Kommunikations-Technik der Julikrise

hatl

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Nach dem ersten Weltkrieg wurden von den Auswärtigen Ämtern mehrerer Nationen eigene sehr umfangreiche Dokumentensammlungen zur Vorgeschichte der europäischen Katastrophe veröffentlicht.
Eine fundierte Quellenkritik zu diesen ist mir nicht bekannt, für einen Hinweis bin ich dankbar.

Was auffällt bei der Sichtung, ist die zuverlässige Langsamkeit der Übertragung.
Ein Beispiel:
23. Juli 1914: Der Ö-U Botschafter in Belgrad wird vom Außenminister Berchtold angewiesen das Ultimatum an Serbien nicht schon um 17 Uhr zu übergeben, sondern erst um 18:00.
Dies da der Französische Präsident Poincare um 23:00 den Russischen Kriegshafen Kronstadt verlassen werde und ihn die Nachricht nicht mehr während seiner Anwesenheit in Russland erreichen könne.

Das sind ja ganze fünf Stunden, die Berchtold als kürzeste Übermittlungszeit zwischen Belgrad und St. Petersburg ansetzt,
Wenn ich es recht erinnere kam die Nachricht des Ultimatums erst am nächsten morgen dort an.

Der „Draht“ ist ja beliebig schnell.
Also wie stell ich mir das vor?
Was haben die alles getrieben um eine Nachricht zu übermitteln?
 
Was haben die alles getrieben um eine Nachricht zu übermitteln?

Die Nachricht selbst wird recht zügig abgegangen sein. Wenn man aber in Rechnung stellt, dass das noch chiffriert und dechiffriert werden muste, wäre natürlich denkbar, dass das entsprechende Personal in Gesandtschaft und Ministerium um diese Zeit schlicht bereits dienstfrei hatte.

Gab es nach Russland hin bereits Telefonleitungen, so dass das möglicherweise zu umgehen gewesen wäre?
 
Chiffrieren, Dechiffrieren, Personal vorhalten, Überlastung durch zahllose andere eintreffende Kabel. Es ist ja schon der 23.7.14. Und es gab definitiv nicht beliebig viel Platz in den Fernleitungen, und zentrale oder wichtige Relais-Stationen. London z.B.
Eine fundierte Quellenkritik zu diesen ist mir nicht bekannt, für einen Hinweis bin ich dankbar.
Was verstehst Du unter 'fundierte Quellenkritik' beim rund 50 bändigen GP? Oder den dreireihigen DD, den knapp 20 Bänden der BD? Mit zehntausenden von abgedruckten Texten, Textauszügen usw.

2015 hatte ich mich etwas mit den großen Editionsreihen und ihrer Entstehung beschäftigt, wenige einschlägige Veröffentlichungen dazu gelesen usw. Das ist zu lange her, als das ich mich noch an irgendwelche Titel von Veröffentlichungen erinnern könnte. Man findet die bestimmt noch immer dadurch, dass man den Namen der Editionsreihe beispielsweise auf einer Site einer großen wissenschaftlichen Bibliothek eingibt und nach den 'Artikeln' dazu sucht.
Oder via Google mitsamt Zusatz 'Rezension' oder 'Review'. Einzelne Bände wurden öfter nach Erscheinen, naja, 'rezensiert' insoweit, dass Inhalt, Aufmachung, Umfang vorgestellt wurden.
Ansonsten gab es keine grundsätzliche Ablehnung im Sinne, Reihe XY sei insgesamt unwissenschaftlich. Die franz. DD weisen ggf. auf die GP hin, die BD auf GP, die GP ggf. auf die BD usw. usw. Eine gegenseitige Anerkennung war wohl insgesamt schon gegeben - wenngleich zumindest wohl zwischen manchen franz. und dt. 'Verteidigern' der jeweils eigenen Editionsreihe der jeweiligen 'Gegenedition' eine gewisse latente Einseitigkeit vorgehalten wurde...;)

In den diversen Weltkrieg-I-Titeln, die zum Hundertjährigen erschienen waren, sind m.E. nach auch hier und da kürzere Referierungen dieser Editionsreihen vorgekommen...
 
