Gibt es einen Revisionismus unter Historikern?

Dieses Thema im Forum "Geschichtsmedien und Literatur" wurde erstellt von Dion, 18. Januar 2023.

  1. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Aus dem KLP Gesellschaftslehre (zusammengefasst Erkunde/Geschichte/Politik) für die Sek. I in NRW (2017, verantwortet durch Yvonne Gebauer, FDP):

    Die Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins ist die zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts im Fach Geschichte. Dadurch werden die drei Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so miteinander in Verbindung gesetzt, dass junge Menschen historisches Denken lernen. Auf diese Weise entfalten junge Menschen ihre Fähigkeit und Bereitschaft, differenziert historisch-politisch zu urteilen. Das Geschichtsbewusstsein ist dann als reflektiert zu bezeichnen, wenn Schülerinnen und Schüler sich des Konstruktionscharakters von Geschichte, ihrer Standortgebundenheit und Perspektivität bewusst werden. Geschichtsbewusstsein verlangt von ihnen, eigene Deutungsmuster zu überprüfen und ggf. zu verändern.
    Die Schülerinnen und Schüler entwickeln im Geschichtsunterricht durch die systematische Analyse von historischen Bezügen und Prozessen anschaulich die Zusammenhänge zwischen gestern, heute und morgen. Indem sie die historischen Wurzeln der Gegenwart erkennen und dabei hinterfragen, wie ihre Lebenswelt entstanden ist, lernen sie, sich in der Gegenwart zu orientieren sowie Perspektiven und Wertmaßstäbe für die Gestaltung ihrer Zukunft zu gewinnen. Fachlich geht es dabei im Kern um die exemplarisch an historischen Gegenständen zu gewinnende Erkenntnis, dass das gesamte Umfeld des Menschen vom Nahbereich bis hin zu den großen Systemen von internationalen Organisationen, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in komplexen historischen Prozessen entstanden ist und ständigem Wandel unterliegt.
    Die Lernenden erkennen Faktoren und Wirkungszusammenhänge, die zum Verständnis und zur Erklärung von Gegenwartsphänomenen erforderlich sind, und erfassen so das Gewordensein der gegenwärtigen Welt.
    Gleichwohl müssen zur Vermeidung von historisch nicht begründbarer linearer Erzählungen im Sinne historischer Narrationen ebenso die der Vergangenheit stets innewohnenden Widersprüche, unvorhersehbarer Wendungen, Brüche oder alternativen Entwicklungsmöglichkeiten (Kontingenzen) aufgezeigt werden. So verschafft das Fach Geschichte auch Einsichten in jene Existenzformen und Denkvorstellungen früherer Epochen oder anderer Kulturen, welche nicht unmittelbar mit unserer Gegenwart verbunden sind oder in der Vergangenheit Teil einer kontingenten Zukunft waren. Die reflektierte Auseinandersetzung mit Alterität bewirkt in Kenntnis der Alternativen zum „Hier und Jetzt“ eine kritische Distanz, somit die Einsicht in die historische Gebundenheit des eigenen Standortes und den Gewinn sowie die Nutzung neuer Handlungsperspektiven. Das Fach Geschichte schafft personale und soziale Orientierung für die Schülerinnen und Schüler und befähigt sie, auch unter Einbeziehung außerschulischer Lernorte und digitaler Angebote, zur kompetenten Teilhabe am gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte, an der Geschichts- und Erinnerungskultur sowie zur aktiven Mitwirkung und Mitgestaltung unseres demokratischen Gemeinwesens.
    Konstitutiv für historisches Denken sind einerseits die Formulierung historischer Fragen, die Ermittlung und (Re-)Konstruktion von Vergangenem und das Verfassen eigener Narrationen. Zu historischem Denken gehört auch die Dekonstruktion vorhandener historischer Orientierungsangebote, also in Narrationen enthaltener Deutungen und Beschreibungen, wie sie den Schülerinnen und Schülern in den Angeboten der Geschichtskultur entgegentreten. Historisches Denken ist geprägt durch Multiperspektivität und die Beachtung historischer Qualitätskriterien (Triftigkeit historischer Narrationen), die den fachlichen Anspruch der jeweils erzählten Geschichte sichern.
    Durch die reflektierte Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, Personen, Prozessen und Strukturen gewinnen die Schülerinnen und Schüler Einsichten in die Komplexität geschichtlicher Prozesse, in Dauer und Wandel, in Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, in Beharrung, aber auch Veränderbarkeit von Ordnungen mit ihren Chancen und Risiken, in das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Person und Struktur. Insbesondere der Geschichtsunterricht bietet aufgrund seiner zeitlichen Expertise Chancen, Entscheidungen von Handelnden in der Vergangenheit sowie deren Handlungsspielräume und -alternativen in objektivierbarer Form zu analysieren.
    Hervorhebungen (fett) durch mich.
     
