Fragen zur Umsetzung des Kommunismus

kN1557

Neues Mitglied
Hallo,

ich habe mir einige Fragen bezüglich des Kommunismus/Realsozialismus gestellt:

1. Wie hat Marx sich vorgestellt, wie die "Diktatur des Proletariats" funktionieren sollte? Würde man die Arbeiter das Volk regieren lassen würde das in totaler Anarchie ausarten, würde man jedoch eine einzelne Person die Kontrolle über Volk und Staat geben so würde diese (höchstwarscheinlich) missbraucht werden (siehe Stalin?). Wie sollte eine kommunistische Partei dies vertreten können, wenn sie einen Parteiführer/Spitzenposition benötigt? Wie dachten Marx/Engels also über die Machtgebung in einer kommunistischen Gesellschaft?

2. Inwiefern wurde der Kommunismus in der Sowjetunion angewandt? Schaffte man es z.B. sämtlichen Produktionsgüter zu verstaatlichen? oder wie viel wovon musste ein Landwirt von seinem Ertrag abgeben? Wieso war Geld zu jener Zeit nötig?

Hat man Städte/Provinzen umgebaut um dem Klassenlosen angepasst zu sein? Das einzige Beispiel, dass ich dazu kenne ist die Stadt Pripyat (Geisterstadt in der Ukraine, ehem. Arbeiterstadt des AKW Tschernobyl). Dort bestanden so gut wie alle Wohnbezirke aus Plattenbauten mit gleichmäßiger Wohnfläche.

Das ganze würde mich schon etwas aufklären. Hoffe auf Antworten!

mfG
 
1.) Na Diktatur des Proletariat ist halt eine Vokabel wie Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder Freiheit, fast jeder Mensch, der sowas hört hat eine eigene Meinung dazu. Da ist es schwierig herauszufiltern welche Meinung Marx genau hatte. Seine Aussagen sind schwammig. Eine Art Aristrokratie des Proletariats, nur wäre das Unmöglich da es so viele Proletarier gäbe. Eine beschränkte Demokratie ohne das Bürgertum und ohne die da oben. Oder doch eine Diktatur einige kommunistischer Intelektueller die schon wissen was gut für die "Idioten", upps ich meine das Proletariat ist.

2.) Wie man es nimmt, das Land war in Staatsbesitz und Gemeinschaftsbesitz geteilt, wobei mit der Zeit dieses immer uneffektivere System aus der Not gelockert wurde. Der Import von Getreide explodierte und musste mit Gas und Rohöl bezahlt werden, da den Rubel im Westen niemand wollte. Um die Not zu liedern durften nun die Bauern kleine Parzellen bearbeiten mit sehr hohem Erfolg, ein großer Teil der Nahrungsmittel wurde in diesen rein von der Fläche unbedeutenden "Gärten" produziert und auf dem freien Markt verkauft. Ähnlich geschah es in China, wobei eine vollkommende Marktwirschaft in keinem der beiden Staaten existiert, in Russlang gibt es immer noch die Großbetriebe und in China gehört das Land dem Staat, der mit dem Land machen kann was er will.

Eine Klassenlose Gesellschaft ist ein schöner Slogan, der an der Realität weit vorbei ging in allen kommunistischen Staaten von Nordkorea bis Jugoslawien. Überall bildete sich eine Schicht von Politikfunktioneren die für sich und ihre Familien sehr große Privilegien anheimen konnten.

So waren in Jugoslawien alle großen Posten in Wirtschaft und Gesellschaft von 2. Weltkriegsveteranen und deren Kindern besetzt. Ein roter Adel.
 
1. Wie hat Marx sich vorgestellt, wie die "Diktatur des Proletariats" funktionieren sollte? Würde man die Arbeiter das Volk regieren lassen würde das in totaler Anarchie ausarten, .... Wie sollte eine kommunistische Partei dies vertreten können, wenn sie einen Parteiführer/Spitzenposition benötigt? Wie dachten Marx/Engels also über die Machtgebung in einer kommunistischen Gesellschaft?.

Marx war ein schlechter Staats- oder Demokratietheoretiker. Und noch ein wesentlich schlechterer Sozialtechniker, um Gesellschaften und ihre politischen Institutionen zu konzipieren.

Sofern sich Marx zur Leitung eines Gemeinwesens geäußert hat, hat er sich positiv zur Art der Legitimierung von politischer Macht und der Kontrolle ihres Mißbrauchs im Rahmen der Pariser Kommune geäußert.

Pariser Kommune ? Wikipedia

Deine Ansichten über die Politikunfähigkeit der "Arbeiter" und das Entarten in Anarchie werte ich als Deine persönliche politische Meinung, die historisch schwer zu belegen wäre.

Im Falle einer vollendeten kommunistischen Gesellschaft wäre es zum "Absterben" des Staates gekommen, da es keine divergierenden wirtschaftlichen Interessen mehr gibt und somit wäre es nicht notwendig, dass eine Partei etc. einen Volonte generale herstellt
2. Inwiefern wurde der Kommunismus in der Sowjetunion angewandt? Schaffte man es z.B. sämtlichen Produktionsgüter zu verstaatlichen?

Das ist eine Frage unterschiedlicher Standpunkte. Folgt man beispielsweise Tucker oder Kolakowski dann kann man den Stalinismus aus dem Marxismus, vermittelt durch die Interpretation durch Lenin, herleiten. Man kann sie herleiten, aber der Stalinismus folgt nicht zwingend aus den theoretischen Vorgaben eines Marx/Engels.