Ich weiß, das beispielsweise der telegraphische Verkehr zwischen Paris und „France“, das Schiff auf dem Poincare sich auf der Rückreise von Petersburg nach Paris befand, von deutscher Seite gezielt gestört wurde, eben um eine Kommunikation zwischen den französischen Präsidenten und Paris zu verzögern, nach dem in Belgrad das Ultimatum übergeben worden war.

Es ist auch eine Frage wohin telegraphiert wurde. Das weltumspannende Netz von Seekabelverbindungen wurde zunächst von britischen Gesellschaften betrieben. Diese großen Gesellschaften verfügten über einen so genannten Pool, der vor allem exklusive Kabellandungsrechte im Ausland erwarb und die gemeinsamen Tarife festsetzte. Obwohl das britische Kabelnetz privat betrieben wurde, hatte der englische Staat durch die Bedingungen der Konzessionsvergabe erheblichen Einfluss. Nach 1900 wurde der weitere Ausbau des Seekabelnetzes schließlich vom England selbst vorangetrieben. Das Deutsche Reich wie auch andere Staaten sah sich aus naheliegenden Gründen genötigt selbst eigene Kabel zu verlegen. Aber Seekabel waren im Kriegfall anfällig; es war klar, dass diese gekappt werden würden.

Deshalb war man in Berlin froh, als man in der Mitte der 1890ziger über die drahtlose Telegraphie verfügte, um sich aus der Abhängigkeit anderer Mächte im internationalen Nachrichtenverkehr befreien zu können. Wichtig hierbei waren eben energiestarke Relaisstationen mit hohen Sendetürmen. Es wurde aber eben nicht, wie es rational gewesen wäre, mit einem technischen System gearbeitet, sondern die Großmächte kochten ihre eigenen Süpchen.

Bei den Übermittlungen kann es immer Fehlerquellen gegeben haben. Beispielsweise ob die Stationen an elektrischen Störungen litten. Es konnte aber auch sein, das nachte bessere Signalstärken vorherrschten als tagsüber.
 
Deshalb war man in Berlin froh, als man in der Mitte der 1890ziger über die drahtlose Telegraphie verfügte, um sich aus der Abhängigkeit anderer Mächte im internationalen Nachrichtenverkehr befreien zu können.
@Turgot kannst du das bitte noch etwas genauer erklären? Welche Reichweiten erreichte man um 1900 mit drahtloser Telegraphie? Ich muss gestehen, davon höre ich zum ersten mal (als Festungsfreak sind mir die Kabelbunker und Telefonleitungen der Befestigungsgruppen ein Begriff, aber drahtlos um 1900?)
 
Aus der englischen Wikipedia:

Drahtlose Telegraphie oder Funktelegraphie ist die Übertragung von Telegraphensignalen durch Funkwellen. Vor etwa 1910 wurde der Begriff drahtlose Telegraphie auch für andere experimentelle Technologien zur drahtlosen Übertragung von Telegraphensignalen verwendet.

Der Italiener Marconi gilt als Erfinder der drahtlosen Telegraphie. Er meldete es im Juni1896 in England zum Patent an. 1909 erhielt er dafür zusammen mit den Deutschen Braun den Nobelpreis. Tatsächlich aber hatte Ferdinand Schneider vor Marconi die drahtlose Telegraphie erfunden. Er war schneller und stellte bereits 1895 seine Erfindung in Fulda vor. Ferdinand Schneider hatte das Pech nicht über genügen finanzielle Mittel zu verfügen, um seine bedeutende Erfindung kommerziell ausnutzen zu können.

1899 wurde zum ersten Male über den Ärmelkanal telegraphiert. 1901 über den Atlantik.
 
Mit Erstaunen habe ich über die Verkabelung der Welt um 1900 nachgelesen, saperlot! In Technikgeschichte habe ich einigen Nachholbedarf...
Zur drahtlosen Telegraphie Anfang 20.Jh.: "abhörsicher" war das vermutlich nicht, oder irre ich da?
 
Weißt du, ab wann sie militärisch genutzt wurde (was sichere Verschlüsselungsmechanismen voraussetzt)? Schon im Ersten Weltkrieg oder erst später?
 
Ob die Botschaften drahtlos vertrauliche Berichte usw. kommunizierten? Eher weniger, zumindest schienen mir dies diverse Anmerkungen in BD, GP etc. nahe zulegen. So zu Übertragungsverzörgerungen Ende Juli und Anfang August 1914, die die dt. Regierung in London reklamierte. Zudem dürfte der Drahtfunk erheblich vom atmosphärischen Zustand abhängig gewesen sein, Fading usw.
 
