Frage: Erster Mathematikhistoriker?

A

AusdrücklicheFrage

Gast
Hallo,

meine Frage lautet: Wer war der erste Historiker der Mathematik?
Stammt der aus dem alten Griechentum oder ist es ein Untertan des Han-Reiches oder ein Mensch aus Indien oder Araber oder doch erst in der europäischen Neuzeit?

MfG,

AusdrücklicheFrage
 
Es gab sicher in allen Weltgegenden immer wieder Gelehrte, die sowohl mathematisch als auch historisch interessiert waren. Zumindest in Europa war die Geschichte aber bis um 1900 eine politische Wissenschaft. Allenfalls noch über die Kunst und Archäologie eine Kunstgeschichte.
Erst um 1900 gab es eine Abspaltung der Kulturhistoriker von der politischen Geschichte. Und erst damit war dann auch die Grundlage für eine Geschichtswissenschaft gelegt, die sich u.a. mit Mathematikhistorie beschäftigen konnte. An mathematikgeschichtlichen Darstellungen kenne ich nur einen Roman, keine wissenschaftliche Schrift. Dennis Guadej, Das Theorem des Papageis.
 
Schau mal bei Otto Neugebauer
  • A History of Ancient Mathematical Astronomy, 3 Bände, Springer, Berlin 1975
oder
Bartel Leendert van der Waerden
  • Erwachende Wissenschaft. Band 1: Ägyptische, babylonische und griechische Mathematik. Birkhäuser 1956, 2. Auflage 1966
Wie EQ schon bemerkte, gibt es eine Historie der Mathematik im modernen Sinne erst mit bzw. ab der Entwicklung der 'modernen' Geschichtswissenschaft. Und eine Übersicht, welcher Mathematiker sich schon mit früheren Mathematiken und MathematikerInnen ausführlicher beschäftigt hat in den letzten 2000 Jahren irgendwo auf der Welt, ist mir nicht bekannt.
Weiterhin ist es schon technisch ziemlich unwahrscheinlich, dass man sich vor dem 20. Jh. auch nur annäherungsweise eine gute Übersicht über die Mathematik in diversen Epochen, Regionen und Kulturen verschaffen konnte.

Und wie Du bei Neugebauer oder van der Waerden sehen kannst, findet unvermeidlich eine Vorauswahl und Spezialisierung statt, so groß ist das Gebiet der Mathematikhistorie. Oder schau Dir mal das Literaturverzeichnis zum Lemma Geschichte der Mathematik bei Tante Wiki an.
 
Texte über berühmte Männer gab es natürlich schon früher und mancher Kommentar, etwa zu Euklid, hat auch Informationen weitergegeben. Beim ersten steht die Person, beim zweiten das Fach im Mittelpunkt.

Das ist wie bei der Kriegsgeschichte. Einzelanalysen von Kriegsgeschehen und Beschreibungen zur Auflockerung der Erzählung gab es schon lange, doch erst Hans Delbrück hat die Geschichte des Krieges eigentlich historisch betrachtet. Und das ist keineswegs trivial. Hier wurde mal nach Büchern zur Kriegsgeschichte gefragt und schnell wurden militärtheoretische Werke genannt. Sicher, Sun Tsu lässt sich als fachliches Werk der Antike vielleicht mit Euklid vergleichen. Allerdings ist beides weder als Geschichtsschreibung noch als historische Abhandlung einzuordnen. Clausewitz, Vom Kriege, ist eine wichtige Quelle zur Kriegführung der Napoleonischen Zeit, aber eben auch nur ein (bis heute wichtiges) militärtheoretisches Handbuch.

