Gesellschaftl. Ansehen von Seeleuten, 19. Jhd.?

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Gast

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Hallo allerseits!

Vielleicht weiß hier jemand Rat und Hilfe bei folgendem Thema (ich konnte leider nirgends richtig fündig werden):
Welche gesellschaftliche Stellung besaßen Seeleute/Matrosen etc. landläufig in der Zeit zwischen ca. 1800 - 1900 in Europa ? Zählte man sie eher zu den Handwerkern, Kaufleuten usw., oder gehörten sie zum "Gesindel & Pöbel", mit dem man sich besser nicht abgab? Ich meine jetzt nicht Offiziere, sondern die einfachen Leute auf einem Schiff.
Bin für jeden Hinweis dankbar!

Tschüß,
Tilly
 
Die meisten Informationen, die ich zu Seeleuten habe, beziehen sich aufs 18. Jahrhundert. Deswegen kann ich dir kaum mit Quellenverweisen aushelfen.
Aus dem 18. Jahrhundert gibt es Quellen, die behaupten, dass Seeleute ansehensmäßig so tief standen, dass sie sich nur mit Prostituierten messen konnten. Sie waren auch arm, ungebildet und an Land meistens betrunken. Noch dazu war Seemann einer der mit Abstand gefährlichsten Berufe dieser Zeit, also nichts für Leute, die noch andere Optionen hatten. Wie die Arbeit eines Seemanns aber tatsächlich aussah, blieb seinen Zeitgenossen meist verschlossen, so dass sie ein sehr vages Bild von ihm hatten und ihn hauptsächlich nach seinem Benehmen an Land beurteilen, das nun mal ziemlich grob und fremdartig war.
Ich gehe stark davon aus, dass diese Grundeinstellung sich im 19. Jahrhundert nicht verändert hat. In der Hochphase des englischen Empires und der damit verbundenen Überseefahrt ist nicht davon auszugehen, dass die Seeleute größere Feingeister waren als im 18. Jahrhundert, zumal ihre Arbeit auch nicht ungefährlicher wurde – ebenso dürften die meisten Landleute auch nicht mehr Ahnung von der professionellen Seefahrt gehabt haben als zuvor.
Was sich im 19. Jahrhundert allerdings änderte, war eine davon völlig abgekoppelte Romantisierung des Seemanns. Ganz unabhängig davon, wie das eigentliche Leben aussah und wie die Leute vom Land sich verhielten, die direkt mit Seeleuten zu tun hatten (in der Tendenz eher ablehnend und herablassend, würde ich schätzen), standen die Seeleute plötzlich auch für etwas anderes. Sie standen für Freiheit, für eine Verbindung zum Unbekannten und Nicht-Erkennbaren. Das herausragendste Beispiel einer solchen Romantisierung ist „Moby Dick“. Hier hast du z.B. die berühmten Szene von Ismael, der auf dem Ausguck sitzt und seine Gedanken schweifen lässt, während er in die Weiten des Meers hinausblickt. Da hast du eine schöne Zusammenfassung dieses sogenannten „dark romanticism“, in dem es um Sehnsucht, Freiheit, das Verlorene, das Nicht-Erkennbare im Menschen usw. geht. (es gibt am Ende sogar mehrere Ausguckszenen, ich hab das Buch lange nicht gelesen).
 
Es war bei Seeleuten ähnlich wie bei Soldaten, die ja nachdrücklich auf die Ehrbarkeit ihres Standes pochten, so dass es eines eigenen Zeremoniells bedurfte, wenn ein Angehöriger eines "unehrlichen Berufes", ein Abdecker, Henkergeselle aber auch ein "begnadigter Krimineller" in die Armee aufgenommen wurde. Im allgemeinen Bewußtsein waren Soldaten ehr arme Schlucker, als martialische Krieger.

Doch immerhin, wer sich anwerben ließ, hatte damit wieder einen Herrn und damit einen gewissen Rechtsschutz. Eine Altersversorgung existierte allerdings nicht oder allenfalls rudimentär. Freie Unterkunft, Verpflegung, Sold und eine gewisse Rechtssicherung war alles, was Seeleute oder Soldaten zu erwarten hatten. Kein Wunder, dass viele Seeleute durchaus nicht abgeneigt waren, zu den Piraten überzugehen und deren Statuten zu unterzeichnen.

