Hitler war kein Nationalist

Rovere

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Provokanter Threadtitel, ich weiss. Aber viele der Thesen im neuen Werk von Timothy Snyder wirken auf den ersten Blick provokant.
"Black Earth" versucht eine Erklärung für den Holocaust zu liefern - und Snyder geht dabei einen völlig anderen Weg als z.B. Goldhagen.

Nachstehend zwei Interviews mit Snyder zu seinem neuen Werk - ein Buch dass ich mir umgehend kaufen werde!

"Der Anschluss zeigte Hitler, was möglich war" « DiePresse.com

Timothy Snyder's 'Black Earth' Offers a New Theory of Hitler's Anti-Semitism - The Atlantic
 
An sich finde ich die aufgestellten Thesen sehr interessant und auch in gewisser Weise logisch. In wie weit die Thesen aber zutreffend sind, müssten Leute mit mehr Wissen erstmal beurteilen. Jedoch ist mir eine Sache ins Auge gesprungen:
Wie kann man ernsthaft behaupten, dass Hitler ein Anarchist ist? Der Führerkult ist das genaue Gegenteil von Anarchismus.
 
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Ich halte die Argumentation eher für befremdlich. Hitler habe die staatlichen Strukturen in den Ostgebieten zerschlagen, weil er im Grunde genommen ein Anarchist gewesen sei und dadurch erst den Holocaust, der in D zuvor gescheitert sei, möglich gemacht, darauf läuft Snyders Argumentation hinaus.
Dabei ignoriert Snyder die tatsächlichen Verhältnisse in D sowie in den besetzten osteuropäischen Gebieten. Die Besatzung war rigoros, die Menschen waren Freiwild. Mit "Anarchie" hat das nicht das geringste zu tun. Nicht einmal mit dem Verlust sozialer Kontrolle seitens der Besatzer. Es war gerade soziale Kontrolle, die den Holocaust möglich machte.
 
Snyder: "f we think that Hitler was just a nationalist, but more so, or just an authoritarian, but more so, we’re missing the capacity for evil completely. If Hitler had just been a German nationalist who wanted to rule over Germans—if he was just an authoritarian who wanted to have a strong state—the Holocaust could not have happened. The Holocaust could happen because he was neither of those things. He wasn’t really a nationalist. He was a kind of racial anarchist who thought that the only good in the world was for races to compete, and so he thought that the Germans would probably win in a racial competition, but he wasn’t sure."

An diesen "Begrifflichkeiten" kann man deutlich sehen, dass Snyder sich eigentlich nicht um eine "saubere" Herleitung seiner Konstrukte bemüht.

Snyder folgt seinen "Intuitionen" und nutzt Begriffe so wie er mag. Was nun ein "racial anarchist" sein soll erfährt man dann, indem man die systematische Umsetzung der "Endlösung" ansieht.

Und dass er angeblich kein Nationalist gewesen sein soll, obwohl der NS-Nationalismus durch Ethnien definiert war, und dass er kein "Autoritärer" gewesen sein soll, obwohl das "Führerprinzip" ein zentrales Merkmal seiner Herrschaft war, wird für viel Unverständnis und Widerspruch sorgen.

Viel Feind, viel Ehr. Und noch mehr wird die Kasse klingeln und Hr. Snyder sich mit Wonne sein Konto ansehen.

Mit diesem Buch wird er vermutlich die seriöse Diskussion über das 3. Reich nicht wirklich bereichern, so mein Eindruck nach den Interviews.
 
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Mich erinnert diese Herleitung des "Rassen-Anarchismus" ganz stark an den sog. Nationalanarchismus der in den späten 90ern in rechten Kreisen durchaus verbreitet war (im Grunde war die Zwangsehe aus Anarchismus und Nationalismus nur wieder ein ideologischer Zug auf den man aufspringen konnte um sein menschenverachtendes Gedankengut zu verbreiten). Dabei wurden (werden?) knapp formuliert die anarchistischen Grundideen beschnitten, indem sie immer nur unter "ethnisch homogenen Völkern" gelten und "funktionieren" würden. Grundsätzlich würden die Überlegungen zu einem "Rassen-Anarchismus" also in die gleiche Richtung gehen. Eine Erklärung für den Holocaust liefern solche Überlegungen allerdings mE nicht.
 
