Von der Bauernmagd zur städtischen Prostituierten - ein Ausweg im zaristischen Russland?

Nathan

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Liebe Foren-Mitglieder,

ich bin total verzweifelt und brauche Eure Hilfe!

Ich muss eine Hausarbeit (20-25 Seiten) für ein Seminar der Osteuropäischen Geschichte verfassen und finde einfach keine gute Gliederung für meine Forschungsfrage! (Habe große Angst bereits getätigte Forschung einfach wiederzugeben)

Meine Forschungsfrage ist: War für Bäuerinnen der Berufsstand der Prostituierten ein Weg in ein selbstbestimmtes Leben?

Zeiteingrenzung ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Räumliche Eingrenzung ist Russland.

Ich habe Fragen formuliert, die mir eigentlich bei der Gliederung hätten helfen sollen. Aber ich habe den Eindruck, dass es ausufert. Nun habe ich den Blick verloren und denke alles ist wichtig (Hilfe!)

Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Wie waren die Lebensbedingungen von Frauen im Dorf?

Welche Stellung hatten sie in der Familie?

Wie waren die Lebensbedingungen in der Stadt?

Wie konnten Frauen in die Stadt? Passport, ständewechsel


Wie waren die Arbeitsbedingungen von Frauen Allgemein?

Wie waren die Arbeitsbedingungen als Prostituierte?

Arbeitszeiten, Gehalt, Arbeitsdauer.

Wie wurde die Prostitution rechtliche geregelt? Mit dem historischen Hintergrund.

Welche Frauen arbeiteten als Prostituierte?

Aus welchen Motiven heraus entschieden sich Frauen als Prostituierte zu arbeiten?



Die Forschungslage zur Prostitution in Russland ist sehr übersichtlich: Offizielle Statistiken aus dem 19. Jahrhundert, die mir im Rahmen von Sekundärliteratur vorliegt; Gesetzeslage; die meiste Forschung dazu fand in den 80er und 90er Jahren statt. Leider kann die damalige Prostitution nur aus der Perspektive der Außenstehenden betrachtet werden (keine Ego-Dokumente).

PS: Für meine Dozentin ist es besonders wichtig, dass ich formuliere, warum die Forschungsfrage wichtig ist bzw. relevant. Kann ich das auch bei einem Thema tun, das bereits fast komplett beleuchtet wurde?

Ich bin verzweifelt und hoffe auf Eure Ratschläge.
 
Wenn ich das richtig verstehe, konzentriert sich das auf Statistikquellen und Gesetzesquellen, beides in der Literatur untersucht.

Die Kernprobleme dürften doch dann darin liegen (Literatur mal vorerst beiseite geschoben):
Welche Merkmalsausprägungen beschreiben den "Weg"?
Welche Merkmalsausprägungen für Frauen 1850-1900 sollen "selbstbestimmtes Leben" beschreiben?

Das verlangt mE die Herausstellung von "Variablen" für Frauen in Russland 1850/1900.
Bildung (selbst/Kinder), Ehestand, Mobilität, Haushaltseinkommen, Altersunterschiede in der Ehe, Srandesunterschiede ...
Zusätzlich die Frage der Verfügbarkeit von Statistiken dazu.
Oder gesetzlichem Kontext.

Was ist zB mit zeitgenössischer Literatur und deren Darstellung (Dostojewski etc.)?
 
Vielen Dank für deine Antwort Silesia.

meinst du mit "Variablen" herausarbeiten die gesamte Gruppe der Frauen?

Zeitgenössische Literatur gibt ein romantisiertes Bild wieder, das je nach politischer Lage die Prostituierte als "Gefallene Frau" und Opfer der Umstände, die selbst erlöst oder erlöst werden soll, darstellt (19. Jahrhundert) oder als Täterin, die mit Lastern handelt (18. Jahrhundert).
 
Ein klein wenig Literatur der Zeit kenne ich. Daher erschien mir der Vergleich interessant.

Gemeint waren oben empirisch-statistisch greifbare Merkmale, die für die in der Themenstellung genannten Aspekte Anhaltspunkte darstellen könnten. Ich halte das für schwer greifbar (soziologisch, bin da aber nicht der Experte, sondern andere hier...).
 
Man kann ja durchaus das romantisierte Bild in der Literatur mit dem aus anderen Quellen vergleichen. Die Relevanz des Themas ergibt sich aus dem Heute.
 