Ähnlich geeignet als theoretische Blaupausen wären Machiavelli, Pareto etc..

Unter einem anderen Gesichtspunkt ist das auch problematisch, da die jeweiligen Theorien von Marx kontextkritisch bewertet werden sollten. Und Marx war in einem konkreten theoretischen Bezugsrahmen (Kant, Hegel, Feuerbach etc.) angesiedelt, aber noch vielmehr war er auch mit dem vorherrschenden Utilitarimus konfrontiert. Beide Größen haben natürlich massiv den Horizont seiner Denkweise begrenzt.

Auch wenn er geglaubt hat, mit dem historischen Materialismus eine "exakte Wissenschaft" etabliert zu haben. Ein Irrglaube, der massiv zur Überheblichkeit und zum Überlegenheitsglauben der Funktionsträger (sofern man beispielsweise amerikanischen Diplomaten glauben möchte) des ehemals real existierenden Sozialismus beigetragen hat.

Eine Denkhaltung, die er als motivationale Grundlage, als kultureller Kontext für das Agieren der Kapitalisten seiner Zeit annahm. Und dieses als Konstante fortschrieb.

Die Frage der Verstaatlichung (Eigentumsverhältnisse) spielt eigentlich für Marx eine untergeordnete Rolle, sondern eher die gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen dieser Situation. Es ging Marx eher um die individuelle Selbstverwirklichung, die er durch die Kollektivierung erreichen wollte und damit die Möglichkeit eröffnete, den technischen Fortschritt zu nutzen, die Arbeitszeit zu verkürzen und die gewonnene freie Zeit dem Individuum zur Verfügung zu stellen, damit jeder nach seinen Möglichkeiten sich als Persönlichkeit entwickelt. Soweit die Theorie.

In der Praxis sind vermutlich die sozialstaatlichen Modelle in Skandinavien den Vorstellungen von Marx am nahesten gekommen. Diese Staaten boten am ehesten die erwünschte materielle Sicherheit und die Chancengleichheit, die Marx als Grundlage für seine Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft vorschwebten. Und sicherlich nicht die staatliche Ausbeutung der Bürger in der ehemaligen UDSSR / RGW-Staaten. In diesem Fall ist lediglich ein Ausbeutungssystem durch ein anderes ersetzt worden.

Hat man Städte/Provinzen umgebaut um dem Klassenlosen angepasst zu sein? Das einzige Beispiel, dass ich dazu kenne ist die Stadt Pripyat

Man sollte vorsichtig sein und nicht vorschnell in Arroganz verfallen und den aufrichtigen Wunsch nach einer besseren Welt, den sicherlich nicht wenige Bolschewiki 1918 für sich als sozialen und politischen Anspruch hatten, negieren.

Beispiele für diese Entwicklung, die allerdings durch den sich entwickelnden "Kriegs-Kommunismus" und den sich dann entwicklenden Stalinismus bereits frühzeitig unterdrückt worden, wie es bei Stites beschrieben ist.

Revolutionary dreams: utopian vision and experimental life in the Russian ... - Richard Stites - Google Books

Diese gesellschaftliche Entwicklung, vor allem in den Städten, ist bei Figes (Tragödie eines Volkes) hervorragend beschrieben.

Eine Beschreibung der stalinistischen Gesellschaft findest Du bei Kotkin und er beschreibt die Entwicklung in Magnitogorsk.

Magnetic Mountain: Stalinism As a Civilization - Stephen Kotkin - Google Books


Magnitogorsk ? Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
2.) Wie man es nimmt...

Hier möchte ich nochmal nachfragen, weil mir angesichts dieses Threads aufgefallen ist, dass ich das tatsächlich nicht weiß:

Es ist ja oft die Rede davon, dass die Praxis "kommunistischer" Staaten die kommunistische Theorie widerlege. Aber hat je ein "kommunistisches" Land behauptet, die Phase der "Diktatur des Proletariats" überwunden zu haben?

Denn, wenn man Wiki Glauben schenken mag, bildet die
„Diktatur des Proletariats“ oder „Herrschaft der Arbeiterklasse“ [...] nach Marx „nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft“ , in der Herrschaftsverhältnisse überflüssig werden.

Diktatur des Proletariats ? Wikipedia

Gibt/gab es also einen Staat, der von sich sagt/gesagt hat, er sei so etwas wie ein real existierender Kommunismus?

(erste Vermutungen: Nordkorea, Kambodscha)

Dass eine Verneinung dieser Frage nicht als Rechtfertigung für die von diktatorischen Regimen begangenen Verbrechen herhalten kann, liegt auf der Hand. Mich interessiert´s halt nur im oben angedeuteten Zusammenhang.
 
@floxx78

Der Versuch einer Antwort. M.W. hat kein sozialistisches Land jemals behauptet, daß es die sozialistische, 1. Phase des Kommunismus, Richtung Verwirklichung des Kommunismus verlassen hat. Es gibt zwar einen Parteitagsbeschluß der KPdSU aus den 1960'er Jahren (Chrustschow), in der UdSSR die Grundlagen des Kommunismus planmäßig aufzubauen, das war es aber auch schon.