Nun ja, ich fand die Thesen durchaus interessant, werde aber das Buch lesen. Die Interviews geben ja nur einen kleinen Einblick in das Buch. Bin schon gespannt auf das gesamte Werk.
 
Snyder versteht Anarchismus rein als Ablehnung staatlicher Institutionen. Das ist vielleicht mehr "Sons of Anarchy" oder Michigan Militia als Bakunin, aber letztlich ja wohl noch im Rahmen der Definition von Anarchismus: "Anarchism holds the state to be undesirable, unnecessary, or harmful".


Aber das ist nicht so wichtig. In dem Interview dreht es sich um Snyders Interpretation von "Mein Kampf" und dann nachgeordnet um die Erklärung historischer Vorgänge.

Snyder meint, Hitler habe nahezu alle zivilisatorischen Errungenschaften den Juden zugeschrieben: den Nationalstaat, aber auch Moral, Menschenrechte etc und was weiss ich. Hitler habe alle diese Errungenschaften abgelehnt, hielte sie für unnatürlich, wollte sie beseitigen und zwar durch die Ausrottung ihrer Schöpfer, der Juden .

Snyder sagt weiter, dass erst durch die Zerschlagung der nationalen Institutionen in Osteuropa der Rassenkrieg, der Holocaust möglich wurde.

Der Erklärungsansatz ist natürlich unnötig. Das die Vernichtungslager im rechtsfreien, anarchischen Osten angesiedelten wurden, hatte so viele praktische und politische Gründe, dass das Heranziehen anarchistischer Ideen aus "Mein Kampf" schlicht nicht notwendig ist. Das man Todesfabriken wie Auschwitz nicht in gut bayrischen Kleinstädten wie Dachau ansiedeln konnte ist eine Binse.

Ich denke, das Buch hilft eher bei der Interpretation von "Mein Kampf" als beim Verständnis der tatsächlichen historischen Prozesse.
 
Was mich an der ganzen Snyder-Argumentation, so spannend sie auch sein mag, wirklich stört, ist eher folgendes: Snyder sieht Hitler als ein teuflisches Mastermind, dass von der Niederschrift von mein Kampf bis zur Zerstörung des deutschen Volkes unbeirrt und maßgeblich einem großen Plan folgt. Das widerspricht nun aber wirklich allem, was die neuere historische Forschung über die Funktionsweise des Dritten Reiches erarbeitet hat. Die doch eher wohl chaotisch als anarchisch war. Da scheint Snyder der Faszination seines Forschungsobjekts erlegen zu sein.
 
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Snyder sieht Hitler als ein teuflisches Mastermind, dass von der Niederschrift von mein Kampf bis zur Zerstörung des deutschen Volkes unbeirrt und maßgeblich einem großen Plan folgt. Das widerspricht nun aber wirklich allem, was die neuere historische Forschung über die Funktionsweise des Dritten Reiches erarbeitet hat.

Dazu hätte ich dann doch ein paar Fragen, genau 2:

Was sagt denn die neuere Forschung, genau und wer sagt da eigentlich was?

und:

Wie unterscheidet sich diese neuere Forschung von den älteren Ansätzen? Und wer hat da eigentlich was postuliert zur Kontinuität der hitlerschen Programmatik?
 
Snyder versteht Anarchismus rein als Ablehnung staatlicher Institutionen. Das ist vielleicht mehr "Sons of Anarchy" oder Michigan Militia als Bakunin, aber letztlich ja wohl noch im Rahmen der Definition von Anarchismus: "Anarchism holds the state to be undesirable, unnecessary, or harmful".

Sollte Snyder sich in der Tat auf eine derart verkürzte Definition des Anarchismus stützen ('Verkürzung' ist da aber schon der Euphemismus der Jahrhunderts...), basiert seine Argumentation auf weniger als nix - nämlich auf nur auf Unfug und Halb Viertelverdautem. Bei einer derart kurzgeratenen Definition würde ich eher vermuten, daß Snyder zu den sogen 'Libertarians' zählen könnte, die sich ja ganz besonders vom 'unerwünschten Staat' in ihrer freien Entfaltung beeinträchtigt sehen.

