Grundlagen der Machtsicherung der Diktatur Adolf Hitlers

Ich frage also weniger, warum Hitler sich so lange halten konnte, sondern - nachdem das Kind mit der Machtergreifung schon in den Brunnen gefallen war - warum er sich nur so kurz halten konnte.

Der Grund, weshalb Hitler und mit ihm die Nationalsozialisten nach schon 12 Jahren von der Bühne verschwanden - im Verhältnis zu seiner ursprünglichen Planung ist das ja tatsächlich wenig, gerade mal 12 Promille - ist wohl darin zu suchen, dass er es schaffte, den Westmächten bedrohlicher zu erscheinen als sein Kollege im Osten. (Es gab durchaus Kriegspläne bei den Franzosen und Briten gegen die Sowjetunion, Hitler drängte sich nur ungeschickterweise vor)

Diese Frage hast du dir doch schon selbst beantwortet: Hitler hat den Krieg verloren, und zwar nicht weil er vorzeitig erkannte, dass es nicht mehr weitergeht und einen Waffenstillstand schloss, wie es noch 1918 der Fall war, sondern weil so lange weitermachte, weil er bis zur totalen Niederlage weiterkämpfte. Ich denke, die Dauer der Nazidiktatur läßt sich einzig und allein mit dem Verlauf des Krieges erklären.

Die Frage, wie lange sich Hitler gehalten hätte, wenn er den Krieg gewonnen hätte, ist natürlich spekulativ. Der britische Autor Robert Harris hat sie dennoch in seinem Roman Vaterland gestellt, der 1964 in einer Alternativwelt spielt, in der die Nazis Europa beherrschen.

Noch ein Wort zu Stalin: Auch Stalin wurde nicht von seinen eigenen Leuten aktiv getötet. Stalin erlitt 1953 in seiner Sommervilla einen Schlaganfall. Seine Leibwache bemerkte zwar den Diktator, wie er auf dem Fußboden lag, "vergaß" es aber drei Tage lang einen Arzt zu rufen. So geht zumindest die Legende.
 
Die Wehrmacht bemühte sich tatsächlich nach Kräften, unpolitisch zu sein und konzentrierte sich allein auf ihre militärische Aufgabe. Sie weigerte sich beharrlich, bis eben auf einen kleinen Kreis, aus dem dann auch die Verschwörer von 1944 hervorgingen, in die Politik einzugreifen. Nirgendwo wird das so deutlich wie an der bekannten Antwort Feldmarschall Erich von Mansteins auf den Versuch der Verschwörer, ihn mit ins Boot zu holen: "Preußische Generäle meutern nicht!" Zwar verriet er sie nicht, aber er lehnte kategorisch ab, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen.
Von bitterer Ironie ist dabei, dass sich die Wehrmachtsführung geradezu vorbildlich unpolitisch verhielt, wie das heutzutage von einer demokratischen Armee erwartet wird...

Das mit der "unpolitischen Wehrmacht" ist ein Mythos, der wohl auf Franz Halder zurückgeht, dem, weil er zum militärischen Widerstand um Stauffenberg etc. angehörte, in dieser Frage lange Zeit sachliche Autorität zugebilligt wurde. Die historische Forschung ist aber seit mindestens 15 Jahren über diesen Punkt hinweg.
 
Entschuldigt bitte, wenn das hier OT ist. Aber ich hatte das dringende Bedürfnis, folgende Aussagen nicht unkommentiert stehen zu lassen.

denn sowohl für die Generäle der Wehrmacht, als auch für die Soldaten war es völlig klar, dass alle Befehle - zumal in einem Krieg – unbedingt auszuführen sind. Durch den Eid speziell auf den „Führer“ bedeutete eine Befehlsverweigerung Verrat am „Führer“ und zog eine standrechtliche Erschießung nach sich.

Anmerkung: Hier wird der Eindruck erweckt, als seien die Generäle lediglich Befehlsempfänger Hitlers gewesen. Das ist nicht richtig. Vielmehr wurde ein großer Teil der später als verbrecherisch bezeichneten Befehle in Eigeninitiative von Wehrmachtsgenerälen ausgearbeitet (z. B. der Kommissarbefehl).

Zum Eid auf den Führer: Die Wehrmacht bot von sich aus (!) an, sich auf Hitler vereidigen zu lassen: Quelle.

Zur Legende, dass Befehlsverweigerungen automatisch zur standrechtlichen Erschießung geführt hätten: Beispielhaft sei hier nur auf den Fall des Oberleutnants Josef Sibille verwiesen, der sich weigerte, dem Befehl nachzukommen, die gesamte jüdische Bevölkerung in seinem Zuständigkeitsbereich erschießen zu lassen. Dies hatte keinerlei Konsequenzen! Vgl. http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/pdf/vdw_de.pdf, S. 9.


Die Wehrmacht bemühte sich tatsächlich nach Kräften, unpolitisch zu sein und konzentrierte sich allein auf ihre militärische Aufgabe. Sie weigerte sich beharrlich, bis eben auf einen kleinen Kreis, aus dem dann auch die Verschwörer von 1944 hervorgingen, in die Politik einzugreifen. Nirgendwo wird das so deutlich wie an der bekannten Antwort Feldmarschall Erich von Mansteins auf den Versuch der Verschwörer, ihn mit ins Boot zu holen: "Preußische Generäle meutern nicht!"

Das ist jetzt übelste Geschichtsklitterung und bedient die apologetische Sichtweise, die Wehrmacht sei gegenüber anderen Institutionen des NS-Staates "sauber" geblieben. Manstein gab z. B. den berüchtigten "Reichenau-Befehl" an seine Truppen weiter (»Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen.«) und machte sich nicht nur damit "zum Komplizen einer `unbarmherzigen´ Politik der `Ausrottung´" (Hürter, Hitlers Heerführer, S. 585).

Im Übrigen: Dass preußische Generäle nicht meutern bedeutet überhaupt nicht, dass sie unpolitisch waren. Es bedeutet lediglich, dass sie nicht meutern - mehr nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zum Eid auf den Führer: Die Wehrmacht bot von sich aus (!) an, sich auf Hitler vereidigen zu lassen: Quelle.