  2. Shinigami

    Shinigami Aktives Mitglied

    Ich halte mich durchaus nicht für einen ausgesuchten Experten, aber wenn ich mir ansehe, was uns im Fernsehen an Dokumentationen so geboten wird, da rollen sich mir ehrlich gesagt die Fußnägel hoch.

    Gerade wo du "Terra X" ansprichst, dieses Format lieefert doch in Teilen ihnaltlich wirklich so viel Unfug, dass jeder, der sich mal ein wenig mit der Materie beschäftigt hat, ganze Folgen komplett zerpflücken kann.
    Wenn ich jeedes mal, wenn ich in diesem Format einen Satzt oder eine Darstellung höre, die so nicht haltbar ist, die Folge anhalten und das kommentieren würde, bräuchte ich für 45 min Material wahrscheinlich 2 Stunden um das abzuarbeiten.

    Die Öffentlich-rechtlichen haben zwar einen Bildungsauftrag, sind aber, sofern sie die Produktion nicht selbst verantworten, sondern nur die Ausstrahlungslizenz für die entsprechenden Sendungen erwerben, auch nicht für den Inhalt verantwortlich.

    Ob dem Bildungsauftrag damit denn genüge getwan wird, ist eine vollkommen andere Geschichte.
     
  3. Shinigami

    Shinigami Aktives Mitglied

    @El Quijote

    Mir sind die theoretischen Vorgaben durchaus bekannt, jemand in meinem familiären Umfeld arbeitet als Lehrer unter anderem für Geschichte in NRW und da die Person an einer Gesamtschule tätig ist, sind mir auch die Probleme, die dadurch entstehen, dass es reinen Geschichtsunterricht an bestimmten Schulformen in der S1 überhaupt nicht gibt,
    durchaus bewusst.

    Mein Problem ist, dass ich nicht sehe, wie das angestrebte Ziel ohne eine deutliche Ausweitung selbstständigen Arbeitens erreicht werden soll.

    Z.B. fällt es mir relativ schwer mir vorzustellen, wie Multiperspektivität erreicht werden soll, wenn vorselektierte Quellen herangezogen werden , deren Interpretationsmöglichkeiten relativ eingeschränkt sind.
    Daraus lassen sich dann vielleicht 2 verschiedene, miteinander vereinbare oder auch nicht vereinbare Positionen gewinnen, allein, tatsächliche Multiperspektivität ist etwas anderes.
    Mal abgesehen davon, dass durch die Vorselektion der Quellen dann auch von vorn herein festgelegt wird, welche Perspektiven aufgezeigt werden.
     
  4. Shinigami

    Shinigami Aktives Mitglied

    Den Umstand, dass Personen, die naturwissenschaftliche Fakten leugnen reale Chancen haben ins Parlament gewählt zu werden, würde ich allerdings nicht unbedingt am heutigen Stand des Schulwesens festmachen, jedenfalls sehe ich keine Anzeichen dafür, dass Probleme wissenschaftliche diskurse und Abläufe nachvollziehen zu können im besonderen Maße Probleme der jüngeren Generation wären.

    Das nehme ich so eigentlich nicht wahr, jedenfalls nicht abseits bestimmter gesellschaftlicher Reizthemen.
     
  5. Shinigami

    Shinigami Aktives Mitglied

    Da wäre ich mir durchaus nicht so sicher, ob das der tatsächliche Effekt wäre, kann mir allerdings durchaus vorstellen, dass genau solche Erwägungen die Produzenten da durchaus beeinflussen.
     
  6. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    Ich würde das unter Zugeständnis zum Thema Templer verbuchen, das sehr viele Leute interessiert und auch Historiker nicht kalt lässt. :D

    Das jetzige Vorhandensein von Vorhängeschlössern spricht nicht gegen einen früheren Geheimgang. Oder einen Gang, der von Bauern so genannt wurde, obwohl ihnen ev. schon immer bekannt – siehe die sog. Erdställe; hier ein knapp 9-minütiger Bericht vom Bayerischen Rundfunk über Erdställe.
     
  7. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Das ist aber, wir du erkannt haben wirst, nicht der Punkt.
     
  8. Scorpio

    Scorpio Aktives Mitglied

    Die Öffentlichen Rechtlichen Sender haben in der BRD laut Rundfunk-Staatsvertrag einen Bildungsauftrag. Diesen sollte man auch einfordern, denn ungeachtet, ob man sich die Formate der Öfis ansehen will oder nicht, Rundfunkgebühren muss der Bundesbürger dennoch (zwangsweise) bezahlen.