Nach der von thanepower zitierten Passage hält Snyder sich aber in seiner Verortung von Hitler als Anarchist nicht nur beim Staat auf:

He was a kind of racial anarchist who thought that the only good in the world was for races to compete
Das ist nun in der Tat gequirlt. Ich würde da gerne wissen wollen, wie Snyder sich überhaupt gebogen hat, um einen Begriff wie "Rassenanarchist" zu erfinden; er scheint aber da eine gewisse Varietéreife zu erreichen. Der Anarchismus geht von der Gleichwertigkeit aller Menschen egal welcher Hautfarbe aus und tat dies im übrigen auch bereits zu Zeiten Hitlers. Auch Wettbewerb ist nun nicht gerade ein anarchistisches Stichwort - im Gegenteil.

In der Kürze dieser bisherigen Darstellungen hört sich das jedenfalls nach reichlich Unfug an, möglicherweise motiviert von der Überlegung, wie man am besten unterm Tisch gleichzeitig an mehrere Hosenbeine pieselt und gewaltigen Lärm auslösen kann. Das wird zwar den Verkaufszahlen aufhelfen, aber rein so vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen kommt da kein Viagra bei raus.

Jedenfalls wäre ich sehr daran interessiert, Rovere, daß du uns nach Lektüre des Buches Genaueres wiedergibst und ich hoffe jetzt mal, daß der To-do-Stapel an Büchern auf dem Nachttisch (weiter südlich = Nachtschrank, Nachtkasterl oder so) nicht an die Eiger-Nordwand heranreicht. :pfeif:
 
Snyder versteht Anarchismus rein als Ablehnung staatlicher Institutionen.
Und genau das ist grundfalsch (und ich meine jetzt nicht nur Snyders Anarchieverständnis, sondern v.a. seine Projektion auf Hitler.

Aber das ist nicht so wichtig. In dem Interview dreht es sich um Snyders Interpretation von "Mein Kampf" und dann nachgeordnet um die Erklärung historische Vorgänge.
Wobei er vieles unberücksichtigt lässt, was im Widerspruch zu seiner "Intuition" steht.

Snyder meint, Hitler habe nahezu alle zivilisatorischen Errungenschaften den Juden zugeschrieben: den Nationalstaat, aber auch Moral, Menschenrechte etc und was weiss ich. Hitler habe alle diese Errungenschaften abgelehnt, hielte sie für unnatürlich, wollte sie beseitigen und zwar durch die Ausrottung ihrer Schöpfer, der Juden.
Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Hitler hielt die Germanen explizit für Kulturschöpfer, die Juden für Kulturzerstörer. Insofern entfernt sich Snyder hier vom Text.

Snyder sagt weiter, dass erst durch die Zerschlagung der nationalen Institutionen in Osteuropa der Rassenkrieg, der Holocaust möglich wurde.
Eben: in Osteuropa (wobei auch das so nicht korrekt ist). In Dtld. blieben die staatlichen Strukturen erhalten.

Der Erklärungsansatz ist natürlich unnötig. Das die Vernichtungslager im rechtsfreien, anarchischen Osten angesiedelten wurden, hatte so viele praktische und politische Gründe, dass das Heranziehen anarchistischer Ideen aus "Mein Kampf" schlicht nicht notwendig ist.
weitgehend richtig.


Ich denke, das Buch hilft eher bei der Interpretation von "Mein Kampf" ...
Eigentlich handelt es sich um eine unzutreffende Interpretation.

Was mich an der ganzen Snyder-Argumentation, so spannend sie auch sein mag, wirklich stört, ist eher folgendes: Snyder sieht Hitler als ein teuflisches Mastermind, dass von der Niederschrift von mein Kampf bis zur Zerstörung des deutschen Volkes unbeirrt und maßgeblich einem großen Plan folgt. Das widerspricht nun aber wirklich allem, was die neuere historische Forschung über die Funktionsweise des Dritten Reiches erarbeitet hat. Die doch eher wohl chaotisch als anarchisch war. Da scheint Snyder der Faszination seines Forschungsobjekts erlegen zu sein.
Auch hier bin ich weitgehend mit dir d'accord. Allerdings würde ich die miteinander um des Führers Gunst konkurrierenden Abteilungen allenfalls bedingt als chaotisch akzeptieren.
 