Nicht die Reichswehr bot es an (eine Wehrmacht gab es noch nicht).
Es war vielmehr das Werk zweier Generäle, Werner von Blomberg und Walter von Reichenau. Blomberg hatte sich nach seiner Ernennung zum Reichswehrminister eng an Hitler angeschlossen, den er ja nach der Vorstellung von Papen und Hugenberg eigentlich beaufsichtigen sollte, und Reichenau war ein Nazi. Details kann man hier nachlesen (übrigens auch mit dem "Wehrmacht"-Fehler):

Kaum hatte die Nachricht vom Tode Hindenburgs das Wehrministerium in der Berliner Bendlerstraße erreicht, erteilte Blomberg den schon vorbereiteten Befehl, die Wehrmacht auf den neuen Reichspräsidenten und "Führer Adolf Hitler" zu vereidigen -- "ohne einen Auftrag des Führers dazu zu haben und ohne, daß wir ihn um Rat gefragt hätten" (Blomberg).Reichenau diktierte seinem Mitarbeiter Major Hermann Foertsch die Eidesformel, und noch am selben Tag, dem 2. August 1934, schworen Soldaten in allen Kasernen des Reiches "bei Gott", ihrem neuen Herrn "unbedingten Gehorsam" zu leisten und "jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen". Anschließend stimmten sie in das zusätzlich verordnete "Hurra" auf Hitler ein.
SPIEGEL Wissen :: Artikel - Artikel

Man kann wohl davon ausgehen, dass zahlreiche Soldaten, auch höhere Offiziere, von der Eidesformel überrascht waren. Aber was hätten sie bei dieser handstreichartigen Vorgehensweise tun sollen?
 
Barbarossa schrieb:
denn sowohl für die Generäle der Wehrmacht, als auch für die Soldaten war es völlig klar, dass alle Befehle - zumal in einem Krieg – unbedingt auszuführen sind. Durch den Eid speziell auf den „Führer“ bedeutete eine Befehlsverweigerung Verrat am „Führer“ und zog eine standrechtliche Erschießung nach sich.
Anmerkung: Hier wird der Eindruck erweckt, als seien die Generäle lediglich Befehlsempfänger Hitlers gewesen. Das ist nicht richtig. Vielmehr wurde ein großer Teil der später als verbrecherisch bezeichneten Befehle in Eigeninitiative von Wehrmachtsgenerälen ausgearbeitet (z. B. der Kommissarbefehl)...Zur Legende, dass Befehlsverweigerungen automatisch zur standrechtlichen Erschießung geführt hätten: Beispielhaft sei hier nur auf den Fall des Oberleutnants Josef Sibille verwiesen, der sich weigerte, dem Befehl nachzukommen, die gesamte jüdische Bevölkerung in seinem Zuständigkeitsbereich erschießen zu lassen. Dies hatte keinerlei Konsequenzen! Vgl. http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/pdf/vdw_de.pdf, S. 9.
Das hatte vielleicht nicht immer Konsequenzen, aber man mußte doch zumindest davon ausgehen, daß es dazu kommen konnte. Das hing dann aber vom jeweiligen Vorgesetzten ab. Es gab natürlich auch auf höherer Ebene Befehlsverweigerungen, so z. B. die Weigerung ganze Großstädte wie Paris und Wien in "Schutt und Asche" zu legen, aber das waren dann eher rühmliche Ausnahmen denke ich.
Ich habe jetzt auf die Schnelle nichts besseres gefunden, aber es gab noch im Februar 1945 einen Befehl, der mit der standrechtlichen Erschießung von Deserteuren zu tun hatte:
bpb schrieb:
Am 15. Februar 1945 erschien eine Verordnung des Reichsjustizministers über die Errichtung von Standgerichten. Zahllose Todesurteile sollten den Soldaten Schrecken einjagen und sie zum Ausharren in ihren unhaltbar gewordenen Stellungen zwingen. Die Urteile der Standgerichte lauteten entweder auf Tod oder Freispruch. Die Todesurteile wurden durch Erschießen oder, wenn es sich um „besonders ehrlose Lumpen“ handelte, durch Erhängen vollstreckt. An den Erhängten wurden Schilder befestigt: „Ich hänge hier, weil ich ein Defätist bin.“ - „Ich bin ein Deserteur, deswegen werde ich die Schicksalswende nicht mehr erleben.“ - „Ich hänge hier, weil ich nicht an den Führer glaubte.“ Diese öffentlichen Exekutionen wurden von fanatischen „Gerichtsherren“ bis in die Agoniephase des Systems unerbittlich angeordnet und ausgeführt...
Der Zusammenbruch des Dritten Reiches - Krieg, Flucht und Vertreibung
Anmerkung hierzu:
Obwohl der hier angesprochene Befehl erst 1945 heraus kam, nehme ich jedoch an, daß mit Deserteuren auch davor schon ganz ähnlich verfahren wurde. Weiterhin habe ich auch irgendwo mal gelesen (die Quelle muß ich leider schuldig bleiben), daß eine vorsätzliche Selbstverletzung, um sich als Verwundeter den Kampfhandlungen zu entziehen, auch schon ernste Konsequenzen hatte.
 
Weiterhin habe ich auch irgendwo mal gelesen (die Quelle muß ich leider schuldig bleiben), daß eine vorsätzliche Selbstverletzung, um sich als Verwundeter den Kampfhandlungen zu entziehen, auch schon ernste Konsequenzen hatte.

Selbstverstümmelung ist schon seit Jahrhunderten in allen Armeen strafbar.
Auch heute, nach § 17 Wehrstrafgesetz mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren.
Und im Krieg sind die Strafen in der Regel härter.
 
Das hatte vielleicht nicht immer Konsequenzen, aber man mußte doch zumindest davon ausgehen, daß es dazu kommen konnte. Das hing dann aber vom jeweiligen Vorgesetzten ab. Es gab natürlich auch auf höherer Ebene Befehlsverweigerungen, so z. B. die Weigerung ganze Großstädte wie Paris und Wien in "Schutt und Asche" zu legen, aber das waren dann eher rühmliche Ausnahmen denke ich.
Es gibt klare Einsatzbefehle bei Erschießungskommandos, dass keiner der Soldaten oder Polizisten gezwungen werden darf, daran teilzunehmen. Ca. 20 % der Soldaten haben davon Gebrauch gemacht. Leider nicht durchgängig, wohl aufgrund des informellen Drucks durch die Peer Group.
Ich habe jetzt auf die Schnelle nichts besseres gefunden, aber es gab noch im Februar 1945 einen Befehl, der mit der standrechtlichen Erschießung von Deserteuren zu tun hatte:
Befehlsverweigerung und Desertion sind zwei ganz verschiedene paar Schuh - sogar unter den Nazis! Wenn Deserteure nicht streng bestraft werden (was der standrechtlichen Erschießung nicht das Wort reden soll), laufen dem Befehlshaber seine Truppen auseinander. Charisma und Durchsetzungsvermögen sind die Grundvoraussetzungen für einen guten Offizier.
 