    Dass laut Rundfunkstaatsvertrag ein Bildungsauftrag besteht, heißt ja noch lange nicht, dass öffentlich rechtliche Sender, diesem Bildungsauftrag auch nachkommen. Insgesamt finde ich die Art der Geschichtsdokus ziemlich boulevardesk. Dem Zuschauer wird eine Story, eine Sensation, etwas Außergewöhnliches präsentiert. Der Zuschauer wird abgeholt und mitgenommen, und in den meisten Dokus wird ihm auch nahegelegt, wie er empfinden und historische Ereignisse deuten soll.

    Dagegen ist zunächst mal nichts zu sagen. Es ist legitim, den Zuschauern eine Sache schmackhaft zu machen, eine Story mit einer Anekdote aufzulockern, einen Wow-Effekt zu produzieren und zu nutzen. Auch eine etwas reißerische Doku, eine mit kleinen Fehlern kann immerhin Interesse wecken, kann einen Informationsgehalt bieten, kann-gut gemacht- zu einem "Aha-Erlebnis führen. Wenn das geschieht, dann hat die Doku durchaus auch einen Bildungsauftrag erfüllt.

    Leute wie Peter Milger oder auch der Wissenschaftsjournalist Horst Stern, verstanden es, auch komplexe Themen leicht verständlich dem Zuschauer zu präsentieren, und ein Peter Lustig verstand es, auch die Wunder, die im Alltäglichen stecken, anschaulich zu machen, sie zu begreifen.

    Es haben sich seitdem Sehgewohnheiten verändert, und sich auf die nicht einzustellen, wäre fatal. Fatal ist es aber auch, den Zuschauer nur ja nicht überfordern zu wollen, immer schön an der Oberfläche zu bleiben.

    Dokus der öffentlich-rechtlichen Sender wie Terra X-Dokus haben vielleicht ein höheres Niveau, als das "Wissensmagazin" Galileo. Ihnen aber ein durchgängig hohes Niveau zu attestieren, ist aber etwas euphemistisch.

    Wenn in einer Doku über Piraten des 18. Jahrhunderts Pistolen mit Perkussionsschloss auftauchen, wenn mal in einer Doku die Kleidung oder Accessoires nicht ganz der abgebildeten Zeit entsprechen, wenn es kleinere Detailungenauigkeiten in einer Doku gibt, sind das, meiner Meinung nach Fehler, die man wohlwollend übergehen kann, wenn die Doku didaktisch und handwerklich gut gemacht ist.

    Für den durchschnittlichen Zuschauer, aber auch für Historiker sind Fehler oft nicht ohne Weiteres erkennbar. Auffallen werden einem Fehler erst dann, wenn man sich intensiv mit einem Thema beschäftigt oder dazu geforscht hat.
     
  9. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zu Gegenwart. München 2016, S. 33 (Einleitung):

    Die Kapitel 1 bis 5 stellen eine umfassende Überarbeitung meines erstmals 1994 erschienenen Buchs Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert dar. Ich habe hier manches präzisiert, neugefasst, erweitert und zudem versucht, diese Teile dem Interpretationshorizont anzupassen, der sich durch die jüngere und jüngste Geschichte ergeben hat. […] Diese Zuspitzung auf die Gegenwart ist der Tatsache geschuldet, dass die zeitgenössische Umbruchsituation eine Vielzahl von sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen freigelegt hat, die zu einer gewissen Veränderung der Sicht auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt haben. Die erste Auflage war 1993 unter dem Eindruck der postideologischen Ethnisierung und der Konflikte in Bosnien-Herzegowina, Somalia, Tadschikistan und Afghanistan verfasst worden; die zweite Auflage von 2002 hatte ein zusätzliches Kapitel unter der Überschrift Postislamismus erhalten. Mit diesem Begriff versuchte ich, die Pluralität islamischer Vorstellungswelten zu erfassen: … vom Terrorismus der al-Qā‘ida [bei Schulze ein Buchstabendreher. EQ] … bis hin zu liberalen Islamdeutungen…
    Dreizehn Jahre später prägen die Erfahrungen des Arabischen Frühlings die Wahrnehmung der jüngeren und jüngsten Geschichte der islamischen Welt. Die Prozesse, die der Arabische Frühling freigelegt hat, waren 2002 nur ansatzweise und 1993 kaum zu erkennen. Daher war ich gezwungen, manche Aussagen über längerfristige Trends und Prozesse zu überdenken und umzuformulieren. … Daher hat das Buch auch eine neue Einleitung erhalten. ​
     

Diese Seite empfehlen