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Und genau das ist grundfalsch (und ich meine jetzt nicht nur Snyders Anarchieverständnis, sondern v.a. seine Projektion auf Hitler.

Die Stellen, an denen Snyder den Begriff verwendet, sind nicht im Sinne eines philosophisch-politologischen Gesellschaftsmodells oder sozialer Ordnung zu verstehen. Zum Teil sind das auch indirekte Zitate des landläufigen Anarchie-Verständnisses der damaligen Zeit.

Es geht im auch nicht um Ablehung, sondern um die Abwesenheit staatlicher Ordnung, was andere als Polykratie beschreiben haben. Aber auch das trifft es nicht allein. Es ist auch nicht jede Abwesenheit staatlicher Ordnung beschreiben, oder sogar Abwesenheit von Institutionen oder Hierarchien und sozialer Ordnung.

Insgesamt ist das eher eine Marginalie in dem Werk, Synder kommt aus einer anderen Ecke.

Schon bei Bloodlands, dass man zum Verständnis mit heranziehen muss (man sollte beides lesen), zeigt sich die Erschütterung und das Unvermögen, den "Ort der Gewalt", ihren Zeitpunkt und das Ausmaß zu erfassen und durch Kausalketten zu erklären.

Synder "verortet" die Gewalt natürlich zunächst räumlich, und beschreibt sie anhand der Opferzahlen einer "Region", Polen/Ukraine/Weißrussland/Baltikum.

Ich sehe nicht, dass er dabei den Masterplan in einer Ereignis- und Kausalkette belegen will, denn das steht im Widerspruch zu seiner These des Massensterbens auch im Kontext einer "Interaktion" der beiden diktatorischen Systeme im Ostkrieg und davor. Alles bleibt pitoresk in seinen Beschreibungen, die sich eben nicht durch ein paar Begriffe und ein paar Kernsätze fassen lassen, sondern häufig seitenweise Beschreibungen von Zuständen (die etwa um anarchistische Züge, Anomie oder Polykratie kreisen) darstellen.

Kritikwürdig empfinde ich eher, dass umstrittene Aspekte mit in diese Gewaltverortung einbezieht, etwa der (umstrittene) politische Plan des Holodomor, oder der Great Purges. Ebenso kritikwürdig sind seine sortierten "Schubladen" angeblich rechts- oder linkslastiger Holocaust-Theorien. Usw.

Das Buch ist eher ein Dokument der Fassungslosigkeit eines Autors, der sich in diese Abgründe und Gewaltentgrenzungen "räumlich" eingearbeitet hat, mit dem gescheiterten Versuch einer Erklärung, aber tiefen und intensiven Beschreibungen (die vor allem in Bloodlands). Als systematischen Ansatz würde ich das nicht verstehen.
 
Es geht im auch nicht um Ablehung, sondern um die Abwesenheit staatlicher Ordnung, was andere als Polykratie beschreiben haben. Aber auch das trifft es nicht allein. Es ist auch nicht jede Abwesenheit staatlicher Ordnung beschreiben, oder sogar Abwesenheit von Institutionen oder Hierarchien und sozialer Ordnung.

Genau das stelle ich aber in Abrede: es ist die Zivilverwaltung, die gezielt, auch durch Ermordung ihrer Funktionäre, ausgehebelt und durch eine Militärverwaltung ersetzt wird.

Das Buch ist eher ein Dokument der Fassungslosigkeit eines Autors, der sich in diese Abgründe und Gewaltentgrenzungen "räumlich" eingearbeitet hat, mit dem gescheiterten Versuch einer Erklärung, aber tiefen und intensiven Beschreibungen (die vor allem in Bloodlands). Als systematischen Ansatz würde ich das nicht verstehen.
Das ist eine plausible Lesart, wobei Snyder selbst das sicherlich gerade doch als systematischen Ansatz verstanden wissen will.
 
Snyder sieht Hitler als ein teuflisches Mastermind, dass von der Niederschrift von mein Kampf bis zur Zerstörung des deutschen Volkes unbeirrt und maßgeblich einem großen Plan folgt. Das widerspricht nun aber wirklich allem, was die neuere historische Forschung über die Funktionsweise des Dritten Reiches erarbeitet hat.