Floxx78:
Das ist jetzt übelste Geschichtsklitterung und bedient die apologetische Sichtweise, die Wehrmacht sei gegenüber anderen Institutionen des NS-Staates "sauber" geblieben.
Nana, Ball flachhalten bitte.

Wer aussagt, die Wehrmachtsfürhung habe sich bemüht, nicht politisch aktiv zu werden, behauptet noch lange nicht, dass sie "sauber" geblieben wäre. Das in einen Topf zu werfen halte ich für zu eindimensional.
Es gab, wie in jedem Teil der Gesellschaft und in allen Institutionen, auch in der Reichswehr/Wehrmacht echte Bewunderer, einfältige Mitläufer und egoistische Speichellecker Hitlers. Keine Institution ist während dieser Zeit "sauber" geblieben, das macht sie aber noch lange nicht zu politisch aktiven Gruppierungen. Manstein hat den Reichenau-Befehl weitergegeben. Ok, stimmt. Aber hat er ihn auch erstellt? Und selbst wenn er ihn aus persönlicher politischer Überzeugung gutgeheißen haben sollte, was ich persönlich an dieser Stelle nicht wissen kann, dann wäre trotzdem das Weitergeben seine amtliche Pflicht gewesen.
Die Reichswehr / Wehrmacht als Institution wollte weder Königsmacher noch Königsmörder sein und sie war beides auch nicht. Ob sie von der politischen Führung zu politischen Zwecken verwendet wurde und ob es in ihren Reihen fanatische Unterstützer des aktuellen politischen Systems gegeben hat steht für mich in diesem Zusammenhang nicht zur Debatte. Der Generalstab setzte politische Entscheidungen um, aber er traf selbst keine politischen Entscheidungen. Dass er von vielen dieser Vorgaben wissen musste, dass sie verbrecherisch waren und dass er dagegen aus Gewissensgründen aufbegehren hätte müssen macht ihn aus meiner Sicht "unsauber", aber nicht zu einer "politischen Institution".

Ich habe ein signifikantes Problem mit dieser Sichtweise:
Wenn das bloße Weitergeben von (Dienst-)Anweisungen der politischen Führung einen zum politisch Aktiven macht, dann müssen wir zum Beispiel auch die heutigen Schulen als politisch aktive Institution zählen. Und da bekommen wir ein ernsthaftes Problem, denn das dürfen selbige gesetzlich gar nicht sein. Wenn wir so argumentieren, dann müssen wir feststellen, dass es unpolitische staatliche Institutionen gar nicht geben kann, unabhängig von geltenden Gesetzen. Dann aber dürfen wir nicht von Institution zu Institution nach Belieben unterschiedliche Maßstäbe ansetzen. Auch die heutige Bundeswehr muss die Vorgaben der politischen Führung vor Ort umsetzen, ob sie will oder nicht. Stichwort: Rules of Engagement.

Wir werfen gerne der Wehrmacht vor, sich nicht auf ihr Gewissen verlassen zu haben und verbrecherische Befehle ausgeführt zu haben.
Zu Recht.
Aber auch wenn es zahlreiche Fälle gibt, bei denen Gewissensentscheidungen von Wehrmachtsoffizieren und -soldaten keine signifikanten Folgen für den Betroffenen hatten, so gibt es doch leider auch genügend Fälle, bei denen sie sehr wohl Konsequenzen hatten. Ich stimme hier Barbarossa zu: Es war wohl eine Art Glücksspiel, das davon abhing, welche Vorgesetzten man hatte. Auch wenn es einige Gegenbeispiele gibt, mit Konsequenzen, teils massiver Art, war sehr wohl zu rechnen. (Um so höher ist der persönliche Mut derjenigen einzuschätzen, welche ihrem Gewissen trotz möglicher Konsequenzen folgten)

Wie ist das eigentlich heute?
Das Beispiel von Major Pfaff zeigt, dass es selbst in unserer (unpolitischen) Bundeswehr Mut braucht, zu seinem Gewissen und seiner Interpretation geltenden Völkerrechts zu stehen. Er wurde freigesprochen, aber erst durch das Bundesverwaltungsgericht. Nicht die militärische und auch nicht die politsche Führung wollten seine Entscheidung akzeptieren. Der Bundestag entschied den Einsatz und die Soldaten hatten zu gehorchen. Die Stimme des Gewissens eines Einzelnen wurde zuerst mit absolutem Unverständnis, gar Empörung quittiert.
Ein weiteres Beispiel ist unser ehemaliger Verteidigungsminister Struck, der mehrmals die berufliche Laufbahn von hohen Offizieren beendete, weil sie politisch nicht opportun waren.

Ist die Bundeswehr deshalb eine politisch aktive Institution?
Falls ja, dann hätte ich gerne die Telefonnummer des Bundesverfassungsgerichtes...

Pressestimmen zum Fall Pfaff, 24.06.2005 (Friedensratschlag)

Gruß,

Panzerreiter
 
Aber auch wenn es zahlreiche Fälle gibt, bei denen Gewissensentscheidungen von Wehrmachtsoffizieren und -soldaten keine signifikanten Folgen für den Betroffenen hatten, so gibt es doch leider auch genügend Fälle, bei denen sie sehr wohl Konsequenzen hatten. [...] Auch wenn es einige Gegenbeispiele gibt, mit Konsequenzen, teils massiver Art, war sehr wohl zu rechnen.

Die massivste Konsequenz war die Versetzung in einen anderen Truppenteil oder das Übergehen bei Beförderungen.
 
EQ:
Die massivste Konsequenz war die Versetzung in einen anderen Truppenteil oder das Übergehen bei Beförderungen.
Da hatte ich jetzt zugegebenermaßen mehr erwartet. Das lässt den nötigen Mut, einen Wehrmachtsbefehl zu verweigern, für mich in einem nicht mehr so dramatischen Licht erscheinen.
 
