Konflikt und Gewalt durch komplexere neolithische Gesellschaften?

Dieses Thema im Forum "Frühzeit des Menschen" wurde erstellt von silesia, 12. Februar 2015.

  1. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Das ist richtig, allerdings habe ich zwei Einwände:
    1.) Verletzungen die auf den Knochen gehen, kann man auch dann feststellen, wenn diese nicht lethal waren. Man kann dann Theorien bilden, was die Verletzung verursacht hat.
    2.) Sollten Konflikte häufiger mit (tödlicher) Gewalt ausgetragen worden sein, muss sich das auch statistisch im Fundgut niederschlagen. Wenn wir keine Spuren von (tödlicher) Gewalt haben oder diese Jagdunfällen zuordnen müssen, dann können wir (tödliche) Gewalt als Regel tendentiell ausschließen. Dazu benötigt man natürlich eine ausreichende Datenbasis.
     
  2. Lukullus

    Lukullus Aktives Mitglied

    Ein Gedanke zur Zusammensetzung einer ausreichenden Datenbasis: sollte es zu gewaltsamen und tödlichen Begegnungen gekommen sein, halte ich es für denkbar, dass gerade die zu Tode gekommenen der Verliererseite auch mal nur notdürftig verscharrt wurden oder schlicht auf freiem Feld liegen blieben. Tierfraß und Verwitterung dürften dann die Wahrscheinlichkeit enorm mindern, dass ihre Knochen repräsentativ in der Datenbasis vertreten sind.
    Dieser Gedanke fußt auf der Überlegung, vorausgesetzt es gab gewaltsame Begegnungen, dass mensch feststellte, homo sapiens trägt, im Gegensatz zu Tieren die gejagt, verletzt oder getötet werden, die Eigenschaft des Nachtragendseins in sich. So könnte es für die eigene Sippe durchaus “nachhaltig“ gewesen sein, einen anderen Clan “gründlich“ abzumurksen, um sich vor Rache zu bewahren.
     
    Zuletzt bearbeitet: 10. April 2019
  3. Heine

    Heine Aktives Mitglied

    silesia gefällt das.
  4. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

  5. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

  6. DerOri

    DerOri Neues Mitglied

    Schon allein aus religiösen / spirituellen Gründen könnten sich Gewaltsituationen ergeben haben. Der HS kann zwar dynamische Großgruppen bilden, aber diese haben oft eine bedeutungsstiftenden Funktion* (wir sind "Christen", wir sind "Nation XY" etc.). Gerade bei religiösen Gruppen ist es oft so, dass die Anwesenheit einer weiteren religiösen Gruppe die "Wahrhaftigkeit" der eigenen Gruppen in Frage stellt. Dies kann erhebliches Gewaltpotential hervorrufen (z.B. Christen töten Christen, da unterschiedliche Konfession).

    *) Dies ist übrigens nach Greenberg "Der Wurm in unseren Herzen" wichtig für den HS: als einziges Lebewesen ist sich der HS bewusst, dass der Tod kommen muss. Daher ist der HS - in chronischer Todesangst - bestrebt, etwas "Bedeutungsvolles" aufzubauen oder darzustellen. "Bedeutungsvolles" ist nichts anderes als die Illusion, über den Tod hinaus zu leben (z.B. durch ein fette Eroberung, eine fette Pyramide, seine Kinder, ein Religion, die ein Leben nach dem Tod verspricht, ... etc.). Diese Bedeutung zu hinterfragen heißt nichts anders als das persönliche Leib und Leben selbst anzugreifen. Daher kommt das hohe Potential zu Hass und Gewalt in solchen Zusammenhängen.
     
  7. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Das ist eine interessante These, die ich allerdings nicht unbedingt für tragfähig halte. Was ficht es mich denn an, ob jemand anderes meine Religion hinterfragt? Wieso sollte ich das als Angriff auf meinen Leib und mein Leben verstehen?
    Zudem liefe das der - natürlich ebenso fragwürdigen - These entgegen, dass religiös motivierte Gewalt vor allem durch den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Religionen ausgelöst sei (wie man an den häufiger werdenden antimuslimischen Gewaltexzessen seit der Machtübernahme der hinduistsich-antionalistischen BJP in Indien sehen kann, ist Polytheismus kein Garant für eine größere Toleranz).
     