Auch hier bin ich weitgehend mit dir d'accord. Allerdings würde ich die miteinander um des Führers Gunst konkurrierenden Abteilungen allenfalls bedingt als chaotisch akzeptieren.

Na dann sind sich ja schon zwei einig. Dann die wiederholte Frage, wer diesen Forschungsstand zum "Masterplan" von Hitler denn definiert.

Im Rahmen der Diskussion zum WW2, deren Vertreter grob dem "Intentionalismus" zugerechnet werden, wird genau diese Konstanz des Lebensraumsmotiv und dem "unbedingten Willen" zur Eroberung des Ostens formuliert. Und es wird eine gut dokumentierte rote Linie von den zwanziger Jahren bis 45 nachgezeichnet.

In diesem Sinne, der Stand der Forschung zur geplanten Auslösung des WW 2 durch Hitler ausgehend von "Mein Kampf" kann von Hofer bis Martel verfolgt werden.

So schreibt beispielsweise Overy (S. 95), "Hitler expressed them in "Mein Kampf" [seine Zielsetzungen] ...and more eleborated in his so-called "Second book".....Hitler...., but saw in Germany`s future the building of a solid racial core, the race-contest with international Jewry, and the build-up of sufficent military power to allow Germany to seize an economic empire in the spaces of the ill-defined "east"."

Diese Sicht steht eher stellvertretend für die aktuelle historische Erklärung des Ausbruchs des WW2 und der damit zusammenhängenden "Endlösung" und kann als "intentionale" Erklärung begriffen werden.

https://books.google.de/books?id=9lzATANqsQcC&printsec=frontcover&dq=martel,+gordon+the+origins+of+the+second+world+war&hl=de&sa=X&redir_esc=y

Ein anderer Aspekt ist die Frage nach der Organisation des Staates im 3. Reich. Die Frage der staatlichen Organisation steht in Anlehnung an Broszat und Frei m.E. in einem anderen Kontext. Und Gorlizki und H. Mommsen haben es erneut thematisiert und sehen im 3. Reich einen Staat, der langfristige Probleme in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit aufwies. (S. 42 ff)

https://books.google.de/books?id=IcB3oASHnkAC&pg=PR1&dq=beyond+totalitarianism&hl=de&sa=X&ved=0CCwQ6AEwAGoVChMI_K-krIG1yAIV5o5yCh0AjweM#v=onepage&q=beyond%20totalitarianism&f=false


Und jetzt bin ich sehr gespannt, wer einen Forschungsstand davon abweichend vertritt und behaupten könne, dass die Sicht konsensual sei.
 
Genau das stelle ich aber in Abrede: es ist die Zivilverwaltung, die gezielt, auch durch Ermordung ihrer Funktionäre, ausgehebelt und durch eine Militärverwaltung ersetzt wird.

Das habe ich vielleicht schief ausgedrückt: natürlich gab es funktionierende "Verwaltung", Hierarchien, Ordnungen. Wenn man den nächsten schiefen Vergleich aus dem militärischen Sprachgebrauch bemühen würde: "Auftragstaktik".

Wenn man sich die "Regionalfürsten" der HSSPF, Ostverwaltung, SS-Wirtschafts"konzern" anschaut, häufig Juristen, wurde in den polykratischen Strukturen eine moralisch-ehtische Entgrenzung als Begleitung des Massenmords deutlich. Snyder verbindet die Anwesenheit dieser Vielzahl von (zugleich atomisierten) Ordnungsstrukturen und Hierarchien mit einer Abwesenheit üblicher, staatlich garantierter ethisch-moralischer Normen, Prinzipien, mit der Anwesenheit staatlicher Ordnung verbundenen Vorstellungen von "Zivilisation", Traditionen, humanitären Vorstellungen von Staat und authorities (die "Ordnung" die Legalität verschaffen). Das macht die Beschreibung gerade so schwer. In dem Zusammenhang spricht er von "ethical deliberation", sozusagen einer Entfesselung, die andererseits in aufrecht erhaltenen Ordnungsstrukturen ablief.