Ich würde zunächst mit der Beschreibung des Lebens auf den Dörfern beginnen. Ein hervorragender Einstieg wäre das folgende Buch, aus ethnografischer Sicht. Eines der wenigen zu dem Thema aus der damaligen Zeit.

Semyonova Tian-Sanskaia, Olga (2008): Village life in late tsarist Russia. 8. [print.]. Hg. v. David L. Ransel. Bloomington, Ind.: Indiana Univ. Press (Indiana-Michigan series in Russian and East European studies).

Und angesichts der Darstellungen in dem Buch bin ich mir nicht so sicher wie intensiv Du Dich mit dem Thema auseinander gesetzt hast. Es war eine derbe Zeit und die Frauen waren: "not to mention the treatment of women, whose lot as a brutalized work horses and chief preservers of social bonds in the family and community...." (ebd. Pso 230) war.

Als weitere generelle Beschreibungen für die damalige Situation im zaristischen Russland würde ich Dir drei weitere Bücher empfehlen, die relativ leicht zugänglich sind.

Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin: Berlin-Verlag.
Geyer, Dietrich (Hg.) (1975): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln: Kiepenheuer & Witsch (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 71).
Pipes, Richard (1995): Russia under the old regime. 2. ed. London: Penguin Books.

Darüber hinaus liegen spezielle Publikationen vor zur "Sexualität" im zaristischen Russland, deren normativen Rahmenrichtlinien und der gesellschaftlichen Praxis.
 
thanepower danke für deine Antwort.

Probleme mit der Literatur habe ich keine. Die von dir genannten Werke kenne ich.
Eher fürchte ich das bereits sehr ausgiebige Buch "Sonias Daughters" von Bernstein zu paraphrasieren.
Sie hat mit ihrem Buch ein unglaubliches Buch über Prostitution im 19. Jahrhundert herausgebracht, die vorhandenen Quellen ausgiebig diskutiert.

Ich habe gestern Abend eine Gliederung erstellt. Was denkt ihr? Ist das zu allgemein?


1. Einleitung

2. Ständegesellschaft im genannten Zeitraum
2.1. Berufsspektrum
2.2. Operationalisierung selbstbestimmtes Leben innerhalb des genannten Zeitraums (Indikatoren: Gehalt; Bildung)

3. Prostitution
3.1. Stellung innerhalb der Ständegesellschaft
3.1 Finanzielle Aspekte

4. Selbstbestimmtes Leben als Prostituierte in einer Ständegesellschaft (Aspekte: Selbstbestimmung durch Stellung und durch Geld?)?

5. Schluss, Resumé
 
Geschichte wird immer aus der Gegenwart betrachtet, das lässt sich gar nicht vermeiden. Natürlich kann man Geschichte sinnfrei betrachten, das ist das, was hier im Forum relativ oft passiert. Und das ist nicht einmal so negativ gemeint, wie es klingt. Es ist halt eine Passion der Teilnehmer am Forum. Und die müssen sich für ihr zum Teil sinnfreies Interesse an Geschichte nicht rechtfertigen.
Als Historiker dagegen, wenn du Geschichte professionell betreibst, kann und darf das kein Selbstzweck mehr sein. Es geht darum, dass du als Geisteswissenschaftler einen gesellschaftlichen Mehrwert erbringst, denn am Ende ist es die Gesellschaft, die dich bezahlt. Entweder, weil du als Lehrer (Sekundarbereiche, Hochschulen etc.), WiMi im Museum, Archivar etc. von Steuergeldern bezahlt wirst oder aber, weil du als Autor oder Journalist deine Texte an den Mann bringen musst. (Die meisten Historiker verschlägt es freilich an die Regelschule oder sie haben im Berufsleben überhaupt nichts mehr mit Geschichte zu tun.)
Naiv gefragt: Was können wir aus der Geschichte für die Gegenwart lernen?
Wie ist es um die Rolle und das Bild der Frau in Russland heute bestellt? Gibt es da Entwicklungslinien zwischen deinem Untersuchungszeitraum und dem Heute?
 
Ich kenne mich mit der Geschichte der Prostitution im Allgemeinen und Russlands im Speziellen nicht aus. Aber Prostitutierte als selbstbestimmt lebende Frauen, das scheint mir doch eher eine euphemistische Sichtweise zu sein. Ist das nicht eher der Gang vom Regen in die Traufe?
 
Ich kenne mich mit der Geschichte der Prostitution im Allgemeinen und Russlands im Speziellen nicht aus. Aber Prostitutierte als selbstbestimmt lebende Frauen, das scheint mir doch eher eine euphemistische Sichtweise zu sein. Ist das nicht eher der Gang vom Regen in die Traufe?