Aber häufig wurde die Entwicklung eines Fachs oder Problems nach dem Vorbild des Aristoteles zumindest kurz beschrieben. Und noch heute nutzen Schulbücher das mitunter, um einen leichten Einstieg zu bieten oder die Lernkurve im Rahmen zu halten. Allerdings blieb es in älteren Werken oft mehr als kryptisch. Vegetius etwa verwirrt Militärhistoriker bis heute: Oft ist nicht einmal klar, von welcher Zeit er gerade schreibt. In mathematischen Werken sind die fachlichen Probleme klarer, aber die Darstellung der Vorläufer krankt (egal welches Fach) an denselben Problemen. (Ich habe die Militärgeschichte als Beispiel genommen, weil ich mich bei den Autoren besser auskenne und nicht nachschlagen brauchte.)

In diesem Sinn gab es Geschichtsschreibung bezüglich jeder Wissenschaft seit den Aristotelikern, mit seinem verlorenen Lexikon wahrscheinlich seit Aristoteles selbst. Es handelt sich aber nicht um geschichtsschreiberische Literatur, sondern um die Methodik, von vergangenem Verständnis auszugehen, die bekanntlich Descartes von Bord warf, was nicht heißt, dass die 'Rückblicke' verschwanden.

Die Antwort hängt also davon ab, was mit der Formulierung der Frage gemeint war. Wenn es darum geht, wer die Informationen in Europa tradiert hat, war es wohl hauptsächlich das Fach selbst, während Geschichtsschreiber sich mit anderen Themen beschäftigten.

(Einmal davon abgesehen, dass wir von moderner Geschichtswissenschaft erst ab dem 19. Jahrhundert mit dem Durchsetzen der historisch-kritischen Methode sprechen können.)
 
Zu Mathematikhistoriker findet man ja sehr viel auch im Netz.

Eine recht übersichtliche und umfassende Aussage meine ich ist da „Deutsches Wikipedia – Mathematikhistoriker“.

Es beginnt mit der „Papyrus Rhind“, der Papyrus Moskau und die so genannte Lederrolle. und geht bis zur „Modernen Mathematik“.
Da haben wir die Ägypter, die Babylonier, die Antike, die chinesische und indische Mathematik, die Mathematik im islamischen Mittelalter, die Mathematik der Mayas, die Mathematik in Europa untergliedert in Europa Mittelalter, Klosterschulen, Berechnung des Ostertermins, Universitäten, praktische Mathematik, Beginn der Geldwirtschaft, frühe Neuzeit, die Entdeckung der Infinitesimalrechnung (Isaak Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz, Beide Integral – und Differentialrechnung) , Mathematik 18. und 19.Jahrhundert und zum Schluss „Moderne Mathematik“.
Da sind alle Versammelt und weiter führende Link zum Detail.
Auch Euklid mit seiner Zahl „phi“ - „π“ .
„π“ -> Taste "Alt" und "Nummernblock 9 6 0".
 
Zuletzt bearbeitet:
Eudemos von Rhodos – Wikipedia dürfte einer der ersten bei den Griechen sein, von dem man weiß, dass er in seiner Geschichte der Geometrie Γεωμετρικὴ ἱστορία der Frage nachging: Wer hat was entdeckt, welche Mathematiker haben zur selben Zeit am selben Problem gearbeitet und wem gelang der Durchbruch? Das Ganze noch chronologisch geordnet.

Er wird in Geschichte der Mathematik – Wikipedia nicht einmal erwähnt.
Otto Neugebauer und Raymond Clare Archibald publizierten 1941 zur Geschichte der Mathematik und Astronomie unter dem Titel Eudemus.
Ich gehe davon aus, dass der Titel nicht willkürlich gewählt war.
 
Eudemos von Rhodos – Wikipedia dürfte einer der ersten bei den Griechen sein, von dem man weiß, dass er in seiner Geschichte der Geometrie Γεωμετρικὴ ἱστορία der Frage nachging: Wer hat was entdeckt, welche Mathematiker haben zur selben Zeit am selben Problem gearbeitet und wem gelang der Durchbruch? Das Ganze noch chronologisch geordnet.

Er wird in Geschichte der Mathematik – Wikipedia nicht einmal erwähnt.
Otto Neugebauer und Raymond Clare Archibald publizierten 1941 zur Geschichte der Mathematik und Astronomie unter dem Titel Eudemus.
Ich gehe davon aus, dass der Titel nicht willkürlich gewählt war.

