität, die es 1919 mit dem Versailler Vertrag, später ergänzt durch den Vertrag von Locarno, aufgegeben hatte.
Die veränderte belgische Position löste auch unmittelbar Diskussionen in den Abstimmungsgesprächen zwischen der französischen und britischen Regierung aus. In einer französisch-englischen Erklärung vom 24.4.1937 wurde als Folge der veränderten politischen Rahmenbedingungen gegenüber Belgien eine militärische (Beistands-) Erklärung für den Fall abgegeben, dass es von einem dritten Land, und hiermit war Deutschland gemeint, angegriffen wird. (4) Zugleich wurde der belgische Ausstieg aus dem Sicherheits- und Beistandssystem des Locarno-Vertrages durch Frankreich und England bestätigt, die Neutralität wurde nochmals offiziell durch die Erklärung anerkannt. (5)
Im Abstand von einigen Monaten, nämlich im Oktober 1937, erkannte auch das Deutsche Reich die Neutralität Belgiens im Zuge eines ausgetauschten Notenwechsel unter der allgemein üblichen außenpolitischen Bedingung und in Wiederholung der britisch-französischen Erklärung an, dass auch dritte Länder seine Neutralität beachten würden. (6)
Die nur im engen Kreis vorgetragenen persönlichen Überlegungen, (7) die sich bei Hitler aus der veränderten belgischen Position ergaben, fanden wenig später einen ersten Niederschlag im November 1937 im so genannten Hossbach-Protokoll. Hitler (8) führte danach in seinen strategischen Überlegungen aus, dass die deutsche Politik nunmehr künftig mit den beiden möglichen Gegnern England und Frankreich (9) zu rechnen habe. Ohne dass England helfend eingreifen würde, sei allerdings mit einem Durchmarsch Frankreichs durch Belgien und Holland nicht zu rechnen. Hitler betrachtete in dieser Phase die Lage gegenüber Großbritannien als ungeklärt und hoffte auf eine Interessenverständigung. Daraus folgerte er auch umgekehrt für die deutsche Seite, dass bei einem möglichen Konflikt mit Frankreich der deutsche Durchmarsch durch Belgien außerhalb jeder Betrachtung bleiben müsse. Dieses würde ansonsten nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges in jedem Fall die Feindschaft Englands direkt zur Folge haben. (10)
Die bei Hitler in dieser Phase noch vorherrschende Überlegung, Großbritannien in seine eigenen politischen Ziele bei der Ausweitung des deutschen Einflussgebietes einzubinden und eine Auseinandersetzung zu vermeiden, führte ihn also zu dem logischen Schluss, auch die belgische Neutralität in diesem Kontext unbedingt zu beachten. (11) Allerdings ist in seinen Ausführungen laut Hossbach-Protokoll bereits die strategische Überlegung offenbar, in einem künftigen deutschen Konflikt im Westen mit der Gefährdung der deutschen Westgrenze durch eine über belgisches Territorium vorgetragene Offensive konfrontiert werden zu können. Diese Überlegung Hitlers folgt historischen Vorgaben, da die deutschen Truppen 1914 in gleicher Weise über belgisches Territorium vorgegangen waren und ein Vorgehen Frankreichs südlich der belgischen Grenze als unwahrscheinlich und zu dieser Zeit als wenig Erfolg versprechend angesehen wurde.
