Freie Reichsstadt Riga?

Dieses Thema im Forum "Das Heilige Römische Reich" wurde erstellt von Simplicius, 1. April 2010.

  1. Simplicius

    Simplicius Aktives Mitglied

    Ich habe gerade auf der englischen Wikipedia ein interessantes Zitat gefunden:

    Stimmt das wirklich? Ich wäre sehr dankbar, wenn jemand eine Originalquelle geben könnte, z. B. die Urkunde, die Riga in den Rang einer Reichsstadt erhob.

    Riga - Wikipedia, the free encyclopedia
     
  2. Ravenik

    Ravenik Aktives Mitglied

    Das kann nicht stimmen, da Riga nicht zum Heiligen Römischen Reich gehörte.
     
  3. timotheus

    timotheus Aktives Mitglied

    Ja; das ist exakt - allerdings muß dazu der entsprechende Kontext bzw. Hintergrund beachtet werden:
    Von Riga (Stadt) - EEO

    Riga gehörte zwar genaugenommen gar nicht zum Reich, hatte jedoch vor dem genannten Hintergrund (s.o.) einen politischen Sonderstatus erlangt.

    In der deutschen Geschichtsschreibung einerseits und in der polnischen Geschichtsschreibung andererseits ist dies übrigens eine ziemlich kontroverse Thematik:
    Von Nordosteuropa in Geschichte und Geschichtsschreibung - H-Soz-u-Kult / Tagungsberichte

    Ich selbst kenne zwar keine Urkunde o.ä., jedoch ein zwischen 1567 und 1571 (möglicherweise aber auch erst um 1574 - jedenfalls ist es zeitgenössisch) verfaßtes Gedicht des Danziger Stadtschreibers Hans Hasentöter (alternativ geschrieben auch Hans Johann Hasentödter, Johann Hasentödter, Hans Johann Hasentödter, Johann Hasentöter, Hans Johann Hasentöter, Hans Hasentödter, Johannes Hasentödter); nämlich Eyn newes liedlein:
    Vgl. dazu bspw. http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/10062/8854/4/mackenzenbw.pdf (S. 108)
     
  4. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Meines Wissens gibt es keine solche Urkunde.

    In einer Schrift von 1918 [1] heisst es zwar unter der Überschrift "Riga als freie deutsche Reichsstadt (1562-1582)", dass die Stadt 1576 von Kaiser Maximilian II. "eine Bestätigung ihrer Rechte" erhielt und "in dieser sogenannten Freiheitszeit eine vollständig selbständige Hansestadt" war. Hierbei könnte allerdings der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen sein.

    Andernorts wird die Sache so dargestellt [2]: Die Rigaer führten zwar 1576 Verhandlungen in Wien mit dem Ziel, Reichsstadt zu werden, d.h. man "favorisierte" diese Sache (timotheus). Aber die Gesandten "erhielten vom Kaiser zwar Audienz, aber keinen bestimmten Bescheid. Am 12. October starb Maximilian und mit ihm gingen die Hoffnungen der Stadt Riga zu Grunde".


    [1] Löwis of Menar: Riga. Kurzer geschichtlicher Führer. S. 10 f.
    [2] Richter: Geschichte der dem russischen Kaiserthum einverleibten Ostseeprovinzen..., Theil II, 1. Band, Riga 1858, S. 64

    PS: Siehe auch den folgenden Auszug http://www.google.com/books?id=FUQC...=100&as_brr=3&hl=de&cd=1#v=onepage&q=&f=false
     
    Zuletzt bearbeitet: 1. April 2010
  5. Ravenik

    Ravenik Aktives Mitglied

    Wie kann der Kaiser den Status einer außerhalb des Reichsgebiets liegenden Stadt verändern? Für Riga hatte er doch keinerlei Kompetenzen?
     
    1 Person gefällt das.
  6. Lukrezia Borgia

    Lukrezia Borgia Moderatorin

    ...und ich bin wieder mal darüber erschrocken, dass der falsche Begriff so inflationär verwendet wird. Entweder eine Stadt ist eine freie Stadt, oder sie ist eine Reichsstadt, tertium non datur. Den kann man wohl nie ausrotten.
     