Aristoteles und seine Schüler benutzten den Begriff ἱστορία noch im Sinn von Untersuchung. Durch die von mir oben Beschriebene Praxis des Ausgehens von den Ursprüngen sind diese Schriften teilweise auch Geschichtsschreibung, aber noch bei der Übernahme ins Lateinische stand die Untersuchung im Vordergrund.

Die Übersetzung mit Geschichte ist nur korrekt, wenn dem Zielpublikum die Begriffsgeschichte bekannt ist. Wahrscheinlich sahen einige schon sehr wie eine Geschichte aus, etwa nolens volens wenn es um Philosophie ging, andere aber wie das, was wir unter Darstellung eines Fachs verstehen, wie bei Aristoteles 'Geschichte' der Tierwelt. Ich erinnere hier auch an den Begriff der Naturgeschichte.

Die Fragmente scheinen mitunter eine tatsächliche Geschichte zu belegen, weil diese Werke als historische Quellen benutzt wurden, da viele ältere Werke schon in der Antike nicht mehr oder kaum noch überliefert wurden, was eine zum Teil einseitige Überlieferung dieser 'Geschichten' bedingt.

Ich wäre sehr, sehr vorsichtig hier von Geschichtsschreibung zu reden. Mindestens müssen dazu die Fragmente untersucht werden. Bei Eudemos ist u.a. die Frage, ob er tatsächlich rein chronologisch vorging. Selbst dann ist zu berücksichtigen, dass Aristoteles auch unsere Geschichte einfach nur als Schilderung von Fakten sah. Seine Schüler sahen sich kaum als Geschichtsschreiber.

Auch als Literaturgattung, also formal, würde ich so eine Einordnung hier eher ablehnen.
 
Durch Zufall bin ich bei der Lektüre des Kommentars von Proklos zu Euklids Elementen auf Eudemos gestoßen, der hier schon erwähnt wurde. In der Tat hat Eudemos auch Abhandlungen geschrieben, z.B. ein "Buch über den Winkel". Aber auch eine Geschichte der Mathematik / Mathematiker. Dort werden die berühmten Mathematiker wie etwa Thales oder Oenopides beschrieben. Fast alles, was wir über Thales wissen, stammt von ihm.
Das Vorgehen von Eudemos war offenbar so: er hat den entsprechenden Mathematiker vorgestellt, danach seine Lehrsätze. 2 Beispiele:
Eudemus and his school tell us that these things - the application of areas, their exceeding, and their falling short - are ancient discoveries of the Pythagorean muse. It is from these procedures that later geometers took these terms usw.
oder
This too is a problem, and the credit for its discovery belongs rather to Oenopides, as Eudemus tells us. It requires us to construct on a given straight line and at a given point on it an angle equal to a given rectilinear angle. usw.
Auch hat Eudemos darin die Entwicklung der Geometrie beschrieben (von Ägypten an), die Proklos (In Eucl. 64ff = fr. 133 Wehrli) auszugsweise wiedergibt, aber auch insbesondere die 12 Mathematiker der Platonischen Akademie. Es handelt sich also nicht, wie @Riothamus annimmt, um eine Untersuchung der Art von "Naturgeschichte der Tiere", sondern um das, was wir auch heute "Geschichte" nennen würden. Aus dem großen Fragment ein Auszug:
Thales, who had travelled to Egypt, was the first to introduce this science into Greece. He made many discoveries himself and taught the principles for many others to his successors, attacking some problems in a general way and others more empirically. Next after him Mamercus, brother of the poet Stesichorus, is remembered as having applied himself to the study of geometry; and Hippias of Elis records that he acquired a reputation in it. Following upon these men, Pythagoras transformed mathematical philosophy into a scheme of liberal education usw.
das geht noch eine ganze Zeit so weiter. Insofern darf man durchaus @Naresuan Recht geben, und ich würde Eudemos den Lorbeerkranz überreichen.
 
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