Bei Seeleuten ist zu bedenken, dass es sich dabei, je nach Qualifikation, um durchaus gesuchte Spezialisten handelte. Schiffzimmerleute, Segelmacher, erfahrene Vollmatrosen oder Kanoniere waren durchaus gefragte Leute, und ein Maat der in den Diensten einer wohlhabenden Reederei oder gar für die East India Company fuhr, konnte durchaus damit rechnen, sein Auskommen zu finden.

Beim Walfang war eine Eigentümlichkeit, dass die Crew nicht eine feste Heuer bekam, sondern Anteile am Gewinn erhielt, daher auch die Gegnerschaft des Steuermanns Starbuck, der sich gegen Käpt´n Ahab stellt, als der einen phantastischen Fang abbrechen läßt, um Jagd auf Moby Dick zu machen.

Melville hat sicher zur Romantisierung beigetragen, seine Berichte waren aber auch recht ungeschminkt und er erwähnte auch übliche Mißbräuche, indem Neulinge so übel schikaniert wurden, dass sie vor Ablauf der Fahrt in einem Hafen desertierten, um dann die Heuer einstreichen zu können.

Im 18. Jahrhundert und zur Zeit der napoleonischen Kriege mußten Seeleute im Kriegsfall damit rechnen, gepresst zu werden, und die Methoden der pressgangs dürften in Punkto Zwangswerbung kaum den Praktiken preußischer werber nachgestanden haben, die dafür berüchtigt waren, nicht vor Gewaltanwendung und Kidnapping zurückzuschrecken.


Wo das nicht möglich war, griffen die Werber zu List und Tücke, und der Alkohol war in dieser Beziehung sehr hilfreich. So konnte es verheerend sein, sich von den Werbern einladen zu lassen, weil die dann vielleicht behaupten konnten, es als Vorschuß auf das Handgeld ausgegeben zu haben. Ein unvorsichtiger Handwerksbursche hatte mit hessischen Werbern getrunken und fraternisiert.

"Mein Freund, mein Kamerad, mein Bruder, was du bist, will ich auch sein!" Als er betrunken war hatten die Werber ihn ein Werbeformular ausfüllen lassen, und es half ihm alles nichts, "juchheissa nach Amerika!"
 
Naja, das mit der Piraterie war im 19. Jahrhundert eher schon vorbei, zumindest im westlichen Kontext. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der großen asiatischen Piraten. In Südamerika wurden außerdem Unabhängigkeitsbewegungen von ziemlich brutalen Pirateriewellen begleitet. Aber so Leute wie Henry Morgan, Bartholomew Roberts oder Henry Avery findet man hier nicht mehr.

Übrigens sind Berichte übers Pressen von Seeleuten im 18. Jahrhundert oft übertrieben. Man ist mit der Praxis heute vertraut, da sie oft in Filmen oder Büchern zitiert wird, aber so extrem häufig kam es gar nicht vor. Viel häufiger war es, dass Seeleute über die Routen belogen wurden. Die meisten Seeleute wollten beispielsweise partout nicht auf Sklavenfahrt nach Afrika, weil man dort in der Regel monatelang vor Anker liegen musste und sich in der Zeit Tropenkrankheiten einfing.
Also sagte der Reeder, hör mal, wir fahren in die West Indies, heuere an! Der Seemann heuerte an, sie fuhren auch in die West Indies, aber nicht direkt – sondern über Afrika. Zum besseren Verständnis: Solche Fahrten hatten teilweise 120 % Verlust an Menschenleben (wie man an der Zahl sieht, mussten sie zwischendurch massiv Besatzung nachladen). Ein 30jähriger Seemann galt als alter Mann.

Auch wenn ich nicht finde, dass man in irgendeiner Weise von „Absicherung“ der Seeleute sprechen kann: Es stimmt, dass es ab den 1750ern geregeltere Hierarchien gab als vorher, weil die Staaten dazu übergingen, Handels- und Kriegsschiffahrt zu trennen. Damit ging auch ein Selbstbewusstsein der Seeleute als eigener „Stand“ einher, was man z.B. daran sieht, dass Seeleute 1768 den Streik erfanden.