Im Ersten Weltkrieg kam dann die Funktelegrahie zum Einsatz, eine Weiterentwicklung der drahtlosen Telegraphie. Die Telegramme wurden verschlüsselt, was aber auch nicht immer sicher war. Nimm das berühmte Zimmermann Telegramm, welches verschlüsselt gewesen war, von den Engländern aber geknackt wurde, mit verheerenden Folgen für Deutschland.
 
Ergänzend zum Beitrag von @Turgot. Ich las gerade in den Erinnerungen Poincarés und wie er sich darüber aufregte, dass er auf der "France" aus Paris "nur Lärm" empfing.
Er erwähnt dort, dass man später Notizen im Dienstbuch des T.S.F. (Télégraphie sans fil - drahtlose Telegrafie) Sender Metz fand:
27. Juli 1914, 2 Uhr: Der Gouverneur ordnet an, die französische Radiotelegrafie in der Form zu stören, dass es keine Verletzung des Friedens bedeutet.
3 Uhr: Der Radiotelegrafie-Ingenieur gibt den Befehl, die französisch-russische Radiotelegrafie zu stören.
28. Juli, 4 Uhr: Der Eiffelturm bemerkte unsere Absicht seine Kommunikation zu stören und versucht uns sichtlich zu täuschen, in dem er mit großer Energie Meldungen an das Schiff "France" Richtung Dünkirchen sendet, welches aber nicht antwortet.
 
Im Ersten Weltkrieg kam dann die Funktelegrahie zum Einsatz, eine Weiterentwicklung der drahtlosen Telegraphie. Die Telegramme wurden verschlüsselt, was aber auch nicht immer sicher war.
Angesichts der erstaunlich fortgeschrittenen "Verkabelung der Welt" um und nach 1900 erhält die späte Jugendstilzeit eine weitere "moderne" Facette (vgl. die streng sachliche Militärarchitektur ab 1900, die rasante Entwicklung der Waffentechnologie) Zur mondänen Zauberberggesellschaft gesellt sich also Ferntelegraphie und Funktelegraphie, beides wird im Zauberberg entweder gar nicht oder nur marginal unmerklich am Rande erwähnt (stattdessen der Untergang der Titanic vom Jesuitenterrorist Naphtha höhnisch vermerkt)

Das unterschiedlich gestaffelte Defensionsnetz samt seiner Infrastruktur (Bahn, Industrie), hinter dem sich Aufmarsch-Planspiele verbargen: die Festungsketten an der Westgrenze, Nordseeküstenverteidigung, Ostseekriegshäfen, Festungskette an der Ostgrenze: alle die vielen "Positionen", Stellungen, Batterien, Gruppenbefestigungen, Kommunikationslinien - das alles war telefonisch vernetzt (sicherlich noch nicht so, dass man 1914 einfach so von Berlin aus den Festungskommandanten in Metz anrufen konnte - aber innerhalb eines Festungsbereichs waren die wesentlichen Abschnitte telefonisch und telegraphisch vernetzt) Ob in solchen umfangreichen Verteidigungszonen (sic, die Ausmaße waren extrem großflächig, teils auch sehr weit gestreckt (Nordseeinseln als Festungskette)) auch auf Funk gesetzt wurde, weiß ich nicht - das schaue ich gelegentlich nach.
 
naja...der Zauberberg liegt fern ab im Gebirge...die technische Moderne wird dort u.a. durch den Röntgenapparat, das Röntgen prägnant abgebildet.
 
Gab es nach Russland hin bereits Telefonleitungen, so dass das möglicherweise zu umgehen gewesen wäre?
Das hab ich mich auch gefragt, kenne leider die Antwort nicht.
Telefonie gab es ja schon, aber einfach war das wahrscheinlich nicht.
Interessant zum Thema Telefon finde ich die Anweisung die der Ö-U Botschafter Giesl am 24. Juli erhält. Er möge unmittelbar nach Ablauf des Ultiomatums am 25. Juli um 18:00 den 18:30-Zug von Belgrad nach Semlin nehmen, welcher dort um 18:40 eintrifft. (Semlin ist heute der Belgrader Stadtteil Zemun am anderen Ufer der Save. Es gehörte damals zu Ungarn.)
„In Semlin angekommen, wollen Euer '/. sich sofort durch das
amtliche Eisenbahntelephon am Semliner Bahnhofe mit der Budapester
Eisenbahndirektion telephonisch in Verbindung setzen
und auf dem-
selben Wege auch den ungarischen Ministerpräsidenten von Ihrer Ab-
reise aus Belgrad verständigen.
Wir werden dafür Sorge tragen, daß Ihr telephonisches Gespräch
mit Budapest sofort nach Ihrer Ankunft in Semlin stattfinden könne