Untersucht man mittels der orthodoxen ml Methoden die beiden von Dir angeführten Länder (Kambodscha und Nordkorea) stieße man sehr schnell auf die Kategorie des Kriegskommunismus. Das ist allerdings nicht Kommunismus im ml Sinne, sondern eine rabiate Kriegszwangswirtschaft, die auch in den Frieden hinein extrapoliert werden kann und wurde. Die Kategorie Kriegskommunismus ist nicht originär ml sondern wurde in der UdSSR in den 1920'er Jahren für die Abgrenzung zur NEP verwandt (z.B. Bucharin), eine theoretische Fortsetzung erfuhr der Kriegskommunismus durch die Theorie der "permanenten Revolution" (Marx => Trotzki).

Wie Thane weiter oben schon schrieb, war Marx/Engels bei der Gesellschafts- bzw. Staatstheorie eher schwammig. Weder im Manifest, noch in den Randglossen oder im Anti-Dühring gibt es da eindeutige Aussagen zur Gestaltung der Übergangsphase (Sozialismus) zum Kommunismus. Das hat erst Lenin ausgearbeitet. Außer der Kennzeichnung der neuen Gesellschaftsordnung durch die vollständige Vergesellschaftung der PM und dem Distributions- bzw. Zirkulationsprinzip für den Kommunismus "Jeder nach seinen Bedürfnissen" findet sich da kaum etwas.

Spätestens jetzt wären wir bei einer ml Diskussionsendlosschleife, und zwar, bedeutet Verstaatlichung der PM auch Vergesellschaftung der PM oder nur die Realisierung der Obereigentumsfunktion des Staates, denn von dort führt es direkt in die Stamokap-Theorie.

M. :winke:
 
Spätestens jetzt wären wir bei einer ml Diskussionsendlosschleife, und zwar, bedeutet Verstaatlichung der PM auch Vergesellschaftung der PM oder nur die Realisierung der Obereigentumsfunktion des Staates, denn von dort führt es direkt in die Stamokap-Theorie.

Das wäre m.E. die Fortführung des falschen ökonomischen Primats der Analyse, die bei Marx angelegt ist. Dennoch, die Frage der Eigentumsverhältnisse hat er primär thematisiert, weil er sie in dem damaligen historischen Kontext, m.E. damals zu Recht, als Ursache für die Entfremdung der Arbeiter ansah.

Eine aktuelle Diskussion über Formen von sozialistischen Gesellschaften sollte nicht die historische Zustandsbeschreibung, als analytisches Paradigma, übernehmen, sondern sich zunächst der Frage zuwenden, welche Formen der Entfremdung in einer modernen Industriegesellschaft anzutreffen sind und welche Ursachen ihnen zugrunde liegen.

Um dann die Frage zu beantworten, durch welche Maßnahmen diese reduziert werden können. Möglicherweise würde Marx im Jahr 2012 über die Frage des Eigentums in modernen sozialstaatlichen Gemeinwesen schmunzeln und die verbesserte Chancengleichheit und die gesellschaftliche Mobilität in manchen skandinavischen Ländern loben. Und als angemessene, wenngleich nicht perfekte, Entwicklungsphase einer sozialistischen Gesellschaft ansehen.

Und genau an diesem Punkt setzt auch die Rekonstruktion des Historischen Materialismus bei Habermas ein, der Marx von seinem ökonomischen, deterministischen Anspruch entkleidet und die Frage der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung an den kritischen und rationalen Diskurs der Bürger bindet. Und somit das "Wahrheitskriterium" nicht mehr als Aufgabe bei einer omnipotenten Einparteien-Show liegt, sondern eine kollektive Aufgabe aller verantwortlichen Bürger ist.

Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus - Jürgen Habermas - Google Books

Theorie des kommunikativen Handelns - Jürgen Habermas - Google Books

Untersucht man mittels der orthodoxen ml Methoden die beiden von Dir angeführten Länder (Kambodscha und Nordkorea) stieße man sehr schnell auf die Kategorie des Kriegskommunismus.

Dem stimme ich grundsätzlich zu, wenngleich ich es eher als radikale Variante des "Stalinismus" bezeichnen würde, da der Kriegs-Kommunismus noch durch eine gewisse Form der innerparteilichen Demokratie gekennzeichnet war.

In den oben aufgeführten Ländern treffen wir demgegenüber diktatorische Regimes an, die noch nicht mal den Wert auf eine innerparteiliche Meinungsbildung Wert legen.
 
Zuletzt bearbeitet:
.... Und somit das "Wahrheitskriterium" nicht mehr als Aufgabe bei einer omnipotenten Einparteien-Show liegt, sondern eine kollektive Aufgabe aller verantwortlichen Bürger ist.
...


sic!

Schöner Satz!

Das Problem mit der "Entfremdung der Arbeit" sehe ich etwas anders, dazu aber zeitbedingt später mehr.

M. :winke:
 
Der Versuch einer Antwort. M.W. hat kein sozialistisches Land jemals behauptet, daß es die sozialistische, 1. Phase des Kommunismus, Richtung Verwirklichung des Kommunismus verlassen hat.
Ist nicht Walter Ulbricht in seinen Reden sehr schludrig mit der Unterscheidung Sozialismus/Kommunismus umgegangen?
 
Ist nicht Walter Ulbricht in seinen Reden sehr schludrig mit der Unterscheidung Sozialismus/Kommunismus umgegangen?