Das meinte ich mit "pitoresk" in der Beschreibung. Man kann sich das am Beispiel der "verwaltungstechnisch geordneten" Wannseekonferenz, formal intakten Strukturen, die an einem Plan jenseits "zivilisierter" Vorstellungswelten arbeiten, klarmachen.
 
Na dann sind sich ja schon zwei einig. Dann die wiederholte Frage, wer diesen Forschungsstand zum "Masterplan" von Hitler denn definiert.

Es ist doch nicht unsere Meinung, dass Snyder hier Recht hätte, sondern dass er [Snyder] einen Masterplan sieht, der sich von Mein Kampf bis 1945 zieht. Ich sehe eher rote Fäden in Hitlers Weltsicht, den Holocaust dagegen als eine Genese, die erst im Laufe des Krieges stattfindet. Dass Hitler den Krieg wollte und dies bereits in MK schrieb, steht völlig außer Frage. Letztendlich ein alter Hut, da es weitgehend um die rassistische Pervertierung der darwin'schen Evolutionstheorie geht, den sog. "Sozialdarwinismus" und das Recht des Stärkeren. So kommt Snyder dann auch zum Schluss, H. sei kein Nationalist gewesen, weil er ja am Ende aus dem Scheitern seines Krieges den Schluss zog, dass die Deutschen es nicht verdient hätten zu überleben und den sog. Nerobefehl gab. Aber selbst dasist eine Verkürzung.

Ein anderer Aspekt ist die Frage nach der Organisation des Staates im 3. Reich. Die Frage der staatlichen Organisation steht in Anlehnung an Broszat und Frei m.E. in einem anderen Kontext. Und Gorlizki und H. Mommsen haben es erneut thematisiert und sehen im 3. Reich einen Staat, der langfristige Probleme in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit aufwies. (S. 42 ff)
Eine scheiternde Staatsorganisation in Bezug auf die Leistungsfähigkeit des Staates ist aber keine Folge "anarchistischen" Gedankenguts in der Führungsebene sondern häufig eher ein Produkt eines überbordenden Staatsapparats. Wenn der Staat mehr kostet, als die Wirtschaft ihm einbringt, hat der Staat ein Problem.
Das Dritte Reich war eine Kleptokratie (Arisierungen, Zwangsarbeit, Versklavung der Konzentrierten, Ausplünderung der Wirtschaft der besetzten Länder, besonders krass der sogenannte Hungerplan), welche einen Teil seiner Bürger und Institutionen beteiligte (Arisierung, Zuweisung von Zangsarbeitern, Verkauf von KZ-Insassen an Wirtschaftsbetriebe, Kauf von Fahrkarten für Deportierte)...
 
Genau das stelle ich aber in Abrede: es ist die Zivilverwaltung, die gezielt, auch durch Ermordung ihrer Funktionäre, ausgehebelt und durch eine Militärverwaltung ersetzt wird.

Nun ich sehe das etwas anders- Sowohl Zivil-als auch Militärverwaltung wurden letzlich instrumentalisiert und "ausgehebelt" zugunsten einer "Parteiververwaltung", die anfänglich neben der regulären Zivil- und Militärverwaltung existierte und diese langfristig wohl ersetzen sollte.
Diese Parteiverwaltung wies sowohl zivile (.B.Ortsgruppen-,Gauleiter) -als auch militärische (SA/SS´/HJ/RAD) Strukturen auf und unterschied sich von der regulären Verwaltung dadurch,dass sie auch de jure rein führerorientiert ausgerichtet und letztlich nicht an feste Verfahrensregeln und Gesetze gebunden war.
Betrachtet man im Detail die Vorgänge, die sich in der Endphase des dritten Reiches unmittelbar vor und während des Vordringens der Alliierten ins Reichsgebiet abspielten, so tritt diese Dualität deutlich zu Tage.

Wenn es also einen Masterplan gab,dann den der Errichtung eines führerorientierten Parteienstaates . Der Nationalismus , den es ja bereits seit der Mitte des 19.Jahrhunderts gab war hierbei m.E. nur ein Mittel zum Zweck innerhalb dieser Ideologie, aber nicht Selbstzweck.
 