  7. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Ich kann beide Fragen nicht beantworten. Es ist jedenfalls unlogisch, eine Stadt außerhalb des HRRdN als deutsche "Reichsstadt" zu betiteln.

    Warum die Rigaer sich trotzdem um diesen Status bemühten, ist ebenso unklar wie die Frage, was mit dem Titel für Riga reichs- bzw. "völker"rechtlich hätte verbunden sein können - vielleicht nur eine "moralische" Rückendeckung gegen polnische Souveränitätsansprüche?

    Es gibt eine kleine "Vorgeschichte" zu den Ereignissen um 1570, die ich z. B. bei Cröger [1] gesehen habe:
    Um 1330 gab es Händel zwischen Stadt, Orden und Erzbischof. Der Orden hatte u.a. dem Bistum Güter in Riga weggenommen, worauf der Papst intervenierte und Rückgabe verlangte. Der Orden verweigerte das mit dem Argument, Riga sei "keine Erzbischöfliche, sondern eine deutsche Reichsstadt" [sic].

    Was mich zu der Erwägung bringt, ob es seinerzeit überhaupt feste Begriffe oder gar Legaldefinitionen gab. Heusler [2] legt in seiner scharfen Polemik gegen Altmeister Maurer [3] dar, dass der Sprachgebrauch um 1300 denkbar unterschiedlich war.

    "Zu den Städten des Reichs oder Königsstädten, den civitates regiae, imperiales, imperii, werden aber ununterschieden gezählt sowohl die Pfalzstädte als die Städte der geistlichen Fürsten... [Es könne gesagt werden], dass bis auf Karl IV. die Pfalz- und die bischöflichen Städte als Reichsstädte galten."

    Auch der Unterschied zwischen Frei- und Reichsstadt war längere Zeit unklar. "In der Mitte des 14. Jahrhunderts setzt sich der Ausdruck Freistadt fest für alle diejenigen Städte, welche der landesherrlichen Vogtei entwachsen, dennoch aber nicht in das enge Pflichtverhältnis zu dem Reich zurückgetreten sind, in welchem sie ursprünglich gestanden hätten und in welchem z.B. die Pfalz-, jetzt Reichsstädte standen."

    Wer tiefer einsteigen will - viel Glück! :winke:


    [1] Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands, Erster Theil, St. Petersburg 1867, S. 244
    [2] Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, Weimar 1872, S. 235 ff.
    [3] Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 4 Bände, Erlangen 1869-71
     
  8. Simplicius

    Simplicius Aktives Mitglied

    Das ist doch ein Zirkelschluss: Wenn sie eine Reichsstadt gewesen sein sollte, war sie in dieser Zeitperiode ja nicht außerhalb des Reiches.

    Im Übrigen danke ich für die Beiträge!
     
    Zuletzt bearbeitet: 2. April 2010
  9. balticbirdy

    balticbirdy Ehemaliges Mitglied

    Es kann doch eine städtische Exklave gewesen sein, so wie heute das spanische Ceuta.
     
  10. Ravenik

    Ravenik Aktives Mitglied

    Das Baltikum gehörte nie zum Reich. So weit war das Völkerrecht damals auch schon entwickelt, dass der Kaiser eine fremde Stadt nicht einfach annektieren konnte, indem er sie zur Reichsstadt erhebt.
     
  11. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Das ist ärgerlich, aber wahr!:winke:
    Meine Argument ist "nur" ein tatsächliches, kein logisches:
    Riga liegt von der Ostgrenze des HRRdN (14./16. Jh.) so weit entfernt, nämlich ca. 480 km, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass es Reichsstadt hätte werden können. (Die am östlichsten gelegene Reichsstadt ist immer Regensburg gewesen.)

    Soweit ersichtlich, hat es niemals eine Reichsstadt als Exklave des HRR gegeben. Aber korrigiere mich ggf.
     
  12. balticbirdy

    balticbirdy Ehemaliges Mitglied

    So sehr sich @Luki auch über die Bezeichnung erregen mag: Der Begriff "freye und H.R. Reichsstadt" existierte schon, als es das Reich noch gab.
    Gründliche Nachricht von der Kaiserl ... - Google Bücher

    Reichsstadt war Riga nur 20 Jahre lang. Ist vielleicht deshalb nicht so geläufig.

