Frage Lebenserwartungen in Deutschland

matrone

Mitglied
Hallo,

wenn aktuelle politische Forderungen sich auf geschichtliche Bezüge berufen, möchte ich doch mal nachfragen, ob das auch so stimmt.
Aktuell wird behauptet, die Lebenserwartungen der Menschen, bzw. der Menschen hier in Deutschland würden steigen, und damit seinen höhere Lebensarbeitszeiten auch vertretbar. Diese politische Forderung kann an anderer Stelle diskutiert werden, aber die Aussage, dass die Lebenserwartungen steigen würden, mag ich so nicht glauben.
Allein die Ahnentafeln meiner Vorfahren ergeben für dieZeit von 1760-1900 in den Räumen Ostpreussen, Sachsen und Brandenburg für die Männer (Handwerkermeister) Lebenszeiten um die 82-85 Jahre, für die Frauen um die 55-69 Jahre und vereinzelt auch bis 75 Jahre. Natürlich ist dass nur ein sehr kleiner, individueller Ausschnitt. Sicherlich sind Menschen, die schwere körperliche Arbeiten verrichten mussten, Hungersnöte und Kriege überlebten nicht allzu alt geworden. Aber wie war denn die Lebenserwartung in früheren Epochen tatasächlich? Entstanden sind die Rentenalter Zuweisungen ja innerhalb der letzten ca. 130 Jahre und da gibt es sicherlich höhere Schwankungen durch die Kriege was die Lebenserwartungen betrifft. Ist dennoch davon auszugehen, dass sich die Lebenserwartungen erheblich verändert haben? Und wenn ja, in welcher Relation zu was? Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist wohl gesunken und Diabetiker gibt es auch in höheren Lebenslagen, aber leben Putzfrauen und Fabrikarbeiter heute länger, gibt es weniger Krebstote, erhält das Rauchen auch positive Lebenserwartungen bereit? Mal so ganz provokativ gefragt..Ich sehe dass etwas differenzierter nach Lebenslagen, das heisst den Belastungen (Berufsgruppen, Umweltbedingungen) denen Menschen ausgesetzt sind und deren Widerstandskräfte sind eher ausschlaggebend dafür, ob Menschen ihr Alter überhaupt erleben. Hat sich jemand mal intensiver mit dieser Thematik beschäftigt?
 
Es gibt verschiedene Statistiken.
Die Mittelrheingemeinden Heimbach ... - Google Bücher

Hier scheint mir das Durchschnittsalter sogar recht hoch zu liegen.
Aber es ist anhand der Berufsstände ersichtlich, wie wichtig auch die allgemeine Lebensqualität für die Lebenserwartung war. Je schlechter der Beruf, umso geringer die Lebenserwartung. Im übrigen ist ersichtlich, dass auch die Gegend, in der man beheimatet war, faktor für eine höhere oder niedrigere Lebenserwartung sein konnte.

Dass z.B. im 17. und 18. Jahrhundert Jahrhundert bei vielen "Männer-Biographien" mehrere Ehen verzeichnet sind, liegt nicht etwa an einer hohen Scheidungsrate, sondern daran, dass viele Frauen bei oder kurz nach einer Geburt verstarben. Mangelnde Hygiene. Insofern kann deren durchschnittliche Lebenserwartung nicht wirklich hoch gewesen sein. Ich habe von Werten zwischen 35-40 Jahren bei Frauen gelesen.

Was heutzutage im Durchschnitt zu höherer Lebenserwartung führt, ist die Lebensqualität, wie medizinische Versorgung und die Nahrungsaufnahme. Du kannst im Gegensatz zu früheren Zeiten sehr viele Krankheiten heilen, die tödlich verliefen. Das führt logischerweise zu einer höheren Lebenserwartung. Nicht jeder Raucher stirbt heute mit 60, es müssen mehrere Komponenten erfüllt sein, damit z.B. Lungenkrebs entsteht. Rauchen fördert es, ist aber nicht der Auslöser de Krankheit.

Und man hat auch früher geraucht. Etwa um 1518 kam der Tabak nach Spanien, von wo aus sich der Konsum in Europa verbreitete.

Im übrigen liegt die Forderung nach längeren Arbeitszeiten auch an der sinkenden Geburtenrate. Wieviele Kinder gibt es pro Kopf? Wieviele Kinder bzw. spätere Erwerbstätige brauchst du, um die Renten der dann Bezugsberechtigten auszahlen zu können?

