HRR ab 800?!

Sunbeam

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Ich habe ein totales Brett vor dem Kopf: Warum hat man nicht ab 800 n.Chr. mit der Kaiserkrönung von Karl dem Großen schon vom Heiligen Römischen Reich gesprochen?! Sry für die dumme Frage, aber ich kann mir das einfach nicht erklären :)
 
Byzanz sah sich selbst als Rechtsnachfolger Roms an. Bis 811 regierte jedoch am Bosporus Kaiserin Irene, was die Karolinger dazu veranlasste den "vakanten" Kaisertitel zu beanspruchen (Translatio Imperii), weil man eine Kaiserin nicht anerkannte. Dies führte zu einem auch kriegerischen Konflikt um den Kaisertitel, der 812 im Vertrag von Aachen offiziell beigelegt wurde: Karl nannte sich Imperator ohne "Romanorum" aber mit dem Zusatz "Romanum gubernans imperium", das römische Reich regierend.
Kaiser Michael, Irenes Nachfolger, nannte sich "Basileus Rhomaion", also Imperator Romanorum auf griechisch.

Otto I. nahm 962 den Titel Imperator Romanorum an, was ebenfalls zu Konflikten mit Ostrom führte.

Erst mit dem Niedergang von Byzanz ab den Kreuzzügen, spätestens mit dem Lateinischen Kaiserreich ab 1204, etablierte sich die Formel eines "Sacrum Romanum Imperium" im Westen.
 
Warum hat man nicht ab 800 n.Chr. mit der Kaiserkrönung von Karl dem Großen schon vom Heiligen Römischen Reich gesprochen?!
Warum hätte man das tun sollen? Die Bezeichnung als "heilig" stammt weder aus der Antike noch von den Oströmern her. Banal ausgedrückt: Jemand musste sie erst einmal erfinden.
 
Ich verstehe nur nicht so hundertprozentig warum man den Ursprung des Heiligen Römischen Reiches (deutscher Nation) im Nachhinein nicht schon bei Karl dem Großen festgelegt hat.
 
Byzanz sah sich selbst als Rechtsnachfolger Roms an.

Oh, hier muß ich direkt einhaken: am Bosporus sah man sich nicht als Rechtsnachfolger Roms, sondern als identisch mit dem Römischen Reich. Das Staatsgebiet war nicht mehr dasselbe, sondern letztendlich nur noch die östliche Reichshälfte (immer noch ein gewaltiges Gebiet). Aber auch das Römische Reich in der Antike hatte territorial im Laufe der Jahrhunderte große Veränderungen.

Die Bezeichnungen West- , Oströmisches Reich sowie Byzantinisches Reich sind Benennungen moderner Historiker. Damit sollen nur die unterschiedlichen Epochen bzw. Gebiete unterschieden werden. In der Antike und frühen Mittelalter gab es nur das eine Römische Reich (egal ob man die Bezeichnung auf Griechisch oder Lateinisch benutzt). Und im frühen Mittelalter gab es auch nur einen Kaiser. Auch in den Gebieten, die nicht zum sogenannten Oströmischen bzw. Byzantinischen Reich gehörten, sah man sich noch als Untertanen des einen Kaisers (in Konstantinopel) an. Gregor von Tours nannte ihn noch dominus noster (aus dem Gedächtnis - Quelle müßte ich noch heraussuchen).

Bis 811 regierte jedoch am Bosporus Kaiserin Irene, was die Karolinger dazu veranlasste den "vakanten" Kaisertitel zu beanspruchen (Translatio Imperii), weil man eine Kaiserin nicht anerkannte.

Aber hier werden zwei verschiedene Sachverhalte vermischt: Kaiserin Irene wurde als illegitime Usurpatorin angesehen und zwar des Gesamtreiches, zu dem sich auch die Franken noch zählten (wohl mehr ideell als faktisch). Erst später im 9. Jahrhundert sah man sich nicht mehr unter der ideellen Oberhoheit des Kaisers in Konstantinpel, so dass dann die Theorie der Translatio Imperii sich entwickelte, also das Frankenreich nicht als Teil des Römischen Reiches (mit dem Kaiser in Konstantinopel), sondern als eigenständiger Rechtsnachfolger des Römischen Reiches.