Die Geschichte ist cool: 1768 wurde über Nacht mal wieder die Heuer kollektiv und drastisch gesenkt (die Bezahlung von Seeleuten war ohnehin oft großen Schwankungen unterlegen, sie wurden oft genug betrogen oder gar nicht bezahlt). Daraufhin strichen Seeleute im ganzen Londoner Hafen die Segel, so dass sie nicht mehr auslaufen konnten, bis das mit der Heuer korrigiert wurde (to strike the sails, daher kommt auch das Wort strike à Streik).
 
Wobei auch Westindien nicht ohne war, was Tropenkrankheiten betraf. Vor allem dem Gelbfieber, das wie Malaria von Mücken übertragen wurde, fielen viele Leute zum Opfer.

Die afrikanische Westküste hatte ein ungesundes Klima für Europäer. Dazu verfügte man meist nicht über gutes Trinkwasser, da in der Regel kein frisches an Bord genommen wurde, und die Sklavenschiffe lagen dazu Wochen dort vor Anker, bis sie die Ladung eingetauscht hatten.

Ebenfalls nicht zu unterschätzen waren Geschlechtskrankheiten.
 
Vielen Dank für die Antworten!
Was hat denn so ein Handelsmatrose im Durchschnitt verdient? Gabs da feste "Löhne", oder hing das mit den Einnahmen so einer Fahrt zusammen?
Kennt ihr hier vielleicht ein paar Internetseiten, die etwas mehr über das Leben auf See und an Land solcher Leute erzählen? Ich hab zwar einige gefunden, aber die stürzen sich meistens auf die Offiziere und Höhergestellten und das einfache, lumpige "Fußvolk" :) wird meistens schmählich vernachlässigt.
 
Zu den 120 % hier eine Quelle über ein Schiff aus dem Jahr 1722:

…the „Weymouth, who brought out of England a Compliment (sic) of 240 Men,“ had „at the end of the voyage 280 dead upon her Books.“

Das ist Marcus Rediker, “Villains of All Nations” (Verso, 2004, S. 44), der ein historisches Register zitiert.



Marcus Rediker ist einer der Historiker, die „bottom-up history“ betreiben, also grob gesagt: sie interessiert das Leben des historischen Pöbels statt des historischen Adels. Wenn du also was über einfache Seeleute des 18. Jahrhunderts wissen willst, bist du z.B. mit Marcus Redikers Buch „Between the Devil and the Deep Blue Sea. Merchant Seamen, Pirates and the Anglo-American Maritime World, 1700-1750“ gut beraten. Du must aber darauf vorbereitet sein, dass der Mann eine Meinung hat und sich nicht scheut, sie in seiner Analyse einfließen zu lassen. Manchmal übertreibt er es ein bisschen mit seiner Rebellion des einfachen Mannes gegen das tyrannische System, aber er recherchiert extrem gründlich und ist nebenbei einer der führenden lebenden Piratenforscher. Er hat unter anderem nachgewiesen, dass es bei den Piraten des frühen 18. Jahrhunderts eine Art einheitliche Piratenkultur gegeben hat.

Wenn dich die Marine ab 1750 interessiert, habe ich ein geniales Buch für dich, das sich aber ungefähr so locker liest wie Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Wenn du also jeden Satz einzeln durcharbeitest und bereit bist, für ein Kapitel einen Nachmittag zu opfern, wirst dir wohlig der Kopf dröhnen vor lauter coolem Wissen über die englische Handelsmarine. Irgendwann wird’s dann aber besser und man liest das so weg.

Hier ist es: N.A.M. Rodger: „The Wooden World. An Anatomy of the Georgian Navy.” (Fontana, 1988)

Wieviel ein Handelsmatrose im Durchschnitt verdient hat, weiß ich nicht. Das kam darauf an, ob:

-gerade Krieg oder Frieden war (im Krieg gab’s mehr Geld)
-ob er auf Prozente oder auf feste Heuer gefahren ist

-welchen Rang er hatte (denn es gab eine Menge davon)
-usw usw



@Scorpio: Oh ja, die Geschlechtskrankheiten. Als der Pirat Edward "Blackbeard" Teach im Jahre 1718 Charleston belagerte, gibt es die Theorie, dass er als Lösegeld für die Stadt hauptsächlich Medizin haben wollte, um seine schwer syphiliskranke Mannschaft zu behandeln. Mann kann sagen, ah bah, alles Spekulation und Seemannsgarn, aber wie du sagst: Das Problem war nicht ohne damals.
 