Verzeih mir den saloppen Ton, der ist nicht despektierlich gemeint!

Nu, der Genosse Ulbricht war nicht schludrig, ja, er ist nur bei der Konzeption der NÖSPL von der relativen eigenständigen Gesellschaftsformation des Sozialismus ausgegangen, ja, damit geriet er in einen ansatzweisen Gegensatz zur orthodoxen ml Lehre, ja, die sowjetischen Genossen, insbesondere Leonid, ja, haben das nicht so gerne gesehen. Auch die Deutschlandpolitik, ja, wurde von den sowjetischen Genossen kritisch gesehen, nu, Ergebnis bekannt, Zwergenaufstand im Politbüro, die Genossen haben einfach die Beschlüsse des VII. Parteitages nicht verstanden, ja.

Vergl.:

Die Innenpolitik der DDR - Günther Heydemann - Google Books

M. :winke:
 
Zuletzt bearbeitet:
@Melchior: Das Problem mit der theoretischen Analyse des Konstrukts der "Entfremdung" liegt m.E., auch auf der Ebene der Konzeptionalisierung bei Marx, in der dualen Bedeutung bzw. Verwendung des Konstrukts.

Zum einen als Beschreibung einer ökonomischen Beziehung des Arbeiters zu den Ergebnissen des Arbeitsprozesses und somit als ökonomische Größe im Rahmen der Marxschen Mehrwert-Theorie.

Zum anderen als psychologische Größe, die eher ein Gewaltverhältnis beschreibt, das es dem Arbeiter nicht ermöglicht durch seine Ausbeutung im Arbeitsprozess, da er 10 Stunden und mehr arbeiten muss, seine Persönlichkeit zu entwickeln. Und er aus diesem Grund auch individuell in seiner Persönlichkeit unterdrückt wird.

Meine Argumentation stellt den zweiten Aspekt stärker in den Vordergrund, nicht zuletzt weil sich auch die Kritische Theorie von der einseitigen Betonung einer ökonomischen Analyse weitgehend gelöst hat und den Aspekt der Sinnvermittlung via Kulturindustrie und politischer Kommunikation in den Vordergrund stellt.

Interessant ist ebenfalls in diesem Zusammenhang die Interpretation bei Tucker, der Marx komplett reinterpretiert und sein theoretisches Gebäude als "religiöses Gedankengebäude" klassifiziert. Mit allen Konsequenzen für die Einordnung seiner ökonomischen Konstrukte, inklusive dem ökonomisch interpretierten Entfremdungsbegriff.

Karl Marx - Robert C. Tucker - Google Books
 
Zuletzt bearbeitet:
Thanepower ob Marx sich das Modell in Skandinavien vorgestellt hat, würde ich nicht sagen. Die Sozialleistungen sind zwar übig aber die Produktionsfaktoren, die großen Firmen gehören häufig mächtigen Industriefamilien denke an Ikea, Ericson e.t.c.
 
Thanepower ob Marx sich das Modell in Skandinavien vorgestellt hat, würde ich nicht sagen. Die Sozialleistungen sind zwar übig aber die Produktionsfaktoren, die großen Firmen gehören häufig mächtigen Industriefamilien denke an Ikea, Ericson e.t.c.

Ich befürchte, meine bisherigen Ausführungen waren für Dich wenig ertragreich. Die Frage der Produktionsfaktoren ist in einem engen historischen Kontext zu sehen, ohne dass Marx alternative Modelle kannte, die in der Wirkung auf auf einen sozialistischen Staat hinausliefen.

Dabei ist deutlich herauszustreichen, dass der Staat eine "dienende Funktion" an der Gesellschaft zu erbringen hat und nicht die Gesellschaft eine dienende Funktion am real sozialistischen Staat. Und genau diese Aufgabe leisten Sozialstaatsmodelle am ehesten und ermöglichen die Entwicklung von selbsbestimmten Individuen.

Und um gleich ein weiteres Problem zu benennen. Der Begriff der Freiheit heist in diesem Kontext nicht, die individuelle Interpretation, die in der Anarchie und der Auflösung eines Gemeinwesens einmündet, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlich definierter Ziele. Deswegen auch oben der Verweis auf den kritischen Diskurs bei Habermas.

Und da waren die Sozialstaatsmodelle Skandinaviens ein sehr gutes illustrierendes Beispiel.

Der Verweis auf privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen ist dabei weitgehend irrelevant, da aus dem Eigentum unter bestimmten sozialstaatlichen Voraussetzungen die negativen Auswirkungen der Marxschen Prämisse, dass das Sein das Bewußtsein bestimmen würde, nicht mehr zutrifft.

Das Bewußtsein und somit auch die Frage der Entfremdung hat sich von der historisch prägenden Bedeutung des "Manchester Kapitalismus", wie er noch bei Engels (Die Lage der arbeitenden Klasse in England) und bei .P. Thompson (The Making of the English working class) beschrieben ist, weitgehend gelöst.

Insofern ist es Unsinn, die Thesen von Marx von ca. 1850, unkritisch auf die Situation der demokratisch verfaßten, industrialisierten Sozialstaaten West- oder Nordeuropas ohne eine Anpassung an den aktuellen Kenntnisstand im Bereich der Ökonomie, der Politologie oder der Soziologie respektive Psychologie vorzunehmen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Der Marx von vorgestern hat uns für gestern, für heute und die Zukunft wenig hilfreiches zu sagen. Marx gehört nur noch zur Historie des philosophischen Denkens!, aber nicht mehr in das Instrumentarium von gesellschaftsprägenden Sozialtechnologien oder Gesellschaftsentwürfen.
 
