Wenn Thales lehrt, daß das Wasser das Prinzip der Dinge ist, so mag uns das, wenn wir diese Behauptung an der heutigen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung messen, freilich als eine, wie Clemens Bäumker sich ausdrückt, «mißglückte naturwissenschaftliche Hypothese» erscheinen.
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«Statt auf einen von der Phantasie ersonnenen — werden die Bildungen in der Natur auf einen den Sinnen gegebenen und erforschbaren Grund, einen Grundstoff zurückgeführt.» [Alois Riehl]
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Um die Leistung des Thales auf einen kurzen Ausdruck zu bringen, kann man sagen: Ihr Wert liegt in einer Forderung, nämlich der Forderung prinzipiell-einheitlicher Naturerklärung. Das Wasser soll ihm diese Forderung erfüllen. Es gilt ihm als der einheitliche Grundstoff aller Dinge. Sie gehen aus ihm hervor, und lösen sich in das Wasser wieder auf. Wie Thaies sich die Verwandlung des Wassers in die Dinge und der Dinge in das Wasser gedacht, darüber geben uns die Berichte keine Aufklärung. Die wechselnden Zustände scheinen vielmehr einer wohl als selbstverständlich angenommenen Aktivität und inneren Lebendigkeit des Grundstoffes zugeschrieben zu werden, der als solcher bleibt und nur eben in seinen Zuständen kraft seines eigenen Wesens wechselt, insofern er, wie beim Magneten, die Bewegung auf eine innere seelisch gedachte Kraft zurückführt.
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Entrückt wird aber die Substanz der Anschauung und Wahrnehmung, und zwar so, daß sie doch bestimmend für diese bleibt, bei Anaximauder, [...]. Hier kündigt sich das ungemein bedeutsame gedankliche Motiv an, die unendliche Fülle des der Wahrnehmung gegebenen Wechsels der Errscheinungen, aus einem im Wechsel sich nicht erschöpfenden und darum im unendlichen Wechsel selbst unendlich beharrenden Urgründe zu begreifen.
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Das logische Motiv nämlich, aus dem er seinen einigen Urgrund als unendlich setzt, ist gerade das, daß er den Wechsel und das Geschehen selbst zu tragen hat. Ist er die Ursache alles Geschehens, geht aus ihm alles hervor und kehrt zu ihm alles zurück, so muß er unendlich sein, damit er sich im Prozeß des Geschehens und damit das Geschehen
selbst nicht aufhebe und auflöse.
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Bei Anaximander erreicht das begriffliche Denken also insofern bereits eine sehr bedeutsame Höhe, als er in dem der Anschauung selbst entrückten Begriffe des Unendlichen die bleibende Grundlage des anschaulichen Seins zu gewinnen sucht. Wenn darum nun Anaximenes wieder in einem bestimmten Stoffe, nämlich in der Luft, die dpxV* der Dinge erblickt, so erscheint das zunächst als ein Rückfall in die Vorstellungsweise des Thales. Wieder scheint doch hier ein empirischer Einzelstoff, wie bei jenem, die Funktion des beharrlichen Substrates der Dinge übernehmen zu sollen. Allein, näher besehen, soll wohl die These des Anaximenes eher eine Synthese zwischen Thales und Anaximander sein. Und in letzter Linie ist das, was Anaximenes Luft nennt, doch etwas anderes als das, was man nicht bloß heute in wissenschaftlichem Sinne, sondern auch was man selbst auf den ersten Anfängen der philosophischen Besinnung im Altertum schon unter Luft verstand.- Denn nicht allein legt Anaximenes seiner Luft das von Anaximander übernommene Prädikat der Unendlichkeit bei. Vielmehr setzt er auch seine Luft in Parallele zur Seele: Wie die Seele Luft ist, und wie diese uns zusammenhält, so wird auch die Welt und das All von der Luft umfaßt.
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Was ihn aber veranlaßte, der Luft diese entschieden über-empirische Bedeutung beizulegen, das ist die für das Substanzproblem bemerkenswerte Überlegung, daß die Luft sich wegen ihrer leichten Veränderbarkeit und Wandelbarkeit besonders als Grundlage aller Dinge eigne und denken lasse, indem sie auch immer in Bewegung ist.
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