Manstein hat den Reichenau-Befehl weitergegeben. Ok, stimmt. Aber hat er ihn auch erstellt?

In gewisser Weise schon. Der Reichenau-Befehl wurde von Hitler als "ausgezeichnet" bezeichnet - er befahl allen Armeekommandanten an der Sowjetfront, Reichenaus Beispiel zu folgen. (Erich von Manstein - Wikipedia)

Manstein erklärte sich mit dem Befehl voll einverstanden, gab ihn aber nicht einfach weiter, sondern formulierte ihn um:

[FONT=Arial, Helvetica, sans-serif]„Das Judentum bildet den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Wehrmacht und der Roten Führung. Es hält stärker als in Europa alle Schlüsselpunkte der politischen Führung und Verwaltung, des Handels und des Handwerks besetzt und bildet weiter die Zelle für alle Unruhen und möglichen Erhebungen. Das jüdisch bolschewistische System muss ein für allemal ausgerottet werden. Nie wieder darf es in unseren europäischen Lebensraum eingreifen ... Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muß der Soldat Verständnis aufbringen. Sie ist auch notwendig, um alle Erhebungen, die meist von Juden angesteckt werden, im Keime zu ersticken“ (Michael Schröders: Erich von Manstein - ein unpolitischer Soldat ?)

Das klärt dann in gewisser Weise auch dieses Problem:
[/FONT]
Und selbst wenn er ihn aus persönlicher politischer Überzeugung gutgeheißen haben sollte, was ich persönlich an dieser Stelle nicht wissen kann, dann wäre trotzdem das Weitergeben seine amtliche Pflicht gewesen.

Die wortwörtiche Weitergabe des Befehls war keinesfalls seine Pflicht (vgl. hierzu auch Hürter, Angabe unten, S. 584). Es hätte ihm durchaus offen gestanden, den Inhalt des Befehls abzuschwächen - dies allerdings hat er nicht getan. Dies ist bereit ein Indiz dafür, dass Manstein ihn aus persönlicher politischer Überzeugung gutgeheißen hat.

Weitere Hinweise auf Mansteins (anfänglicher) Zustimmung zur NS-Ideologie und zur Praxis der verbrecherischen Kriegsführung finden sich z. B. im Beitrag Michael Schröders: "Erich von Manstein - ein unpolitischer Soldat?"
Michael Schröders: Erich von Manstein - ein unpolitischer Soldat ?

Auch Johannes Hürter geht auf die Übereinstimmung Mansteins mit der NS-Ideologie ein: Hürter, Johannes: Hitlers Heerführer (S.584ff.)
Hitlers Heerführer: Die deutschen ... - Google Buchsuche
 
Das scheint doch ein komplizierteres Thema zu sein, als ich dachte. Hab mich jetzt mal ein bischen schlau gemacht und bin fündig geworden.
Aus: Rez.: HIS (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht DVD-ROM - H-Soz-u-Kult / Rezensionen / Digitale Medien
Es ist klar, dass das Wirken politisch-ideologischer Exekutivorgane in besetzten und militärisch verwalteten Gebieten eine Radikalisierung der Gewalt gegen Zivilisten oder Kriegsgefangene zur Folge hatte. Mit diesen Regelungen waren die unmittelbaren Voraussetzungen für einen „beispiellosen Rassen- und Vernichtungskrieg“ geschaffen worden.
Die (Wehrmachts-)Ausstellung weist nachdrücklich darauf hin, dass diese Voraussetzungen die Wehrmacht „flächendeckend und systematisch“ in den ideologisch geforderten Vernichtungskrieg und die damit verbundenen Verbrechen einband...Dennoch zeigt sich, dass Wehrmachtsangehörige der Macht des politisch-ideologischen Befehls nicht völlig ausgeliefert waren. Der Befehl, so die Argumentation der Ausstellung, ist im Wesentlichen als Auftrag zu verstehen, dessen Ausführung dem Befehlsempfänger obliegt. Der Befehl ist ein „Auftrag, der zum Handeln ermächtigt“. Dabei zeigen sich aber ganz unterschiedliche Reaktionsweisen auf ein und denselben Befehl. Demonstriert wird dies am Beispiel der Geschichte des I. Bataillon des 691. Infanterieregiments. Die drei Kompanieführer dieses Bataillons erhielten den Befehl, die gesamte jüdische Bevölkerung in den jeweiligen Quartiersorten zu erschießen. Dabei traten verschieden Weisen, mit dem Befehl umzugehen, auf: Der Befehl wurde nicht ausgeführt und diese Weigerung mit dem Argument, eine Gefährdung der Sicherheit der Truppe durch die jüdische Bevölkerung sei nicht erkennbar, auch gegen Drängen des Vorgesetzten verteidigt. Oder der Befehl wurde ohne zu Zögern umgesetzt, oder es wurde nachgefragt und dem Befehl aus Angst vor den Folgen einer Befehlsverweigerung dann doch gefolgt. Die Ausstellung argumentiert, dass letztlich jeder Einzelne entscheide, wie er sich in bestimmten Situationen verhält. Die „Freiheit des Handelns ist eine Herausforderung, manchmal ist sie auch eine Zumutung.“...Außerdem bestimmte das Militärstrafgesetzbuch, dass ein Soldat bestraft werden konnte, wenn ihm bekannt war, dass der Befehl eines Vorgesetzten ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen bezweckte.

Interessant. Das hätte ich so auch nicht vermutet.
:grübel:
 
Außerdem bestimmte das Militärstrafgesetzbuch, dass ein Soldat bestraft werden konnte, wenn ihm bekannt war, dass der Befehl eines Vorgesetzten ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen bezweckte.
Das ist ja die Crux.
Ein Verbrechen nach welchen Gesetzen?
Nehmen wir an, ein Land A erlässt ein (nationales) Gesetz, nach dem es legal und sogar Pflicht ist, alle Männer mit Namen Max zu erschießen. Ein Soldat erhält diesen Befehl. Was soll er tun?
a) verweigern, da der Befehl nach Gesetzen anderer Länder ein Verbrechen darstellt
b) ausführen, da dieser Befehl ja schließlich mit den Gesetzen seines Landes konform ist

Wenn er sich für a) entscheidet: wie wird ein (nationales) Militärgericht urteilen? Wird es sich auf die Argumentation mittels fremder Gesetze, welche den eigenen entgegenstehen, einlassen?