Prostitution ist ein knallhartes Gewerbe. Die statistische Wahrscheinlichkeit, umgebracht zu werden, ist für eine Prostituierte mehr als achtmal so hoch wie für eine "normale" Frau.

Die Verdienstspannen sind zwar relativ hoch, eine Prostituierte hat aber auch hohe Auslagen, sehr hohe Mieten für den Arbeitsplatz, Prostitution kann nicht überall ausgeübt werden, Sperrgebiete, Kieze sind hart umkämpft. Eine unerfahrene Gelegenheitsprostituierte, die in einer fremden Stadt auf einem fremden Kiez "ackern" und "ein oder zwei Freier zu machen", riskiert, von der Konkurrenz auseinandergenommen zu werden.

Vor allem ist eine Prostituierte sehr verwundbar, sehr verletzlich. Gewalttätige Freier, gewalttätige Kolleginnen, gewalttätige Männer sind eine große Gefahr. Ich habe im Laufe der Jahre viele Prostituierte kennengelernt: Amateurinnen, Professionelle, Gelegenheits- und Beschaffungs-Prostituierte. Darunter war nicht eine Einzige, die nicht zum Teil sehr traumatische Erfahrungen mit Gewalt gemacht hat.

Es ist mit der Prostitution ein bisschen wie mit dem Drogenhandel. Man kann das Gewerbe nicht ausüben wo man lustig ist. Man muss sich an Regeln, an Preisabsprachen halten, man muss sich ein Revier erobern, man muss Rücksichten auf Konkurrenten nehmen, auf Subkulturen und Milieus. Bestimmte Milieus haben bestimmte Spielregeln. Das Wichtigste für eine Prostituierte ist Schutz. Ist ein Signal "diese Frau" steht unter Schutz. Den geschützten Raum aber muss eine Prostituierte in der Regel teuer bezahlen.

Das alles sind sozusagen zeitlose Phänomene.

Ich bin leider nur sehr schlecht über die Prostitution im zaristischen Russland unterrichtet. Ich wage aber mal die Prognose, dass die Lebensbedingungen für Huren in St. Petersburg oder Moskau eher noch ruppiger, als in Berlin, London, Wien, Paris oder Neapel waren.

Für ein Mädchen vom Lande, war die Prostitution sicher keine Perspektive, damit ein sorgenfreies autonomes Leben führen zu können.

Viel wahrscheinlicher war, dass eine junge Frau damit eher in Abhängigkeit und Rechtlosigkeit fiel. Dass ein unerfahrenes Mädchen in die Hände eines Zuhälters fiel, dass sie als gemeldete Prostituierte zum Bodensatz der Gesellschaft wurde und zum Objekt, das für niedrigen Lohn dann jeden rüberrutschen lassen muss.

In Deutschland war der übliche Tarif für 08/15 Verkehr, vielleicht etwas Französisch als Vorspiel waren 3 Mark. In Hamburg war es scheinbar etwas teurer. Der Heiermann, der Name für das 5 Markstück verdankt seinem Namen dem üblichen Gunstgewerbetarif in HH.

Wenn dann der Lude noch sein Teil haben will, Drogen ihr Geld kosten, muss eine Hure bald mal einen Freier machen.

Was allerdings häufig im 19., 20. Jhd vorkam, das war eine Art von Gelegenheitsprostitution als "süßes Mädchen". Eine junge Frau, die sich einen wohlhabenderen Hausfreund hält. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es viele Frauen, die auf jeden Preis versuchen wollten, keine gemeldete Prostituierte zu werden, wegen der amtlichen Benachteiligungen. Es ließen sich Frauen von einem Verehrer aushalten, wie es die junge Lara, die spätere Geliebte Dr. Schiwagos tut, die sich von Komarowski aushalten lässt. Im Roman von Pasternak hängt in dem Zimmer, in dem Kommarowski das erste Mal mit Lara schläft ein Gemälde eines polnischen Historienmalers

Das Mädchen oder die Vase

dabei geht es um den Kauf einer nackten Sklavin, die gegen eine Vase verhandelt wird. In


Eine solche Art der Prostitution, die Beziehung zu einem Mann, der sie aushält, mit dem aber aus bestimmten Gründen wegen sozialem Gefälle keine Ehe in Frage kommt. Der Versuch, als "süßes Mädchen" einen Verehrer zu finden, würde ich auf die zaristische Gesellschaft bezogen für viel wahrscheinlicher und realistischer halten.