und Graf Tisza ersuchen, uns Ihre telephonische Meldung sofort weiter
zu telephonieren, so daß wir, wenn alles klappt, schon am Samstag
ungefähr um 7 Uhr abends in Kenntnis von ihrer Abreise sein können.“

(Hervorhebungen durch mich)
https://archive.org/details/diplomatischeakt1914aust PDF-Seite 135

Einfach war das wohl auch innerhalb von Ö-U nicht.
Die Frage bleibt: Konnte man 1914 von Belgrad aus eine Telefonverbindung nach Russland herstellen? Oder von Paris, Berlin, London usw.?
 
Die Frage bleibt: Konnte man 1914 von Belgrad aus eine Telefonverbindung nach Russland herstellen? Oder von Paris, Berlin, London usw.?

Rein technisch war es jedenfalls möglich Telefonie über größere Distanzen abzuwickeln. Die erste Telefonverbindung Berlin-Paris scheint es seit dem Jahr 1900 gegeben zu haben:

"Von Berlin aus konnte man bald danach Ferngespräche mit Hannover (1886), Hamburg (1887), Dresden (1888), Breslau (1889), Frankfurt am Main (1894) und Königsberg (1895) führen. Am 6. August 1900 wurde die erste Telefonleitung zwischen Berlin und Paris freigeschaltet."

Geschichte des Telefonnetzes – Wikipedia

In einem anderen Artikel stand, dass das Fernnetz damals noch weitgeehend auf oberirdischen Leitungen basierte, was je nach Witterungsbedingungen zu Störungen führen konnte.
Das wäre allerdings für den Juli eher untypisch gewesen.

Ein Problem eine Nachricht von Belgrad aus nach St. Petersburg zu bekommen, musste natürlich auch in der Geographie liegen:

Sowohl im Westen, als auch im Norden und Nordosten lag ja Österreichisch-Ungarisches Gebiet und die Möglichkeit Übertragungen über dieses Territorium hinweg zu blockieren oder zu verzögen hatte Wien/Budapest.
Um das zu umgehen, hätte man von serbischer Seite wohl Verbindungen über Rumänien oder Griechenland nehmen müssen.


Weiß man eigentlich, welchen Weg die telegraphische Kommunikation zwischen Belgrad und Petersburg genommen hat?
 
Ein Problem eine Nachricht von Belgrad aus nach St. Petersburg zu bekommen, musste natürlich auch in der Geographie liegen:

Sowohl im Westen, als auch im Norden und Nordosten lag ja Österreichisch-Ungarisches Gebiet und die Möglichkeit Übertragungen über dieses Territorium hinweg zu blockieren oder zu verzögen hatte Wien/Budapest.
Um das zu umgehen, hätte man von serbischer Seite wohl Verbindungen über Rumänien oder Griechenland nehmen müssen.

vor allem hätte man auch in Ö-U mithören können...
 
Was haben die alles getrieben um eine Nachricht zu übermitteln?
Die New York Times startete 1911 einen Versuch um die Schnelligkeit eines Telegramms zu testen. Das Telegramm mit dem Text "This message sent around the world" ging über 16 Vermittlungsstellen via San Francisco, den Philippinen, Hong Kong, Saigon, Singapur, Bombay, Malta, Lissabon und den Azoren und kam 16.5 Minuten später wieder in New York an.

Im Gegensatz zur bis dahin schnellsten Meldung rund um die Welt von 9 Minuten und 30 Sekunden, bei der alle Vermittlungsstellen wussten um was es ging, war bei dieser Meldung vorher niemand informiert worden.
Es ging also auch schneller
N.Y.Times vom 21.8.1911: Around the world in 16 1/2 minutes
 
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