Wie dem auch sei: Das ist eigentlich eine rechtsphilosophische Frage, die mich als prinzipiellen Zweifler zwar persönlich stark interessiert, aber nur sehr bedingt mit der Ausgangsfrage dieses Threads zu tun hat. Daher an dieser Stelle beiseite damit.

Ich habe aber mittlerweile ein anderes Problem, bei dem ich um Hilfe bitte: War ich zuerst noch der Meinung, die von mir in dem Ausmaß so nicht erwartet milden Konsequenzen bei der Verweigerung politisch motivierter Befehle mache die Sache klarer, so musste mich eine überschlafene Nacht dahingehend enttäuschen.
Was mich irritiert ist gerade die jetzt mehrmals angeführte Aussage, dass die Befehlsverweigerung in den allermeisten Fällen keine gravierenden Konsequenzen hatte. Nun ist es aber wehrrechtlich sicherlich nicht Usus, auf Befehlsverweigerungen generell derart milde zu reagieren. Die möglichen Konsequenzen sind doch erheblich ernster.
Weshalb hat die Wehrmacht in diesen Fällen dann so milde reagiert?
Das passt für mich nicht so recht in das Bild von der nationalsozialistisch überzeugten, absolut linientreuen und hörigen Wehrmacht. Wäre sie das gewesen, dann hätte sie doch in solchen Fällen härter durchgegriffen. Zu welcher Härte sie grundsätzlich bereit war, zeigt ja ihr Vorgehen gegen Defätisten in der Endphase des Krieges.
Barbarossa hat recht: das scheint recht kompliziert zu sein.

EQ:
Befehlsverweigerung und Desertion sind zwei ganz verschiedene paar Schuh - sogar unter den Nazis! Wenn Deserteure nicht streng bestraft werden (was der standrechtlichen Erschießung nicht das Wort reden soll), laufen dem Befehlshaber seine Truppen auseinander. Charisma und Durchsetzungsvermögen sind die Grundvoraussetzungen für einen guten Offizier.
Auch wenn man Befehlsverweigerungen generell derart milde behandelt
Die massivste Konsequenz war die Versetzung in einen anderen Truppenteil oder das Übergehen bei Beförderungen.
verliert eine Truppe sehr schnell ihre Kampfkraft. Befehlsverweigerung ist sicherlich kein Kavaliersdelikt in einer Armee.
Daher lohnt meiner bescheidenen Meinung nach ein näherer Blick auf die auffallende Milde in der Wehrmacht bei diesbezüglichen Befehlsverweigerungen schon. :grübel:

Immerhin: Es gab diese Verweigerungen, und offenbar gar nicht so selten. Zumindest die Basis war also offenbar zu einem guten Teil nicht mit der politische bedingten Vorgehensweise einverstanden.
Und es wurde auch milde geurteilt. Das zeigt doch, dass auch in den höheren Rängen ein guter Teil nicht mit dieser Vorgehensweise einverstanden war.

Ich bleibe, auch wenn ich nachdenklich bin, im Rahmen der Diskussion erst mal beharrlich: Obwohl, das stand nie außer Zweifel - zahlreiche höhere Offiziere sicherlich von Hitler als Person oder seiner politischen Linie begeistert waren (auch Rommel war zu Beginn ein glühender Verehrer Hitlers) und dies bisweilen in vorauseilendem Gehorsam zum Ausdruck brachten, kann ich nicht so ohne weiteres die Wehrmacht als Ganzes zur politisch aktiven Institution erklären.
(Auch Schulrat wird heutzutage am ehesten derjenige, der das richtige Parteibuch hat, zumindest in Bayern. Allgemein erleichtern die richtige politische Einstellung und die damit einhergehenden Kontakte den Aufstieg in staatlichen Institutionen. Das erklärt vielleicht auch die Häufung linientreuer Nazis in den oberen Wehrmachtsrängen)

Gruß,

Panzerreiter
 
Das ist ja die Crux.
Ein Verbrechen nach welchen Gesetzen?

Den damals gültigen Gesetzen des Dritten Reiches. Grobe Orientierung über das geltende Recht boten den Soldaten die im Soldbuch abgedruckten "10 Gebote für die Kriegsführung des deutschen Soldaten".

Zehn Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten | Zweiter-Weltkrieg.eu

Die Crux liegt also nicht in der Frage danach, ob sich der Soldat an nationale oder internationale oder ausländische Gesetze halten sollte. Sie liegt vielmehr in der Frage, inwiefern im NS-Staat überhaupt geltendes kodifiziertes Recht als verbindlich anzusehen war (z. B. war ja die Weimarer Verfassung weiterhin in Kraft - freilich ohne, dass sie beachtet worden wäre).

Wie dem auch sei: Das ist eigentlich eine rechtsphilosophische Frage, die mich als prinzipiellen Zweifler zwar persönlich stark interessiert, aber nur sehr bedingt mit der Ausgangsfrage dieses Threads zu tun hat. Daher an dieser Stelle beiseite damit.

Rechtsphilosophische Erörterungen zum Problem von Befehl und Gehorsam finden sich in dem äusserst lesenswerten Aufsatz von Georg Geismann: Befehl ist Befehl - Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit. http://sammelpunkt.philo.at:8080/688/1/9153.0.zfpol-1a.pdf

Ich habe aber mittlerweile ein anderes Problem, bei dem ich um Hilfe bitte: War ich zuerst noch der Meinung, die von mir in dem Ausmaß so nicht erwartet milden Konsequenzen bei der Verweigerung politisch motivierter Befehle mache die Sache klarer, so musste mich eine überschlafene Nacht dahingehend enttäuschen.
Was mich irritiert ist gerade die jetzt mehrmals angeführte Aussage, dass die Befehlsverweigerung in den allermeisten Fällen keine gravierenden Konsequenzen hatte. Nun ist es aber wehrrechtlich sicherlich nicht Usus, auf Befehlsverweigerungen generell derart milde zu reagieren. Die möglichen Konsequenzen sind doch erheblich ernster.
Weshalb hat die Wehrmacht in diesen Fällen dann so milde reagiert?

Man darf sicher nicht pauschal urteilen, jegliche Befehlsverweigerung habe keine gravierenden Konsequenzen gehabt. Hier ist zu differenzieren. Die angeführten Beispiele bezogen sich auf "politisch motivierte Befehle", die etwa dazu aufforderten, sich an Erschießungen von Juden zu beteiligen. Hier wurde auf eine Verweigerung milde reagiert. Anders war es sicher bei rein militärischen Befehlen. Hinzuweisen wäre auch auf die Radikalisierung der Militärgerichtssprechung in der letzten Phase des Krieges.