In der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielten "süße Mädchen" eine große Rolle. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Dostojewski erwähnen "süße Mädchen", die versuchten, einen Verehrer zu finden, mit dem aus sozialen Gründen eine legitime Verbindung nicht in Frage kam.

Leopold von Sacher Masow schilderte in dem Roman "Venus im Pelz" seine Beziehung zu einer Domina namens Wanda. Eine späte Hommage an Sacher Masows Roman findet sich noch in dem Song "Venus in fur" von Velvet Underground"
 
Prostitution ist ein knallhartes Gewerbe. Die statistische Wahrscheinlichkeit, umgebracht zu werden, ist für eine Prostituierte mehr als achtmal so hoch wie für eine "normale" Frau.

Im Internet schwirrt da eine Zahl herum, zu der ich vergeblich solide Daten suche:
"Die durchschnittliche Lebenserwartung von Prostituierten liegt laut der internationalen Untersuchung bei 33 Jahren."
Prostitution: Scelles-Weltreport prangert Missbrauch an

Der erwähnte Report muss der hier sein, da finde ich aber weder die Zahl noch sonstige statistische Aussagen zur Lebenserwartung:
http://www.fondationscelles.org/pdf...ecutions_Repressions_Fondation Scelles_FR.pdf
 
Im Internet schwirrt da eine Zahl herum, zu der ich vergeblich solide Daten suche:
"Die durchschnittliche Lebenserwartung von Prostituierten liegt laut der internationalen Untersuchung bei 33 Jahren."
Prostitution: Scelles-Weltreport prangert Missbrauch an

Der erwähnte Report muss der hier sein, da finde ich aber weder die Zahl noch sonstige statistische Aussagen zur Lebenserwartung:
http://www.fondationscelles.org/pdf/RM4/Prostitutions_Exploitations_Persecutions_Repressions_Fondation Scelles_FR.pdf

Ich würde mal die Prognose wagen, dass sich solche Aussagen überhaupt nicht statistisch verifizieren lassen. Die am meisten gefährdete Gruppe im Umfeld der Beschaffungsprostitution ist in der Regel gar nicht gemeldet als Prostituierte, und Fälle von Gewalt werden häufig gar nicht angezeigt oder gelangen zur Kenntnis der Behörden.

Ich wage zu bezweifeln, dass sich die statistische Gefährlichkeit von Prostitution durch Zahlen belegen lässt, die wirklich empirischen Maßstäben gerecht werden kann. Genausogut hätte man auch sagen können, die Wahrscheinlichkeit ist Oberweite/Körpergröße-Lebensalter plus Pi mal Daumen.

Immerhin die Aussage, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, auf einem Straßenstrich umgebracht zu werden, für eine Prostituierte um ein Vielfaches höher liegt, als die statistische Wahrscheinlichkeit einer Chefsekretärin beim Joggen im Park auf einen Nachahmer Jack the Rippers zu treffen.

Morde, Sexualmorde sind relativ selten, meist ist der Täter dem Opfer bekannt und keineswegs der große Unbekannte.

Es sprechen aber doch gewisse Erfahrungswerte dafür, dass für eine Frau, die zu einem unbekannten Mann in ein Auto einsteigt, die Wahrscheinlichkeit, Erfahrungen von Gewalt zu erleben, um ein Vielfaches größer ist, als z. B. für eine Kindergärtnerin.
 
Leider gibt es bislang kein russisches Pendant zum englischen "Walter" https://www.zweitausendeins-verlag....ches-Tagebuch-aus-dem-Viktorianischen-England aber dergleichen dürfte in Petersburg und Moskau nicht arg anders als in Berlin, London, Paris gewesen sein.

ansonsten manche Figuren aus der russ. Literatur als indirekte literarische Quellen: Sonja Marmeladowa (Schuld und Sühne, Dostojewski) silberne Taube (Andrey Bely)

An Dostojewski und Sonja Marmeladowa, an Lara aus Pasternaks Doktor Schiwago habe ich auch bereits gedacht.
Trotzdem sind auch eher prüde und reaktionäre Autoren wie Alexander Nikolai Krasnow bisweilen Fundgruben für die Sexualmoral (und Doppelmoral) der zaristischen Gesellschaft.