Zuletzt bearbeitet:
...
Lange Rede, kurzer Sinn: Der Marx von vorgestern hat uns für gestern, für heute und die Zukunft wenig hilfreiches zu sagen. Marx gehört nur noch zur Historie des philosophischen Denkens!, aber nicht mehr in das Instrumentarium von gesellschaftsprägenden Sozialtechnologien oder Gesellschaftsentwürfen.

Ersteinmal d'accord, Marx, Engels und Lenin sind Bestandteil der Wissenschaftsgeschichte, ob sie einem noch etwas zu sagen haben, muß jeder selbst entscheiden - ad libitum.

Bleibt das Konstrukt, wie Du es nennst, der "Entfremdung der Arbeit". Erlaube mir bitte dabei etwas zu fabulieren und auf die Resonanz hin abzuprüfen.

Vorab noch eines, ich halte die Grundrisse für das wichtigste Werk von Marx.

Wenn die Produktionsfaktoren hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse sich trennen, warum auch immer, wird der doppelt freie Lohnarbeiter von seiner Arbeit bzw. deren Ergebnissen entfremdet. Das läßt sich auch wirtschafts- und sozialhistorisch gut nachweisen. Der doppelt freie Lohnarbeiter bezieht also Einkommen, ohne im Besitz eines der anderen beiden Produktionsfaktoren zu sein. Er besitzt also nur seine Arbeitskraft, die er als Marktteilnehmer verkaufen muß. Dabei nimmt er die Entfremdung willentlich in Kauf. Dabei ist ihm der, aus marxistischer Sicht, geschaffene Gebrauchswert der Ware gleichgültig, solange er seine Ware, nämlich die Arbeitskraft, verkaufen kann.

Soweit so gut. Problematisch wird es für den doppelt freien Lohnarbeiter erst dann, wenn die beiden anderen Produktionsfaktoren seine Arbeitskraft nicht nachfragen. D.h. bei den von Dir weiter oben angeführten Sozialstaatsmodellen, die Entfremdung der Arbeit auf die Spitze getrieben wird, er also Einkommen bezieht, ohne im Besitz von Kapital und Boden zu sein, seine gebrauchswertschaffende Arbeit aber auch nicht nachgefragt wird, sondern er über Umverteilungsmechanismen Einkommen für Nichtarbeit erhält. Diese Art der Entfremdung ist in den angeführten Modellen ebenfalls wirtschafts- und sozialhistorisch gut nachweisbar. Ich meine, die Alimentierung der Nichtarbeit, des Nichtbesitzes von Kapital oder Boden (das hat keinen moralphilosophischen Aspekt) ist die höchste Form der Entfremdung. Das hat nichts mit Neoliberalismus zu tun. ;)

Ich freue mich auf "Feuer".

M.
 
Wenn es dir hier nur um Diskussion von wirtschaftsgeschichtlichen Theorien geht, passen meine Beiträge evtl. nicht.
Da mich die Geschichte der Arbeitswelt noch immer interessiert und die letzte Diskussion vor 3 Wochen in http://www.geschichtsforum.de/f56/wahrer-kommunismus-im-20ten-jahrhundert-33920/index6.html versandet ist, möchte ich es doch versuchen.

Wenn die Produktionsfaktoren hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse sich trennen, warum auch immer, wird der doppelt freie Lohnarbeiter von seiner Arbeit bzw. deren Ergebnissen entfremdet. Das läßt sich auch wirtschafts- und sozialhistorisch gut nachweisen. Der doppelt freie Lohnarbeiter bezieht also Einkommen, ohne im Besitz eines der anderen beiden Produktionsfaktoren zu sein. Er besitzt also nur seine Arbeitskraft, die er als Marktteilnehmer verkaufen muß. Dabei nimmt er die Entfremdung willentlich in Kauf. Dabei ist ihm der, aus marxistischer Sicht, geschaffene Gebrauchswert der Ware gleichgültig, solange er seine Ware, nämlich die Arbeitskraft, verkaufen kann.
Der Umstand, dass einzelne Individuen außer ihrer Arbeitskraft nichts besitzen, ist ein altes Phänomen und hat vor der Industriealisierung nicht zur Entfremdung geführt, weil die Wirtschaftssysteme überschaubar waren. http://www.geschichtsforum.de/f56/wahrer-kommunismus-im-20ten-jahrhundert-33920/index6.html



Soweit so gut. Problematisch wird es für den doppelt freien Lohnarbeiter erst dann, wenn die beiden anderen Produktionsfaktoren seine Arbeitskraft nicht nachfragen. D.h. bei den von Dir weiter oben angeführten Sozialstaatsmodellen, die Entfremdung der Arbeit auf die Spitze getrieben wird, er also Einkommen bezieht, ohne im Besitz von Kapital und Boden zu sein, seine gebrauchswertschaffende Arbeit aber auch nicht nachgefragt wird, sondern er über Umverteilungsmechanismen Einkommen für Nichtarbeit erhält. Diese Art der Entfremdung ist in den angeführten Modellen ebenfalls wirtschafts- und sozialhistorisch gut nachweisbar. Ich meine, die Alimentierung der Nichtarbeit, des Nichtbesitzes von Kapital oder Boden (das hat keinen moralphilosophischen Aspekt) ist die höchste Form der Entfremdung. Das hat nichts mit Neoliberalismus zu tun. ;)