Zur Frage, warum auf die Verweigerung politisch motivierter Befehle so milde reagiert wurde: Meine These ist, dass gerade dadurch die Moral der Truppe aufrecht erhalten werden sollte. Menschen zu offensichtlich widerrechtlichen Taten zu zwingen macht es wahrscheinlich, dass sich diese in Opposition begeben. Ein weiterer Grund für die "Milde" dürfte sein, dass der Wehrmacht nicht daran gelegen war, ihre Beteiligung an (völker)rechtswidrigen Taktiken an die große Glocke zu hängen - dazu wäre es aber gekommen, wenn solche Dinge vor Kriegsgerichten verhandelt worden wären.

kann ich nicht so ohne weiteres die Wehrmacht als Ganzes zur politisch aktiven Institution erklären.

Das hat hier bislang auch niemand behauptet und ist m. E. auch unsinnig, da es einer Pauschalverurteilung aller Angehörigen der Wehrmacht gleichkommen dürfte. Dass die Wehrmacht im Ganzen allerdings nicht unpolitisch war, kann schon behauptet werden. Auch gibt es gute Gründe, OKW und OKH als politisch aktive Institutionen zu erklären, da sie der NS-Ideologie in weiten Teilen zugestimmt und sie aktiv umgesetzt haben.
 
Was mich irritiert ist gerade die jetzt mehrmals angeführte Aussage, dass die Befehlsverweigerung in den allermeisten Fällen keine gravierenden Konsequenzen hatte. Nun ist es aber wehrrechtlich sicherlich nicht Usus, auf Befehlsverweigerungen generell derart milde zu reagieren. Die möglichen Konsequenzen sind doch erheblich ernster.
Weshalb hat die Wehrmacht in diesen Fällen dann so milde reagiert?
Das passt für mich nicht so recht in das Bild von der nationalsozialistisch überzeugten, absolut linientreuen und hörigen Wehrmacht. Wäre sie das gewesen, dann hätte sie doch in solchen Fällen härter durchgegriffen. Zu welcher Härte sie grundsätzlich bereit war, zeigt ja ihr Vorgehen gegen Defätisten in der Endphase des Krieges.
Barbarossa hat recht: das scheint recht kompliziert zu sein.

Auch wenn man Befehlsverweigerungen generell derart milde behandelt
verliert eine Truppe sehr schnell ihre Kampfkraft. Befehlsverweigerung ist sicherlich kein Kavaliersdelikt in einer Armee.
Daher lohnt meiner bescheidenen Meinung nach ein näherer Blick auf die auffallende Milde in der Wehrmacht bei diesbezüglichen Befehlsverweigerungen schon. :grübel:

Immerhin: Es gab diese Verweigerungen, und offenbar gar nicht so selten. ...zahlreiche höhere Offiziere sicherlich von Hitler als Person oder seiner politischen Linie begeistert waren (auch Rommel war zu Beginn ein glühender Verehrer Hitlers)...
Da fällt mir zu Rommel gerade etwas ein. Vor Kurzem habe ich in PM History einen Artikel über Rommel gelesen, den ich jetzt noch mal herausgesucht habe, und auch Rommel hat einzelne Befehle aus Berlin mißachtet, wie z. B. hier:
...Mit solchen Tricks täuschte Rommel den Feind, und dessen Luftaufklärer fielen mehr als einmal darauf herein. Zudem ließ Rommel Flugabwehrgeschütze völlig unkonventionell gegen die alliierten Panzer einsetzen, was eine verheerende Wirkung hatte.
Entgegen den Befehlen aus Berlin ging Rommel in die Offensive. Am 24. März 1941 eroberten die deutschen und italienischen Truppen El-Agheila zurück, bis zum 10. April war die gesamte Cyrenaika wieder in der Hand der Achsenmächte Deutschland und Italien. In der Berliner Befehlszentrale hatte mittlerweile - angesichts der Erfolge - Hitler sein Einverständnis zu der Offensive gegeben.
Das heißt, auch hier lag zumindest eine Befehlsübergehung von Seiten Rommels vor und angesichts der Erfolge reichte Hitler sein Einverständnis zu Rommels Vorgehen nach. Rommel wurde danach in Deutschland sogar gefeiert - weil er erfolgreich war. Anders hätte es wohl ausgesehen, wenn es hier schon schief gegangen wäre...
 
Die wortwörtiche Weitergabe des Befehls war keinesfalls seine Pflicht (vgl. hierzu auch Hürter, Angabe unten, S. 584). Es hätte ihm durchaus offen gestanden, den Inhalt des Befehls abzuschwächen - dies allerdings hat er nicht getan. Dies ist bereit ein Indiz dafür, dass Manstein ihn aus persönlicher politischer Überzeugung gutgeheißen hat.

Hürtner bringt zahlreiche Beispiele aus dem Oktober-Dezember 1941, die sich als Fortsetzung des Reichenau-Befehl darstellen.

Ob damit immer eine politische Stellungnahme verbunden war, ist mE schwierig zu beantworten. Ich möchte das an folgendem erläutern und am Beispiel von Reichenau selbst skizzieren:

R. war politisiert, der NSDAP nahestehend und mit Machtübernahme an den Schaltstellen der Macht. Möglicherweise war seine Mitwirkung 1933 überhaupt der Auschlag dafür, dass Blomberg (mit dem Stabchef Reichenau) für Hitler akzeptabel war, vielleicht sogar eine sehr willkommene Lösung für den Posten des Reichswehrministers darstellte.

Mit Beginn des Ostfeldzuges am 22.6.1941 ergab sich eine bemerkenswerte Konstellation: neben der 6. Armee Reichenaus stieß die 17. Armee Stülpnagels im Rahmen der Heeresgruppe Süd vor. Diese beiden Armeen (zuzüglich der PzGruppe 1 von Kleist) hatten die größten Schwierigkeiten, die Operationsplanung umzusetzen. Insbesondere Reichenaus Armee war zahlreichen Flankenstößen ausgesetzt und lag Anfang August vor Kiew fest.

Die beiden waren Jahrgangskameraden der Kriegsakademie 1912.