Wenn die Herren eines Husarenregiments ihre Herrenabende verbringen, gehören unbedingt ein paar Damen der Halbwelt dazu. Das sind alles heute würde man sagen "Edelnutten", die keineswegs als Professionelle arbeiten, die aber einige Verehrer haben, die sie finanziell unterstützen. Diese Mädchen kann man dann auch schon mal in die Villa Rode oder zweifelhaftere Etablissements mitnehmen, wohin man die Offiziersgattinen nicht mitnehmen kann, und die Mädchen sind für Spiele zu haben, wofür man die Damen vorher heiraten muss und wozu die auch kaum bereit wären.

In dem Roman von Krasnow "Vom Zarenadler zur Roten Fahne" sammeln Gardeoffiziere erste sexuelle Erfahrungen mit Mädchen wie "Kitty", und der Kornett Sablin findet bald nichts mehr dabei, seiner Verehrerin 250 Rubel in den Ausschnitt zu stecken, die Kitty auch lächelnd annimmt und sagt, sie spare es für ihre Aussteuer.

Sablin hat allerdings noch nicht die Spielregeln kapiert und lässt sich mit seiner Flamme im Park von Peterhof und auf dem Newski-Prospekt blicken, was als Affront gilt.
 
Im Internet schwirrt da eine Zahl herum, zu der ich vergeblich solide Daten suche:
Ich vermute, es handelt sich um ein Missverständnis.
2004 wurde eine Studie in den USA publiziert, die sich über 33 Jahre erstreckte (1967-1999. In der steht:

Few of the women died of natural causes, as would be expected for persons whose average age at death was 34 years.

Könnte sein, dass man nur den Satz gelesen hat, denn weiter oben steht:

Of these 1,633 women, 100 died during the study period.

Es ist schwierig ein Durchschnittsalter beim Tod auszurechnen, wenn die meisten noch leben. Die 34 Jahre bezogen sich also nur auf die 100 Todesfälle.
Standardisierte Sterberaten konnte man jedoch ausrechnen und wenn ich es richtig verstehe, waren die erhöht, vor allem während der aktiven Zeit in der Prostitution (5,9).
Mortality in a Long-term Open Cohort of Prostitute Women
 
Gewalt gegen Prostituierte ist vor allem in der sozial oder rechtlich geächteten Sexarbeit in ärmeren Bevölkerungsschichten verbreitet. Man wird die Situation in den USA, wo Prostitution fast überall strafbar ist und vor allem durch unsichtbare, wirtschaftliche Not leidende Frauen ethnischer oder sozialer Minderheiten ausgeübt wird, nicht mit der Situation der durchschnittlichen Prostituierten aus Amsterdam oder Hamburg vergleichen können – und erst recht nicht mit der Situation der Prostituierten im zaristischen Petersburg vor hundertfünfzig Jahren.

"Interessante" Fragestellung der eingangs genannten Arbeit. Mir würde sich diese Frage allenfalls im Zusammenhang mit dem heutigen Westeuropa stellen, wo die gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für Prostituierte vermutlich noch am besten sind, aber nicht für das 19. Jahrhundert und ein von orthodoxen Moralvorstellungen geprägtes Russland.
 
Gewalt gegen Prostituierte ist vor allem in der sozial oder rechtlich geächteten Sexarbeit in ärmeren Bevölkerungsschichten verbreitet. Man wird die Situation in den USA, wo Prostitution fast überall strafbar ist und vor allem durch unsichtbare, wirtschaftliche Not leidende Frauen ethnischer oder sozialer Minderheiten ausgeübt wird, nicht mit der Situation der durchschnittlichen Prostituierten aus Amsterdam oder Hamburg vergleichen können – und erst recht nicht mit der Situation der Prostituierten im zaristischen Petersburg vor hundertfünfzig Jahren.

"Interessante" Fragestellung der eingangs genannten Arbeit. Mir würde sich diese Frage allenfalls im Zusammenhang mit dem heutigen Westeuropa stellen, wo die gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für Prostituierte vermutlich noch am besten sind, aber nicht für das 19. Jahrhundert und ein von orthodoxen Moralvorstellungen geprägtes Russland.

Warum eigentlich sind die Verhältnisse in Hamburg oder Amsterdam nicht vergleichbar mit den Milieus von St. Petersburg oder Moskau?

Wenn man die Prostitution in verschiedenen Metropolen der Belle Epoque miteinander vergleicht, so gibt es doch zahlreiche Parallelen: Ob in Paris, London, Hamburg oder Amsterdam, Prostitution bewegte sich in einer Grauzone. Prostitution wurde an Sperrbezirke gebunden, und man versuchte Prostitution zu kasernieren.