Die von dir angesprochene höchste Form von Entfremdung, nämlich die Alimentierung von Nichtarbeit, entstand mE erst nach der heißen Phase der Industriealisierung.
Der Wirtschaftsaufschwung und große Erfolg der Industriealisierung beruhte darauf, dass viel mehr billige Güter hergestellt und verkauft werden konnten und zwar durch eine neue Form der Organisation von Arbeit in kleinen Schritten unter zunehmender Zuhilfenahme von Maschinen.
Der spezialisierte Handwerker hatte vor der I., auch ohne anderen Besitz, durch sein Können und seine Erfahrung, eine gewisse Marktmacht, da seine Tätigkeit nicht von jedem übernommen werden konnte.
Das änderte sich seit der I. zunehmend. Zuerst wurden körperlich schwere, monotone Arbeitsschritte in der Industrie durch Maschinen ersetzt. Seit der breiten Einführung der EDV findet dieser Austausch Mensch durch Maschine auch in Verwaltung und Dienstleistung statt.

Wenn Menschen für die Arbeit nicht mehr benötigt werden, müssen sie angemessen alimentiert werden, weil die kostengünstig produzierten Güter sonst nicht nachgefragt werden konnten und das System schon deshalb zusammengebrochen wäre.
Ein weiterer Grund, der die Alimentierung aus Sicht der Kapitaleigner notwendig gemacht haben könnte und der zu diversen Sozialstaatsformen geführt hat, ist die Wahrung des "sozialen Friedens" oder anders die Angst vor Gewalt der Massen, Revolution.
Ich freue mich auf "Feuer".

Ist dir das Feuer genug? :devil:
 
Beim Durchlesen meines obigen Beitrags bemerkte ich, dass ich die Zeitform nicht durchgehend in der Vergangenheit eingehalten habe. Ein Indiz, dass das Thema haarscharf die Tagespolitik streift. Da es mir um die neuere Geschichte der Arbeit geht, könnte die Zeit bis zur Agenda 2010 ? Wikipedia begrenzt werden.
Wahrscheinlich wird ohnehin nichts draus, denn zur Threadüberschrift passen die letzten Beiträge sowieso nicht.
 
@rena8

Danke.

Selbstverständlich ist die Besitzlosigkeit von Menschen an den Produktionsfaktoren Boden und Kapital ein "altes Phänomen". Aber, die Besitzer des Produktionsfaktors Arbeit hatten ein hochkomplexes juristisches und auch persönliches gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu den Besitzern des PF Boden. Die Klageakten des Reichskammergerichtes, alleine für das HRR, von Bauern können da als Quelle dienen.

Seit der "städtischen Umwälzung" im MA, ein von der marxistischen Wirtschaftsgeschichte häufig gebrauchter Terminus (z.B. Mottek), bleiben die juristischen und persönlichen Beziehungen zwischen Meister bzw. Zunft einerseits und auch den Gesellen, Lehrlingen andererseits bestehen. Hier könnte man einen Widerspruch zu den PF Kapital und Arbeit wirtschafts- und sozialhistorisch nachweisen, der aber hochreguliert war. Am ehesten kämen noch die sog. Tagelöhner für diesen Widerspruch infrage, da kann man die Volkskunde befragen, welchen sozialen Status selbige hatten (MA, frühe Neuzeit usw.). Zumal dieses Problem aus ökonomischer Sicht marginal war. Selbst die Physiokraten sprachen den PF Kapital und Arbeit jedwede Wertschöpfung ab, ex post Sicht und Kategorisierung.

Erst mit der Herausbildung des Kapitalismus und seinen Folgen (Ind. Revolution, Industriealisierung etc.), in der wirtschafts- und sozialhistorischen, als auch in der volkswirtschaftlichen Literatur legionsweise beschrieben, wurde die Entfremdung der Arbeit ein Thema und Marx hat sie frühzeitigaufgegriffen und thematisiert.

Was hieraus im 19. und 20. Jh. resultierte, ist m.E. eine "kulturelle Schockwelle" mit einer Ausstarhlungskraft in alle Bereiche, mit einer Auflösung aller bis dahin tradierten sozioökonomischen, sozialen (ich vermeide jetzt eine Attributativehäufung) Bindungen.

Das würde ich hier in diesem Thread gerne diskutieren, auch gerne en detail, also konkrete historische Ereignisse, die diese Auflösung illustrieren könnten, die ein "Für oder Wider" beinhalten.

M.
 
Ist zwar schon alt, aber da ich das hier gerade lese:

1.) Na Diktatur des Proletariat ist halt eine Vokabel wie Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder Freiheit, fast jeder Mensch, der sowas hört hat eine eigene Meinung dazu. Da ist es schwierig herauszufiltern welche Meinung Marx genau hatte. Seine Aussagen sind schwammig. Eine Art Aristrokratie des Proletariats, nur wäre das Unmöglich da es so viele Proletarier gäbe. Eine beschränkte Demokratie ohne das Bürgertum und ohne die da oben. Oder doch eine Diktatur einige kommunistischer Intelektueller die schon wissen was gut für die "Idioten", upps ich meine das Proletariat ist.