Hier noch einige weitere Threads zu dem Thema:

Zwei-Kaiser-Problem

https://geschichtsforum.de/thema/byzanz-roemisches-reich.36102/
https://geschichtsforum.de/thema/die-kaiserkroenung-karls-des-grossen-im-lichte-religioeser-endzeiterwartung.54143/
 
Oh, hier muß ich direkt einhaken: am Bosporus sah man sich nicht als Rechtsnachfolger Roms, sondern als identisch mit dem Römischen Reich. Das Staatsgebiet war nicht mehr dasselbe, sondern letztendlich nur noch die östliche Reichshälfte (immer noch ein gewaltiges Gebiet). Aber auch das Römische Reich in der Antike hatte territorial im Laufe der Jahrhunderte große Veränderungen.
Wobei es unter Justinian, namentlich durch den General Belisar, eine zeitweilig durchaus erfolgreiche restauratio imperii gab: der Balkan, Italien, Südspanien und die afrikanische Küste konnten wieder unter römische/byzantinische Kontrolle gebracht werden. Auf der anderen Seite war Byzanz 800 nicht mehr das Byzanz von 500, 800 gehörten die afrikanischen und syrischen Territorien bereits mehrere Generationen zum kalifalen Herrschaftsbereich.
 
Bis 811 regierte jedoch am Bosporus Kaiserin Irene, [...] Kaiser Michael, Irenes Nachfolger
Schwerlich, da sie bereits 803 starb. Ihre Herrschaft endete aber ohnehin schon 802, als sie von Nikephoros I. gestürzt wurde. Seine Herrschaft war es, die 811 endete, als er gegen die Bulgaren fiel. Auf ihn folgte eigentlich sein Sohn Staurakios, der jedoch, in derselben Schlacht schwer verwundet, nur noch dahinsiechte (und 812 starb). Das nutzte Michael I. zur Machtübernahme.

Die Bezeichnungen West- , Oströmisches Reich sowie Byzantinisches Reich sind Benennungen moderner Historiker.
Bei der Bezeichnung "Weströmisches Reich" könnte man diskutieren. Bereits Marcellinus Comes (6. Jhdt.) schrieb zum Jahr 476: "Hesperium Romanae gentis imperium, quod septingentesimo nono Urbis conditae anno primus Augustorum Octavianus Augustus tenere coepit, cum hoc Augustulo periit, anno decessorum regni imperatorum quingentesimo vigesimo secundo, Gothorum dehinc regibus Romam tenentibus." (Das Abendländische/Westliche Reich des römischen Volkes, das im 709. Jahr nach der Gründung der Stadt als erster der Kaiser Octavianus Augustus innezuhaben begann, verging mit diesem Augustulus im 522. Jahr einander weichender Kaiser des Reichs, wobei seitdem Könige der Goten Rom halten.)
 
Das Kaisertum Karls des Großen stellte eine Beendigung eines fest 350 jährigen Interregnums in der westlichen Reichshälfte dar. Mit Ausnahme der kurzlebigen restauratio imperii des Justinian (die auch nur Italien, Afrika und Südspanien betraf) war der Westen in jener Zeit frei von einer kaiserlichen Hoheitsgewalt. Die Kaiserkrönung Karls sollte dem Abhilfe bereiten. In der Staatstheorie entsprach das "fränkische" Kaisertum einer Fortsetzung des weströmischen Kaisertums, die bis 1806 währte.
Der Zusatz "sacrum" kam erst im hohen Mittelalter unter den Staufern auf. Doch es war und blieb immer nur das Römische Reich.
 
Wilson stellt die Gründung des HRR in den Kontext des anhaltenden Drucks auf den Papst in Rom und der nicht vorhandenen weltlichen Macht, den Papst und somit die christliche Kirche bzw. Glauben zu schützen. Im Gegensatz zur Kirche in Byzanz.

In diesem Sinne schreibt Wilson (S. 26): "The Holy Roman Empire owed its foundation to the pope`s decision to dignify this expansion by conferring an imperial title on Charlemagne."

Die Reichsgründung interpretiert Wilson als einen "Gemeinschaftsakt" von KdG und von Papst Leo III.

Aus der Sicht von Einhard wurde der Gedanke der Reichsgründung konkretisiert als KdG im November 800 Leo III. in Rom besuchte und eine Krönung zum Kaiser diskutiert wurde.

Dabei ging KdG wohl davon aus, dass er zum "Roman emporer" gekrönt werden sollte. (Wilson, S. 27)

Die realen Gründe, die Leo III. zu dem Schritt bewegten und warum KdG positiv drauf reagierte sind wohl nicht quellenseitig belegt.

Wilson, Peter H. (2017): The Holy Roman Empire. A thousand years of Europe's history. London: Penguin Books.
 
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