Ein weiterer Hinweis auf Hitlers Einstellung zur Neutralität der kleineren europäischen Länder findet sich im weiteren Verlauf am 21.1.1939 in einer Unterredung mit dem tschechoslowakischen Außenminister Chvalkowsky. Hitler führte ihm gegenüber aus, dass die Stärke der holländischen und dänischen Armee nicht in ihnen selbst liegen würde, sondern in dem Wissen der Welt um die absolute Neutralität der Staaten. Bei Belgien lägen allerdings die Dinge nach Auffassung anders, da dieses Land Abmachungen mit dem Generalstab Frankreich getroffen habe. (12)
Diese, die Neutralität nicht verletzenden Kontakte Belgiens zu den Westmächten, resultierten aus der Erfahrung des ersten Weltkrieges und der belgischen Befürchtung, die deutschen militärischen Pläne würden für einen Kriegsfall die Verletzung der belgischen Neutralität mit Gewissheit vorsehen. Dabei war zu berücksichtigen, dass die Besprechungen in der Realität und auch aus damaliger belgischer Sicht keinen offensiven Charakter sich trugen, sondern ausschließlich der Verteidigung des Landes im Fall eines deutschen Überfalls dienen sollten.
Bemerkenswert im Hossbach-Protokoll ist weiterhin der Hinweis Hitlers auf die „absolute“ Neutralität als Voraussetzung derselben. Dieses ist ein politisch ausfüllbarer und beliebig zu beurteilender Begriff. Daneben ist die Tatsache bemerkenswert, dass er bereits die Gespräche Belgiens mit den Westmächten (feste Absprachen zwischen den Generalstäben existierten tatsächlich nicht) als Verletzung der Neutralität ansah. Schließlich ist auf den vorherigen deutschen Bruch des Locarno-Vertrages als Grenz- und Sicherheitsgarantie zwischen beiden Ländern hinweisen, dessen vertraglich vorgesehene Kündigungsklauseln zunächst durch Deutschland nicht eingehalten worden waren, woraus sich die belgische Reaktion in der Folgezeit unmittelbar ergab. Während die Befürchtungen Belgiens gegenüber Deutschland einen realen Hintergrund in der Außenpolitik Deutschlands bis 1939 fanden (Österreich, Tschechoslowakei, Memelgebiet, Danzig), bestand für ähnliche Befürchtungen Belgiens den Westmächten gegenüber kein Anlass.
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1 Scheil, Fünf plus Zwei, S. 438, schreibt hierzu, dass die europäische Politik durch die Aufkündigung des Locarno-Vertrages wieder ihren gewohnten Gang aufnahm und zu den nationalen Eigeninteressen statt des Systems der kollektiven Sicherheit überging. Abgesehen von der damit verbundenen Banalisierung des deutschen Vertragsbruches ist der Schluss richtig, dass Belgien nur der Schritt zur Erklärung der Neutralität blieb, nachdem die Westmächte diesen Vorgang des Vertragsbruches hingenommen hatten. Falsch ist jedoch die Folgerung, dass Belgien mit der Annahme der Akzeptanzerklärungen sowohl der Westmächte als auch Deutschlands einen besonderen Status der „Unabhängigkeit“ selbst geschaffen habe. Die Akzeptanzerklärungen standen lediglich unter dem diplomatisch üblichen Vorbehalt der allseitigen Anerkennung. Im Übrigen konnten diese Akzeptanzerklärungen von der belgischen Seite nicht beeinflusst werden, die Einschränkung ging also von den beteiligten Großmächten aus. Die deutsche Note gab Belgien auch nicht einem Einmarsch preis, sondern setzte die vorherige Verletzung der Neutralität durch ein drittes Land bedingend voraus. Belgien war nicht „durch die Neutralitätserklärung“ zwischen die Fronten geraten, sondern in direkter Folge aufgrund seiner geographischen Lage und verursacht durch die deutsche Aufkündigung des Locarno-Paktes, siehe ebenda, S. 439 und 440.
2 HMSO, GS I, 616
3 HMSO, GS I, 616
4 HMSO, GS II, 157
5 HMSO, GS I, 623
6 Der Notenwechsel vom 13.10.1937 ist abgedruckt in ADAP, V, Nr. 475.
7 Die Ausführungen sollten für Hitler testamentarischen Charakter im Falle eines Ablebens entwickeln, sie wurden im engsten Kreis vorgetragen; Hitler soll dabei von dem vorausgehenden Mussolini-Besuch und dessen außenpolitischen Erfolgen stark beeindruckt gewesen sein, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 188.