"Diktatur des Proletariats" ist eigentlich keine beliebige Vokabel, wenn man Marx'ens Definition dessen was das Proletariat denn sei ernstnimmt.

Übernimmt man den Marx'schen Proletarierbegriff, dahingehend, dass jeder, der in irgendeiner Form Lohnarbeit verrichtet und seinen Lebensunterhalt dadurch sichert, dass er seine Arbeitskraft verkauft, Proletarier sei und gleichzeitig die von Marx vertretene Auffassung, dass Politische Interessen und ihre Grenzen im Rahmen von Klassenkämpfen verlaufen bedeutet "Diktatur des Proletariats" nichts andseres als die Durchsetzung der Klasseninteressen der Proletariats in Gestalt der Gesamtheit der Lohnarbeit verrichtenden Individuen.

Die Vorstellung einer Staatsform ist damit erstmal überhaupt nicht verbunden, sondern es handelt sich lediglich um die Beschreibung der Durchsetzung von Marx angenommener Klasseninteressen.

Nimmt man diese Definition des Proletariats und die Annahme, dass es politisch immer nach Klassengesichtspunkten als Einheit handeln würde ernst, könnte eine solche "Diktatur des Proletariats" durchaus als vollertige bürgerliche Demokratie organisiert sein, nicht etwa als "beschränkte Demokratie ohne das Bürgertum und ohne die da oben".

Wenn man Marx'ens Definition des Proletariers als einer lohnarbeit verrichtende Person vollkommen unabhängig davon welche Arbeit sie verrichtet ernst nimmt, wird man zu dem Ergebnis kommen, dass nach seiner Definition das Proletariat, wie er es verstand locker mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachte.

Nimmt man weiterhin Marx'ens Annahme ernst, dass dieses Proletariat als an Klassengeichtspunkten orientierte politische Einheit handeln würde, hätte diese Klasse unter Bedingungen des Allgemeinen und gleichen Wahlrechts in jedem Parlament die Mehrheit gepachtet und damit die Möglichkeit gehabt seine Interessen quasidiktatorisch auf demokratischem Wege gegen alle anderen durchzusetzen.

In diesem Sinne ist "Diktatur des Proletariats" zu verstehen.
Der Begriff insinuiert im Rahmen der Marx'schen Denkfiguren und Definitionen durchaus nicht, dass irgendwem die politischen Rechte abgesprochen werden müssten oder sollten und er ist auch keine Grundlage zur Rechtfertigung irgendeiner Art von "Klassenaristokratie" oder der politischen Vorherrschaft irgendeiner "Arbeiterklasse" (der Begriff insinuiert etwas völlig anderes, als Marx'ens Proletarerbegriff).


Das das so nicht fuktioniert hat und wahrscheinlich auch nie funktionieren wird, liegt daran, dass sich Marx'ens Proletarierbegriff gesellschaftlich nicht durchgesetzt hat und sich in späteren Interpretationen das Verständnis des Begriffs von "Proletarier" mehr oder weniger zu einem Synonym für "Industriearbeiter" oder "irgendwie verarmte Personen" gewandelt hat, sich die Personengruppen, die Marx als Angehörige des Proletariats betrachtete, später völlig anders definierten und dementsprechend auch völlig anders handelten, als Marx das antizipiert hatte.

In diesem Sinne verstanden, kann eine "Diktatur des Proletariats" natürlich nur die Diktatur einer Minderheit sein und ist in dieser Eigenschaft zwangsweise darauf angewiesen die Rechte anderer einzuschränken und ein repressivess System aufzubauen.

Das ist allerdings nicht das, was sich Marx seinerzeit vorstellte.
Für die Vorstellung einer "Diktatur des Proletariats" im Marx'schen Sinne war es eigentlich bedeutungslos ob diese als ein tatsächlich diktatorisches System unter politischer Diskriminierung aller "Nichtproletarier" realisiert würde oder als im Verständnis der Zeit vollwertige Demokratie, denn das wäre wenn man Marx'ens Annahmen zugrunde legt inhaltlich auf das Gleiche hinaus gelaufen, womit Pression eigentlich unnötig gewesen wäre.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe ja nun die „Diktatur des Proletariats“ in einem Teil Deutschlands von Beginn an bis zu seinem Untergang miterlebt.

Man darf ja nicht übersehen, zur „Diktatur des Proletariatsgehört untrennbar dazuunter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei“.

Siehe hierzu Lenins Ergänzung des Marxismus in „Что делать?“ (übersetzt ins Deutsch: „Was tun?“ (Lenin Werke Band 5, geschrieben 1905; Werke Band 5 von m.W. 40. Bänden).

Und das ist der Knackpunkt in der >Marxschen Theorie<.

Denn diese Theorie so wie sich in der Praxis zeigte und in einigen Länder weiterhin zeigt, führt zwangsläufig zum >Personenkult< in dessen Folge ein Machtmissbrauch entsteht.
Dieser Machtmissbrauch ist zwangsläufig, also in dieser Theorie unausweichlich.

Über die Zeit hat ja die Menschheit etliche dieser „unfehlbaren“ kennengelernt.
Eigentlich begann dies schon mit Lenin und führt uns in die heutige Zeit eines Kim Jong-un.
 
Man darf ja nicht übersehen, zur „Diktatur des Proletariatsgehört untrennbar dazuunter Führung einer marxistisch-leninistischen Partei“.