Stülpnagel - im Gegensatz zu dem NSDAP-Anhänger und politisierenden Reichenau - stand dem NS-Regime kritisch aufgrund der Kriegspolitik gegenüber und war 1939 davon überzeugt, dass der Krieg gegen die Westmächte nur mit einer Niederlage Deutschlands enden könne. Er wurde - ähnlich wie Wagner - von Halder dazu eingesetzt, die Mitwirkung der Divisionskommandeure, der Armeechefs und der Heeresgruppen-OBs im Westen zu klären, die Offensive zu verweigern. Diese Reise führte zu der ernüchternden Erkenntnis, dass insbesondere die vielen jüngeren Kommandeure bei einer Entmachtung Hitlers nicht mitmachen würden.

Der Pessimismus Stülpnagels hatte sich 1940/41 durch die militärischen Erfolge gelegt, trat aber mit dem Fehlschlag der Operationsplanung Barbarossa Ende September 1941 im Osten wieder hervor. Es gelang auch mit der Kesselschlacht von Kiew nicht, die vor der Heeresgruppe Süd auftretenden Verbände der Roten Armee entscheidend zu schlagen, vielmehr stieß man nun in die Weiten des Raumes vor, vor sich unverändert eine überlegene Zahl an gegnerischen Verbänden. Im September/Oktober trat dazu eine ernste Versorgungskrise der Heeresgruppe ein, die sich bis Ende des Jahres absehbar katastrophal verschärfen würde.



Reichenau und Stülpnagel gerieten nun persönlich durch ausbleibende Erfolge bei OKH/OKW schwer unter Druck, Anfang Oktober 1941 wurde ihre Ablösung von Hitler und vom OKh/OKW bereits erwogen. Reichenau und Stülpnagel (nebeneinander mit ihren Armeen und miteinander im Gespräch) - das wäre nun die These - haben im Oktober den Fehlschlag des 3-monatigen Feldzugsplanes voll erfaßt, während vom OKH gleichzeitig die Ziellinie Woronesch-Maikop völlig realitätsfern noch für 1941 vorgegeben wurde. An der Vormarschgeschwindigkeit wurde laufend Kritik geäußert, ebenso an der angeblich zu vorsichtigen und enggestaffelten Armeeführung (da OKH keine Gefahren mehr vor beiden Armeen sah).

Reichenau dürfte nach seinen bisherigen Erfolgen im Westen etc. das erste Mal unter massiver Kritik gestanden haben, militärisch außerdem vakant gestellt durch die bisherigen Mißerfolge der 6. Armee seit der Pripjet-Flankenschlacht und zusätzlich beunruhigt durch die anscheinend nicht versiegende sowjetische Armeestärke. Stülpnagel äußerte sich Ende September pessimistisch und sah mit dem Fehlschlag der Planung in der Folge den Kriegsverlust für das Deutsche Reich. Er dürfte zu diesem Zeitpunkt auch mit Reichenau - der selbst in der Kritik stand - gesprochen haben, von Zurückhaltung kann man bereits aufgrund der Einbindung Reichenaus in die geplante Verweigerung der Westoffensive kaum ausgehen.

Eine Erklärung wäre nun, abseits dieses von Stülpnagel verbreiteten Pessimismus: der Armeechef Reichenau trat die Flucht nach vorne an (während Stülpnagel dienstunfähig und abgelöst wurde), um in erster Linie seine Position zu sichern. Wenn er bei Hitler punkten wollte, dann ist der besagte Befehl von vornherein eine sichere Angelegenheit gewesen. Zudem punktete er damit gegen seinen Chef Rundstedt, der die Heeresgruppe Süd führte und ebenfalls zunehmend unter Druck geriet, schließlich 6 Wochen später auch abgelöst wurde - von Reichenau, der im Oktober selbst noch auf der Abschussliste stand. Dieses könnte ein Anlaß für den Befehl sein - zu genau diesem Zeitpunkt (eben nicht am 22.6.), und in genau dieser Lage. Dazu käme der von Stülpnagel und Reichenau geteilte Pessimismus über die kommenden Wintermonate, die Reichenau auf seine Art mit einem fanatisierenden Befehl und Antrieb zu rücksichtslosem Morden im Rückraum der Front beantwortete; schließlich die von beiden gesehene Versorgungskrise, die den Rückraum aufgrund der 2,3 verbleibenden Verbindungslinien anfällig gemacht hatte.

Den Reichenau-Befehl würde ich daher als eine taktierende Karriereentscheidung deuten. Hitler zeigte sich von diesem Befehl (über dessen Zuleitung man sich wohl nicht zu wundern braucht) begeistert, Reichenau saß mit einem Schlag - nicht wegen militärischer Wendungen - wieder fest im Sattel und wurde vom Ablösekandidat zum Auswechselspieler für Rundstedt.

P.S. am 12.10. wurde übrigens parallel an die HG Nord (Ritter von Leeb) die Weisung durch OKW gegeben, eine etwaige Kapitulation Leningrads zurückzuweisen. Gleichzeitig wurde von Hitler und OKW dieselbe Überlegung bezüglich Moskaus angestellt.


Es ist - wie gesagt - nur ein Erklärungsansatz. Aber auch einer, der vielleicht einen weiteren Baustein zur Machtsicherung (siehe Thema) bringt: Karrieren in den komplexen politischen und militärischen Strukturen des Dritten Reiches, selbst bei einem Exponenten des politisierten Militärs wie Reichenau.

Im Ergebnis würde ich diese Aussage immer nur auf Personen und Zeitpunkte hin prüfen:
Dass die Wehrmacht im Ganzen allerdings nicht unpolitisch war, kann schon behauptet werden. Auch gibt es gute Gründe, OKW und OKH als politisch aktive Institutionen zu erklären, da sie der NS-Ideologie in weiten Teilen zugestimmt und sie aktiv umgesetzt haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
floxx78:
Dass die Wehrmacht im Ganzen allerdings nicht unpolitisch war, kann schon behauptet werden. Auch gibt es gute Gründe, OKW und OKH als politisch aktive Institutionen zu erklären, da sie der NS-Ideologie in weiten Teilen zugestimmt und sie aktiv umgesetzt haben.
Wie ich schon angedeutet habe: Unter der Voraussetzung, dass die Zustimmung und Umsetzung politischer Vorgaben eine staatliche Institution "politisch" macht, stimme ich uneingeschränkt zu. Das ist dann lediglich eine Frage der Definition. (In Bezug auf OKW und OKH stimme ich allerdings leichten Herzens zu. Das fällt auch nicht schwer, wenn man bedenkt, wer der Oberkommandierende war. Diese Institutionen waren ja unter direkter politischer Führung.)