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Hallo!
"Bottom-up history"... man lernt nie aus! Bis zum heutigen Tag wusste ich gar nicht, dass es diesen Begriff gibt. Aber jetzt kann ich wenigstens mal beim Namen nennen, was mir im Geschichtsunterricht der Schule damals von Anfang an immer gefehlt hat! Danke schön also! :)

Die Buchtipps hören sich recht interessant an. Nur das mit Freund Kant bzw. der frappierenden Ähnlichkeit dazu überlass ich mal besser den Fachleuten *g*.

Noch eine klitzekleine Seefahrts-Frage (hab da ein kleines Faible, kann nichts dagegen machen...):
Stimmt es, dass man als Matrose/einfacher Seemann den Kapitän nicht von sich aus ansprechen durfte und mit Strafe rechnen musste, wenn man's doch tat?
 
Ob man nun nicht mal ansprechen durfte... weiß ich nicht. Aber ich geb dir ein anderes Beispiel, das zumindest gemein ist. Hier ist von Widerspruch gegen einen Offizier die Rede, aber das ist lang nicht das interessanteste Verbot, das in dieser Geschichte zutage tritt. Sie stammt aus dem Jahr 1707, englisches Schiff, Royal Navy (Frühversion der Navy, also einfach Kriegsschiffe).
Wie du vielleicht weißt, war das größte wissenschaftliche Problem des 18. Jahrhunderts die Bestimmung des Längengrades, ohne die keine vernünftige Navigation möglich war sondern nur Pi mal Daumen-Berechnungen. Nun fuhr gerade eine Flotte Schiffe zurück Richtung England und geriet in Nebel. Die Offiziere hatten ihre Position so berechnet, dass sie noch weit vor der Küste weg waren, aber ein einfacher Seemann hatte parallel Berechnungen angestellt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie der englischen Küste schon gefährlich nah waren. Solch "subversive navigation" war ebenso verboten wie einem Offizier zu widersprechen. Der Seemann wusste das, sah aber die ganze Gemeinschaft einer solchen Gefahr ausgesetzt, dass er es trotzdem riskierte, seine Berechnungen mitzuteilen. Er wurde auf der Stelle wegen Meuterei aufgeknüpft. Kurz darauf traf die Flotte tatsächlich auf die Scilly-Inseln vor England und sank mit Mann und Maus.
 
Die Seeleute selbst scheinen auf ihren Beruf allerdings recht stolz gewesen zu sein, wenn man sich mal die Grabsteine von Seemännern anschaut, die an Land gestorben sind... Amrum - Wikimedia Commons

Interessant - aber natürlich auch außergewöhnlich ist auch die Geschichte des Hark Oluf, die er selbst 1747 auf Dänisch und 1751 auf Deutsch verfasste und die in Kurzform auch auf seinem Grabstein steht.
 
Eine köstliche lesenswerte Geschichte! Hark Oluf ist aber in keinster Weise ein typischer Seemann :)
"... meine Eltern hatten die Vorsorge für mich gehabt, mich, ehe ich auf die See kam, im Lesen und Schreiben unterrichten zu lassen."

Er wird schon auf seiner ersten Seefahrt gefangen und als Sklave verkauft (für 450 Pesos = ca. 50..100.000 €). Bei seinem neuen Herren in Algerien nimmt er schnell eine Vertrauensstellung ein, assimiliert sich recht gut und erhält schon bald das 4-fache an Jahreseinkünften)

Sein Herr gibt ihm beim Abschied noch diesen zeitlosen Rat:
"Fahre mit Gott, nimm dich in acht für starckes Geträncke, für Weibes-Volck und für die Juden zu Algier, daß sie dir nicht dein Geld ablauren."

Sein "Abenteuer" erstreckt sich von seinem 14ten (!) bis zum 27ten Lebensjahr.
 
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