Vielleicht in der stalinistischen Interpretation, aber nicht in der ursprünglichen Marx'schen Setzung. Die kannte nämlich noch keinen "Marxismus-Leninismus" geschweigedenn, dass Marx jemals die Schaffung einer Kaderpartei leninschen Typs angestrebt oder für notwendig erklärt hätte.

Und das ist der Knackpunkt in der >Marxschen Theorie<.
Nein, dass ist der Knackpunkt der Lenin'schen Interpretation, nicht der Marx'schen Theorie.

Mit seiner Idee einer durchhierarchisierten Kaderpartei wich Lenin von den traditionellen Vorstellungen des theoretischen Marxismus deutlich ab und selbst innerhalb der russischen Sozialdemokratie war diese Vorstellung hochumstritten.
Die Auseinandersetzung zwischen Lenin und Martow auf dem Londoner Parteitag 1903, die zur Spaltung der SDAPR in "Bolschewiki" und "Menschewiki" führte, drehte sich ja letztendlich um genau diese Frage.

Am Ende ist es einer der theoretischen Meilensteine auf dem Weg Lenins dahin sich vom klassischen Marxismus zu verabschieden und sich auf den Standpunkt der "Theorie der Permanenten Revolution" zu stellen.


Denn diese Theorie so wie sich in der Praxis zeigte und in einigen Länder weiterhin zeigt, führt zwangsläufig zum >Personenkult< in dessen Folge ein Machtmissbrauch entsteht.
Dieser Machtmissbrauch ist zwangsläufig, also in dieser Theorie unausweichlich.

Nein. Machtmissbrauch und Diktatur sind im Rahmen der "Permanenten Revolution" unausweichlich, allerdings nicht im Rahmen der "Diktatur des Proletariats", wie Marx das verstand.

Die gesamte Vorstellung des Historischen Materialismus bei Marx folgt ja der Vorstellung, dass sich die politische Verfasstheit einer Gesllschaft im Gefolge der Entwicklung ihrer materiellen Grundlagen verändert.
Nach dieser Vorstellung konnte es erst dann zu einer Revolution des Proletariats kommen, wenn dieses zahlenmäßig so weit angewachsen war, dass es als Klasse tatsächlich in die Lage käme als beherrschender politischer Faktor aufzutreten und die Macht der zahlenmäßig deutlich kleineren Bourgeoisie zu brechen.

Diese Vorstellung setzte voraus, dass das Proletariat bereits in dem Augenblick, in dem es überhaupt in die Lage kommen würde die Macht der Bourgeoisie zu brechen die Mehrheit der Gesellschaft stellen würde oder zumindest nah daran wäre, weil es ansonsten nicht in der Lage sein könnte genügend Macht zu entwickeln um die Revolution tatsächlich herbei zu führen.
In dem Moment aber, in dem das revolutionäre Proletariat gleichsam die Mehrheit der Gesellschaft stellte, wie Marx sich das dachte, musste es zur Durchsetzung seiner Interessen keine politische Diskriminierung von irgendwem herbei führen und bedurfte auch keiner Partei um es zur Organisieren.
Aus dieser Vorstellung heraus genügte die Herbeiführung des allgemeinen Wahlrechts um die Durchsetzung der Interessen des Proletariats zu sichern.

Von dieser Vorstellung gingen Lenin und Konsorten zwischen 1902 (Erscheinungszeitpunkt von "was tun") und 1917 sukzessive ab und stellten mit der "Permanenten Revolution" den theoretischen Marxismus auf den Kopf, indem sie von der Prämisse des Historischen Materialismus abgingen und die Reihenfolge umkehrten.

Was die Bolschewiki betrieben, lief ja gerade nicht darauf hinaus eine Revolution nach Marx zu veranstalten, sondern darauf, die gesellschaftlichen Grundlagen, die nach Marx einer Revolution voranstanden und sie auslösen würden, nach der Revolution rückwirkend zu implementieren.

Das klingt auf den ersten Blick wie ein unbedeutender dogmatischer Unterschied, ist es im Hinblick auf die Demokratiefähigkeit der ganzen Veranstaltung aber absolut nicht.
Denn im Sinne der "Permanenten Revolution" die Abfolge umzudrehen, hieß ohne entwickeltes Proletariat eine Revolution für das Proletariat machen und eben dieses Proletariat in dessen Interesse diese Revolution sein sollte, erst im postrevolutionären Zustand aufzubauen.
In dem Moment wo es aber kein Proletariat gab, dass Träger dieser Revolution hätte sein können, oder eben nur ein sehr kleines, was diese Revolution aus sich selbst heraus nicht vollziehen konnte, musste dafür ein Platzhalter geschaffen werden und erst in diesem Moment kommt die Kaderpartei ins Spiel.
So umgedreht, musste eine Minderheit die Revolution machen und die gesellschaftlichen Zustände anschließend so zurechtbiegen, dass das Proletariat als gesellschaftliche Mehrheit, die nach Marx eigentlich Träger der Revolution hätte sein sollen, rückwirkend entstehen konnte um den postrevolutionären Zustand abzusichern.

DAS setzte Diktatur voraus, nicht der Marx'sche Ansatz. Der war durchaus demokrateikompatibel und ist bis in die Zwischenkriegszeit hinein von den meisten europäischen Sozialisten auch so aufgefasst worden.
 
Zurück
Oben