Allerdings gebe ich weiterhin zu bedenken, dass - von OKW und OKH jetzt mal abgesehen - unter diesen Definitionskriterien alle staatlichen Institutionen, denen gegenüber die politische Führung direkt oder indirekt weisungsbefugt ist (das wären de facto alle), als "politische Institutionen" anzusehen sind. Auch jeder einzelne Bürger, der gesetzestreu zu bleiben versucht (Gesetze sind im Prinzip nichts anderes als von der politischen Führung beschlossene Weisungen, denen unter Strafandrohung Folge zu leisten ist) ist somit ein politisches Subjekt.
Ob diese Definiton Sinn macht, da hiermit alle Institutionen (staatlich oder nicht) und Bürger eines Staates "politisiert" werden, mag ich bezweifeln.

Ich lasse mich aber im Rahmen dieser Diskussion auf diese Definition ein, da sie bei genauerem Hinsehen zeigt, wie schwer man sich den Entscheidungen der politischen Führung entziehen kann, auch in einem modernen, demokratischen System.
Die ursprüngliche Frage war ja, wie die Diktatur ihre Macht gesichert hat.

Zu den 10 Geboten der Kriegführung:
Ich würde Punkt 10 nicht unterbewerten. Er ist das Hintertürchen, mit dessen Hilfe alle anderen Gebote auf Weisung von oben einfach ausgehebelt werden können. Die Führung braucht sich bloß auf irgendeinen Verstoß des Feindes - ob wahr oder erfunden - berufen.
...Verstöße des Feindes gegen die unter 1-8 aufgeführten Grundsätze sind zu melden. Vergeltungsmaßregeln sind nur auf Befehl der höheren Truppenführung zulässig.
Soweit ich das überblicken kann, wurden ja quasi alle "verbrecherischen" Befehle irgendwie als "Vergeltung" für irgendwas erlassen.

Einen netten Kommentar dazu habe ich auf einer Seite gefunden, die der (extremen) Linken zuzuordnen sein dürfte:
...Was gilt das Völkerrecht, wenn ein Führer, Präsident, Minister es zu brechen befiehlt. Das ist die Kardinalfrage.
LINKSNET - Die 10 Kriegführungsgebote

Gruß,

Panzerreiter
 
Dass der Mord an Menschen auch während des NS-Regimes als Mord bewertet wurde, mag man an zwei Dingen sehen:

Es gab zunächst noch Gerichtsverfahren gegen SS-Angehörige wg. Mordes. Ich zitiere aus Harald Welzer, Täter, S. 99:

"Die ersten Massaker an polnischen Juden fanden bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn statt, stießen allerdings als Initiativtaten einzelner SS-Angehöriger auf Missfallen und wurden gelegentlich gerichtlich verfolgt. - so etwa in den Fällen eines SS-Sturmmannes und eines Polizeiwachtmeisters, die auf eigene Faust etwa 50 Juden erschossen hatten. Herbert Jäger nennt daneben auch ein kriegsgerichtliches Verfahren um dieselbe Zeit, wo es darum ging, dass ein SS-Mann wiederum aus eigener Initiative 50 jüdische Gefangene erschossen hatte. Die Häufung solcher Fälle vor den Gerichten führte offenbar zu einem Gnadenerlass Hitlers für alle derartigen Gewaltverbrechen, die bis zum 4. Oktober 1939 in den besetzten polnischen Gebieten von Deutschen begangen waren."

Welzer verweist dann weiter auf Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität. Olten/Freiburg 1967, S. 23.

Das zweite Indiz ist die Genese des Holocaustes. Es ist sicher nichts Neues, dass die Nazis sich einer euphemistischen Sprache bedienten, die Kriegsverbrechen verschleiern sollte. So wurden Juden als Banditen (=Partisanen) bezeichnet. Gemäß dieser Logik wurden bei den ersten Erschießungen auch "nur" Männer im waffenfähigen Alter ermordet. Wenige Wochen später kam man dann darauf, das auch Frauen waffenfähig seien, schließlich gab es einen Fall von einem Haus voller jüdischer Säuglinge, um die sich niemand kümmerte. Eine Wehrmachtseinheit fühlte sich von dem Plärren der Kinder gestört, eine Beschwerde des verantwortlichen Offiziers führte dann dazu, dass auch die Kinder ermordet wurden. Logistische Probleme bei den Massenerschießungen und die "Unzumutbarkeit" dieser Massenerschießungen für die Ausführenden führten dann schließlich zu den berühmten Experimenten mit Gaswagen und den Gaskammern von Treblinka und Auschwitz.

Hätten nicht auch 1941/42 trotz des Krieges halbwegs normale Rechtsnormen gegolten, hätte man sich der euphemistischen Sprache nicht bedienen müssen, um einen Grund zu generieren, hunderttausende von Juden zu erschießen.
 
Mir geht da gerade noch etwas durch den Kopf:
Wir haben uns ja jetzt erst mal (fast) nur über die Kommandoführer unterhalten, aber wie war das mit dem einzelnen Soldaten?
Wenn der von seinem direkten Vorgesetzten einen klaren Befehl erhielt, er solle auf der Stelle so und so viel Zivilisten töten, dann kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, daß es ohne schwerwiegende Folgen blieb, wenn er diesen Befehl verweigerte, trotz der Sachen, die wir uns nun erarbeitet haben.
:grübel:
 
Mir geht da gerade noch etwas durch den Kopf:
Wir haben uns ja jetzt erst mal (fast) nur über die Kommandoführer unterhalten, aber wie war das mit dem einzelnen Soldaten?
Wenn der von seinem direkten Vorgesetzten einen klaren Befehl erhielt, er solle auf der Stelle so und so viel Zivilisten töten, dann kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, daß es ohne schwerwiegende Folgen blieb, wenn er diesen Befehl verweigerte, trotz der Sachen, die wir uns nun erarbeitet haben.
:grübel:

Es steht schlicht und einfach in solchen Befehlen drin, dass es den Soldaten/Polizisten frei steht, sich von Erschießungsaktionen fern zu halten.
 
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