8 Hitler hatte am 4.2.1938 den Oberbefehl über die Führung der Wehrmacht übernommen, zu den Auswirkungen Warlimont, Wehrmacht, S. 27.
9 Diese Linie Hitlers , die Haltung gegenüber den so bezeichneten „Hassgegnern“ England und Frankreich im Hoßbach - Protokoll, findet sich bestätigend ein zweites Mal auch in der Ansprache gegenüber den Wehrmachtsbefehlshabern vom 22.8.1939 kurz vor Ausbruch des Krieges, vgl. IMT, XXII, S. 502. Ferner zum Beispiel im Gespräch mit Ciano, IMT, III, 255. Die Bedeutung seiner Ausführungen für Hitler selbst lässt sich aus dem Verweis auf Friedrich den Großen und Bismarck schließen; auch deren Handlungen seien von großem Risiko und großer Schnelligkeit in der Durchführung geprägt gewesen. Mit seinen nachfolgenden Entscheidungen sah sich wohl Hitler in einer direkten Linie, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 188.
10 IMT, XXV, 402 ff., 386-PS. Die Ausführungen sollen für den Teilnehmerkreis überraschend gekommen sein, selbst für Göring, was Hoßbach aus seinem spontanen Vorschlag in der Diskussion schließt, das „Spanien-Unternehmen“ einzustellen, vgl. Hoßbach, Wehrmacht, S. 191. Hoßbach deutet auch die Diskussionsbeiträge als glatte Ablehnung der außenpolitischen Pläne durch die Heeresführung. Blomberg, Fritsch und von Neurath waren innerhalb von drei Monaten verabschiedet. Zum Inhalt führt Neurath aus: „ Die Aufzeichnung über den Inhalt dieser Ansprache ist … aus dem so genannten Hoßbach-Protokoll, fünf Tage nach der Ansprache im Auszug aus einer zwei- oder dreistündigen Rede aus dem Gedächtnis gemacht worden. Wenn diese von Hitler in dieser langen Rede vorgetragenen Pläne auch keinen konkreten Inhalt hatten und die verschiedenen Möglichkeiten zuließen, war doch für mich zu erkennen, dass die Gesamttendenz seiner Pläne aggressiver Natur waren.“ Neurath, Fritsch und Beck besprachen etwas zwei Tage danach, was sie unternehmen konnten, um „Hitler umzustimmen“, vgl. IMT, XVI, S. 699-701.
11 Die zum Beispiel bei Kluge, Hoßbach-Niederschrift, vorgetragenen Einwände gegen die Echtheit der im Nürnberger Tribunal zum Beweis zugelassenen Abschrift des Protokolls sind sowohl in juristischer als auch in historischer Hinsicht irrelevant. Unter beiden Aspekten fügt sich die Abschrift des Protokolls, auch unter Beachtung aller möglichen Ungenauigkeiten im Detail und der möglichen Fehlerhaftigkeit in den wiedergegebenen Formulierungen Hitlers, in eine ganze Reihe von Dokumenten ein, die die Überlegungen Hitlers in der Eskalationspolitik bis zum Ausbruch des Krieges am 1.9.1939 wiedergeben. Zudem ist diese Kritik für den hier dargestellten Zusammenhang in der Einstellung Hitlers zur Neutralität der Beneluxländer nicht einschlägig. Zur Entstehung der Hoßbach-Niederschrift vgl. Bußmann, VfZ 1968, S. 373.
12 IMT, VII, 237
IMT: Internationales Militärtribunal Nürnberg, Blaue Bände
HMSO, GS: Butler, Grand Strategy, Volume I-VI
ADAP: Akten zur Auswärtigen Deutschen Politik
AA: Auswärtiges Amt, Dokumente zum Kriegsausbruch
EDIT: Fehler nach Hinweis von amicus berichtigt.
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