    Das weiß ich wohl. Es geht hier aber auch nicht ums Baltikum, sondern ein altes, im Gegensatz zum Umland deutsch geprägtes, Erzbistum.
     
    Zuletzt bearbeitet: 2. April 2010
  13. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Dann eben von vorn:
     
  14. balticbirdy

    balticbirdy Ehemaliges Mitglied

    Zuletzt bearbeitet: 2. April 2010
  15. Liborius

    Liborius Aktives Mitglied

  16. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Es wäre ja keine Annektion gewesen (also eine Inbesitznahme fremden Gebiets), sondern eine freiwillige Unterstellung der Stadt unter die Oberhoheit des Kaisers.
    Und da das Reich in erster Linie immer noch ein Lehnsverband war, hätte der Kaiser das m. E. sehr wohl machen können.
    Daß er aber sehr wohl die praktischen Schwierigkeiten (Entfernung!) gesehen hat wird ja dadurch belegt, daß die Idee ausführlich verhandelt wurde.
     
  17. Ravenik

    Ravenik Aktives Mitglied

    Das Reich war ein Lehensverband, richtig, aber Riga gehörte eben nicht zum Reich. Und "freiwillig unterstellen" konnte sich Riga dem Reich eigentlich nicht, da die Stadt nicht frei war, sondern fremde Souveränitätsrechte achten musste.
     
  18. R.A.

    R.A. Neues Mitglied

    Genau das wollten die Rigaer ja wohl ändern, wenn ich die hier zitierten Quellen richtig verstehe.
    Und bei einem Lehnsverband war es völlig normal, daß Herrschaften dazukamen oder wegfielen, das war grundsätzlich auch beim Reich möglich.

    Natürlich gab es dafür kein formalisiertes Verfahren. Es gab keinen Antrag auf Reichszugehörigkeit mit Genehmigungsstempel - das war ein sehr individueller Prozeß, der eine gewisse Zeit brauchte.
    Grundsätzlich war es dem Kaiser m. E. sehr wohl möglich, Lehnsherr eines neuen Gebiets zu werden, es dann als Reichsgebiet zu behandeln und dann über eine gewisse Zeit der Gewöhnung zu erreichen, daß dies auch von den übrigen Reichsteilen akzeptiert wurde.

    Da gilt dann das Umgekehrte: Diese fremden Rechte wären gegenstandslos geworden, wenn der Kaiser seine Autorität vor Ort durchgesetzt hätte (eben durch die Anerkennung durch die Rigaer selber) und sich gewohnheitsrechtlich die neue Souveränitätszuordnung durchgesetzt hätte.

    Konkret war es ja so, daß die alten Souveränitätsrechte (des Erzbischofs von Riga) durch die Reformation erledigt waren und ad hoc kein neuer Souverän klar war.
    Der Anschluß ans Reich wäre eine Option gewesen, ein Anschluß an Polen war auch möglich - letztlich durchgesetzt haben sich die Schweden mit dem deutlichsten Mittel der Souveränitätsgewinnung, nämlich der Eroberung.
     
  19. Mephisto

    Mephisto Aktives Mitglied

    Auch wenn das Thema hier schon ein paar Tage "liegt" habe ich noch etwas mittelalterliches/vor-reformatorisches dazu gefunden:

     
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  20. jschmidt

    jschmidt Aktives Mitglied

    Ja, wenngleich es dafür nur eine etwas umstrittene Quelle gibt und sich Philipp seines Lehnsherrenstatus' nur ein Jahr und elf Tage erfreuen konnte. Die Beleihung wurde jedenfalls 1225 von Heinrich VII. erneuert und Albert "in den Reichsfürstenstand" erhoben. [1]

    Freilich bin ich unsicher, was dieser Lehensstatus praktisch bedeutet hat und ob er "international" akzeptiert war. Zeitweise beherrschten ja die Dänen faktisch das Gebiet und später die Deutschordensritter (beide ihrerseits nicht zum HRR gehörig.)


    [1] So jedenfalls Croeger: Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands. Teil 1. St. Petersburg 1867, S. 76
     

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