Nun ich sehe das etwas anders- Sowohl Zivil-als auch Militärverwaltung wurden letzlich instrumentalisiert und "ausgehebelt" zugunsten einer "Parteiververwaltung", die anfänglich neben der regulären Zivil- und Militärverwaltung existierte und diese langfristig wohl ersetzen sollte.

Ich sprach von den besetzten Gebieten während des Krieges.
 
Nun ich sehe das etwas anders- Sowohl Zivil-als auch Militärverwaltung wurden letzlich instrumentalisiert und "ausgehebelt" zugunsten einer "Parteiververwaltung", die anfänglich neben der regulären Zivil- und Militärverwaltung existierte und diese langfristig wohl ersetzen sollte.

Ich würde es noch radikaler formulieren. Sie wurde systematisch ersetzt. Und die Nationalsozialisten holten deutlich konsequenter nach, was in der Weimarer Republik nicht getan wurde. Sie ersetzten das "monarchische Personal" in der Verwaltung und den Ministerien durch entsprechende Personen, die der NS-Bewegung nahe standen, wie Ingrao: Hitlers Elite, es beispielhaft beschreibt.

In diesem Umfeld fand die NS-Revolution statt und schuf das System der Polykratie und somit der rivalisierenden Herrschaftszentren, wie auch bei Mazover (Hitlers Imperium, S. 208ff) beschrieben mit der "organisierten Unordnung".

...dass sie auch de jure rein führerorientiert ausgerichtet und letztlich nicht an feste Verfahrensregeln und Gesetze gebunden war.

Dieser Aspekt ist entscheidend, auch für die Argumentation von Snyder (soweit sie mir durch die Interviews zugänglich ist, aber Rovere wird sicherlich eine kompetente Darstellung liefern). In dem Maße wie die traditionellen Verwaltungsverfahren aufgelöst werden, indem die staatliche Ordnung zerstört wird, können sie durch "Verfahrensregeln" ersetzt werden, die letztlich weder an juristische Normen noch an ethische oder moralische Kriterien gebunden sind.

Dieser Mechanismus funktionierte für die besetzten Gebiete - und darauf bezieht sich auch die Argumentation von Snyder stark - aber sie wirkte genauso auch für die Organisationen des 3. Reichs (vgl. Welzer: Täter)

Das Individuum wird bei seinen Entscheidungen der normalerweise vorhandenen "Rechtssicherheit" beraubt und so werden aus "normalen Männern" Akteure mit Verhaltensweisen, die ihre früheren Wertvorstellungen teilweise ad absurdum führen (vgl. Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht). Und sie müssen kontextorientiert neue Verhaltensnormen entwickeln, die teilweise die "Entgrenzung der Gewalt" im Russlandfeldzug deutlich widerspiegeln (vgl.dazu beispielsweise: Bartov: Hitlers Wehrmacht und Neitzel & Welzer: Soldaten)

Wenn es also einen Masterplan gab,dann den der Errichtung eines führerorientierten Parteienstaates .

Die Errichtung von autokratischen Regierungsformen ist in der Regel kein Selbstzweck und auch bei Hitler folgt es eher dem Zwang, erfolgreich die "Macht zu ergreifen", wie bei Herbst (Hitlers Charisma) beschrieben und folgt ähnlich wie Wehler (Intentionalisten, Strukturalisten und das Theoriedefizit der Zeitgeschichte, in: Land ohne Unterschichten) einer Interpretation von Hitler im Rahmen der Weberschen "Charismatischen Herrschaft".

Es gab in diesem Sinne kein "Masterplan" aus den zwanziger Jahren für die Ausformung der NS-Herrschaft, sondern diese ergab sich in enger Interaktion zwischen Hitler und der NS-Bewegung eher evolutionär.

Der Nationalismus, den es ja bereits seit der Mitte des 19.Jahrhunderts gab, war hierbei m.E. nur ein Mittel zum Zweck innerhalb dieser Ideologie, aber nicht Selbstzweck.

Der ursprüngliche Nationalismus der national-liberalen Bewegung des "Vormärz" bis ca. 1860 war aufklärerisch und emanzipativ ausgerichtet. Er wies zudem noch nicht in diesem Maße die ethnische Determinierung auf, die er zugespitzt durch Hitler ab 1920 erhalten sollte.