Ist doch klar. Weniger Kinder, mehr Arbeitsjahre. Kann man sich ausrechnen. Im übrigen war früher eine hohe Kinderzahl quasi die Altersversicherung der Eltern. Stimmt, auch die Kinderzahl beeinflusste die Lebenserwartung der Frauen, 10 geburten waren manchmal keine seltenheit, wobei die meisten Kinder das Erwachsenenalter kaum erreichten. Da kann man dann wieder ein Rad damit drehen, ob sie so viele Kinder gebären mussten, um im Alter gesichert zu sein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hi,

das mit der Lebenserwartung ist immer so eine Sache. Die wird häufig falsch interpretiert. Gemeint ist ja die durchschnittliche Lebenserwartung. Und in die fließt ja auch die Kindersterblichkeit ein. Und da die ganz enorm gesunken ist, steigt natürlich die durchschnittliche Lebenserwartung. Das heißt nicht zwangsläufig, das wir alle immer älter werden.

Wer z.B. im 15 Jhr. die ersten 18 Jahre überlebte, hatte durchaus gute Chancen auch die 60 oder 70 zu schaffen. Natürlich nur bei halbwegs guten Bedingungen.

Wenn ich mich richtig erinnere, lernt man das ganz am Anfang der Statistikkurse an der Uni.

Das diese Forderung in der Politik auftaucht, liegt wohl eher daran das man bei einem sozialen Sicherungssystem wie unserem nur an wenigen Schrauben drehen kann.
 
Sehr richtig, was Johnnie-Rico schreibt.
Noch ein bisschen "Butter bei die Fische":
Säuglingssterblichkeit ? Wikipedia
Kindersterblichkeit ? Wikipedia

Allerdings hat die Verbesserung der medizinischen und hygienischen Möglichkeiten auch die Restlebenserwartung der Erwachsenen erhöht. So sterben weniger Menschen an Infektionskrankheiten. Die Konsumgesellschaft brachte aber auch widersprüchliche Entwicklungen: An Diabetes stirbt man kaum noch kurzfristig, dafür bekommen ihn viele, die ihn früher nicht bekommen hätten.
 
Auf den "Durchschnitt", mittlerweile noch nach Generationen dekaden- und damit scheibchenweise und inzwischen auch nach bestimmten gesellschaftlichen Gruppen betrachtet, ist schon hingewiesen worden.

Wenn man an den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und bezogen auf die BRD interessiert ist, sind die Entwicklung der "Sterbetafeln" und damit die Schätzungen zur Lebenserwartung von Versicherungsmathematikern interessant.

Handfester Hintergrund sind versicherungsmathematische Kalkulationen für Versorgungszusagen (Adressaten sind also Unternehmen, Versorgungswerke und Versicherungen bzgl. Abbildung der Versorgungslasten bzw. Darstellung der Rückdeckungen).

Hier läßt sich die Entwicklung über die Zeiträume, insbesondere die Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung, gut nachvollziehen.
 
Appetithäppchen für Statisitikfreaks ...

Früher lief das übrigens in der Statistik des Deutschen Reiches unter "Absterbe-Ordnung". Die entsprechenden Tafeln wurden veröffentlicht und gaben statistische Sterbe-Wahrscheinlichkeiten an. Beispiel: von 100.000 50-jährigen überlebten 77.000 die nächsten 5 Jahre.

Mal als Vergleich die Lebenserwartung eines 30 und 50-jährigen Mannes (Frauen hatten hier schon immer merkwürdige Vorteile, aus Gründen, die hier nicht diskutiert werden sollten :D ), abgestellt auf verschiedene Zeiträume (bereits erreichtes Alter 30 Jahre bzw. 50 Jahre):

1871/80: 31,4 - 18,0
1881/90: 32,1 - 18,4
1891/00: 33,5 - 19,0
1901/10: 34,6 - 19,4
1924/26: 38,6 - 21,9
1932/34: 39,5 - 22,5

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines bereits 30-jährigen Mannes verlängerte sich demnach von 1870 (61,4 Jahre) um rd. 8 Jahre bis 1934 (69,5 Jahre). Beim 50-jährigen Mann verlängerte sich die Lebenserwartung von 1870 (68,0 Jahre) bis 1934 auf 72,5 Jahre.

Aufgrund der hohen Kindersterblichkeiten im 19. JH machen erst die Vergleiche ab dem 10. Lebensjahr Sinn. Dort stieg die durchschnittliche Lebenserwartung von 46,5 auf 57,3 Jahre.

Quelle: Allgemeine Deutsche Sterbetafeln 1871 bis 1934 in Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, hrsg. vom Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, S. 56.
 
Vielleicht ganz interessant am Rande: die Sterblichkeit der deutschen Bevölkerung in Friedensperioden der Zeit vor 1850, ermittelt aus Kirchenbüchern, war im Schnitt pro Jahr angeblich vier mal so hoch wie die Sterblichkeit im Jahre 1944, dem Jahr im 20. Jahrhundert mit den meisten deutschen Toten. Hilfreich bei Vorstellungen bezüglich der guten alten Zeit und Lamentieren über die Gefahren modernen Lebens. Ärgerlicherweise kann ich die Quelle nicht mehr angeben, es war ein Buch über Risikoanalyse, dessen Titel und Autor ich vergessen habe.
 
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