Ob die Prostitution nun nominell erlaubt oder geduldet oder nominell verboten war- die Strukturen, die in der Prostitution den Ton angaben, die kriminellen Strukturen die glichen sich doch zumindest so stark, dass sie sich vielleicht in Nuancen unterschieden, sicher aber nicht grundsätzlich.

Die Einschränkungen und Polizeibestimmungen, die für Prostituierte galten, waren recht rigoros und erschwerten eine Rückkehr ins bürgerliche Leben. Zahlreiche junge Frauen, die diese Diskriminierungen vermeiden wollten, schreckten davor zurück, sich als Prostituierte zu melden, und solche Frauen brauchten für ihr Gewerbe viel eher eine "Kupplerin", die Dates mit zahlungskräftigen Kunden vermittelte und Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. "Kupplerinnen werden in der französischen wie in der englischen, russischen oder deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts häufig erwähnt.

Bei der "Puffkultur" des 19. Jahrhunderts und der Erinnerung an die Puffmütter von Salinas gerät John Steinbeck noch eine Generation später ins Schwärmen, und das Bordell ein mehr oder weniger anerkannter Ort, wo junge Männer erste Erfahrungen sammeln und Probleme mit frigiden puritanischen Ehefrauen wegtherapiert werden, das Bordell und die Kirche sozusagen Einrichtungen, an denen sich Zivilisation des Mittleren Westens manifestiert.

Bei allen kulturellen, sozialen und materiellen Unterschieden würde ich schon dazu tendieren, zu sagen, das sich die Milieus der Prostitution Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts unterschieden, unterschieden in der staatlichen Reglementierung der Prostitution, in den Milieus und Subkulturen, die im Rotlichtmilieu den Ton angaben, unterschiedlich auch in der Stellung von Prostituierten und deren Handlungsspielraum.

Das alles mochte sich unterscheiden, aber die Spielregeln waren sich doch immerhin so ähnlich, dass ich zu folgendem Fazit kommen würde:

Sie unterschieden sich in Nuancen, aber nicht grundsätzlich.
 
Warum eigentlich sind die Verhältnisse in Hamburg oder Amsterdam nicht vergleichbar mit den Milieus von St. Petersburg oder Moskau?
aber dergleichen dürfte in Petersburg und Moskau nicht arg anders als in Berlin, London, Paris gewesen sein.
Das alles mochte sich unterscheiden, aber die Spielregeln waren sich doch immerhin so ähnlich, dass ich zu folgendem Fazit kommen würde:
Sie unterschieden sich in Nuancen, aber nicht grundsätzlich.
dito
 
@Scorpio

Die Grauzone ist heute wohl etwas weniger grau als vordem, jedenfalls in Westeuropa. Die liberale Gesellschaft sieht Prostitution nicht mehr als moralische Katastrophe an, "gefallene Frauen" kommen nicht mehr in den Knast, ins Reformhaus oder müssen auch nur aus ihrer Wohngegend fortziehen; man spricht sogar zunehmend von Sexarbeit anstelle von Prostitution (aufgrund der negativ konnotierten Etymologie des Wortes).

Wäre die Situation von Prostituierten heute nicht besser als in früheren Zeiten, würden sie wohl auch nicht gegen einen konservativen Gesetzesvorschlag im EU-Parlament protestieren, Prostitution zu verbieten. Dabei wird insbesondere durch die Betroffenen selbst das Argument der Verbotsbefürworter zurückgewiesen, die Legalisierung und arbeitsrechtliche Normalisierung der Prostitution in Staaten wie Deutschland und den Niederlanden hätten nicht zu erheblichen Verbesserungen in puncto Sicherheit, Gesundheit und Einkommen geführt.

Heutzutage kann sich eine junge Frau ihre Uni-Zeit als Callgirl finanzieren und alles auf Instagram dokumentieren. Wäre eine ähnliche Offenheit vor 150 Jahren in Russland (oder auch nur in Deutschland) denkbar gewesen?

Zugegeben, ich weiß recht wenig über die russische Neuzeit, aber ich kann mir schon aufgrund der fehlenden Trennung zwischen Staat und Kirche; dem nicht vorhandenen Bewusstsein für eine freie weiblichen Sexualität; sowie dem von Dostojewski, Gogol und Puschkin gezeichneten Bild ihrer Zeitgenossen nicht vorstellen, dass die Prostitution erstrebenswert im Sinne der Fragestellung eingangs gewesen wäre. Und bin ziemlich sicher, dass eine Prostituierte es heute in Westeuropa sehr viel leichter hat als im Russland der Zarenzeit.
 
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