Somit war der "völkische Nationalismus" eines Hitlers durch eine klare Inklusion und Exklusion geprägt und somit Instrument zur Begründung der Vernichtung von bestimmten ethnisch definierten Gruppen, wie den Juden. Er war aber auch Ziel, da er als Fernziel die Herrschaft der "arischen Rasse" über die ganze Welt anstrebte. Dabei strebte er als "Zwischenziele" im Rahmen der "ethnischen Säuberungen" eine ethnische Homogenisierung von Landstrichen an. Und diese lagen nicht nur in Deutschland, sondern im Rahmen des "Generalplans" wurden sie auch auf die damalige UdSSR ausgeweitet.

In diesem Sinne war der "völkische Nationalismus" der Masterplan -ausformuliert im "Mein Kampf" und noch deutlicher im "geheimen" "Zweiten Buch" - mit eindeutigen hegemonialen Ansprüchen und der Inklusion- bzw. Exklusion von großen Teilen der europäischen Bevölkerung. Ein zentrales Merkmal, das die NS-Bewegung mit definiert hat und ihr auch eine gewisse "Alleinstellung" gegenüber anderen faschistischen Bewegungen gegeben hatte.
 
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Auf den ersten Blick bewegt sich Snyder hier entlang klassischer Konfliktlinien der NS-Forschung (Intentionalismus/Funktionalismus, Dualität zwischen NSDAP und Staat, Machtfülle Hitlers innerhalb seines Systems usw.).
In der Printausgabe des Spiegels war aber noch ein Interview mit ihm, dass seine Position und auch die Begriffe, die er macht, für mich klarer macht. Leider steht dies noch nicht online.
Daher kann ich nur paraphrasieren.
Adressat des Buches scheinen mir vor allem Politik und Gesellschaft in den USA zu sein, weniger die internationale Community der Historiker.
Was für mich eher eine innovative Position war, ist, dass Snyder massiv für die staatliche Ordnung und Rechtsstaatlichkeit eintritt. Er rechnet vor, dass während des Zweiten Weltkriegs die Überlebenschance für Juden in besetzten Ländern mit funktionierenden staatlichen Strukturen (anders als z.B. Polen oder Weißrußland) signifikant höher gewesen sei.
Dies verstehe ich indirekt als Kritik an den meisten, neoliberal oder libertär ausgerichteten Strömungen vor allem der Republikaner in den USA. Ich denke auch, dass das Schlagwort von Hitler als "Anarchistem" eher dann einen Anarchist aus amerikanischem Verständnis als aus europäischem bezeichnet.
Direkt greift er die amerikanische Außenpolitik der letzten Jahre an: die Zerschlagung der staatlichen Strukturen im Irak habe die Entstehung des IS begünstigt. (Gerade hierzu gäbe es einiges zu sagen, mir ist bewusst, dass dies tagespolitisch ist, aber ohne das Argument zu nennen, versteht man Snyders Position nicht, glaube ich).
Sekundär greift er das Geschichtsbild der deutschen Forschung zum Holocaust an. Diese habe sich (hier knüpft er stark an "Bloodlands" an) sehr stark auf Auschwitz konzentriert und gewissermaßen den Holocaust außerhalb der Vernichtungslager ausgeblendet. Zum vielbemühten Schlagwort der "maschinellen Vernichtung" sagt er, dass die Erschießungen in den besetzten Gebieten ähnliche Todesraten wie die Gaskammern hervorgerufen hätten. Die starke Konzentration der Forschung auf Auschwitz sei gewissermaßen Teil einer deutschen Rechtfertigungsstrategie; denn die deutsche Bevölkerung habe tatsächlich nichts über die Vorgänge innerhalb der Vernichtungslager gewusst, sehr wohl jedoch, was außerhalb davon passiert sei.

Man sieht, schon einiges an Stoff für heftige Diskussionen. Ob auch aus Forschungssicht neue Positionen auftauchen? Schwer zu sagen. Schon bei Bloodlands lag für mich der Vorzug eher im Zusammentragen verschiedener Forschungskomplexe, sozusagen einer globalen Schau auf die nationalsozialistische wie die sowjetische Unterdrückungspolitik in Osteuropa, zu liegen.
 
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