  8. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

  9. DerOri

    DerOri Neues Mitglied

    Zum ersten:
    Für das Gewaltpotential zwischen verschiedenen Gruppen (das müsse nicht Glaubensgru sein) gibt es ja Rezent und in der Geschichte genug Bespiele. Z.B. reicht es doch schon aus, dass zwei Gruppen unterschiedlicher Fußballfans aufeinandertreffen. Die Hinterfragung findet ja dadurch statt, dass die andere Gruppe einfach existiert.

    Zum zweiten:
    Wenn mir meine Bedeutung geraubt wird, nimmt mich das sehr mit. Nicht nur als Gruppe, sondern auch als Individuum, wie jeder kritisch an sich selbst feststellen kann: z.B. wenn die eigenen Arbeit z.B. durch den Vorgesetzten kritisiert wird.

    Im Allgemeinen will ich diese These auch nur als ein Puzzelstück zur Diskussion mit einwerfen. Die Quintessenz ist doch die: es müssen nicht unbedingt Territorium und Ressourcen knapp werden, ehe Konflikte entstehen.
     
  10. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Und doch sieht man nicht nur Hooligangs, die aufeinander einprügeln sondern auch Anhänger gegnerischer Clubs, die miteinander feiern.

    Das wird wohl so sein.
     
  11. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Neben der "Formel" [Gruppen-Größe, Komplexität, Hortung/Lager/Besitz -> Gewalt] in Verbindung mit der Entwicklung in der Jungsteinzeit (Landwirtschaft, Siedlungsgröße, Bevorratung) stellt sich die Frage, worin der biologische Vorteil von Gleichheit/Egalität in Jäger-/Sammler-Gruppen besteht (bestehen soll).

    Hier ein Beispiel für die Denkansätze der letzten Jahrzehnte: spieltheoretische Erklärung über den Vorteil für die Gruppe und in diesen Lebensverhältnissen.
    The Play Theory of Hunter-Gatherer Egalitarianism
    (~ deepL)
    Anthropologen, die in abgelegene Regionen der Welt gereist sind, um Jäger-Sammler-Gesellschaften zu beobachten - ob in Afrika, Asien, Südamerika oder anderswo - waren immer wieder von der (praktizierten) Gleichberechtigung in diesen Gesellschaften beeindruckt (z.B. Ingold, 1999). Die Menschen leben in kleinen selbstverwalteten Gruppen von etwa 20 bis 50 Personen. Sie sind nomadisierend und bewegen sich von Ort zu Ort, um dem verfügbaren Wild und der essbaren Vegetation zu folgen.

    Am bemerkenswertesten ist, dass es den Jägern und Sammlern im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die untersucht wurden, an Hierarchie in der sozialen Organisation zu mangeln scheint. Sie haben keinen Häuptling, keine Führer oder Anhänger. Sie teilen alles, so dass niemand mehr besitzt als jeder andere. Sie treffen alle Gruppenentscheidungen durch Diskussion, bis ein Konsens erzielt ist. Tatsächlich ist ein anderer Name, den Anthropologen regelmäßig verwenden, um sich auf Band Jäger-Sammler-Gesellschaften zu beziehen, egalitäre Gesellschaften. Als Teil ihres Egalitarismus haben sie ein außergewöhnliches Maß an Respekt vor der individuellen Autonomie. Sie sagen sich nicht gegenseitig, was zu tun ist, und bieten keine unaufgeforderte Beratung an.
    ...
    Nun kommen wir zum spieltheoretischen Ansatz, wie auf Jäger und Sammler anzuwenden. Meine Theorie ist, dass Jäger und Sammler gelernt haben, dass sie die Aggression reduzieren und die Zusammenarbeit und den Austausch fördern können, indem sie im Wesentlichen ihr ganzes soziales Leben ins Spiel bringen. (Ich habe den Beweis für den Ansatz in Bezug auf die sozialen Verhältnisse bei Jäger und Sammler in früheren Artikeln (Gray, 2009; 2014) vorgelegt.)


    Frage ist, wenn der biologische Vorteil spieltheoretisch (damit evolutionär) belegt werden soll, warum unsere nächsten Verwandten sich nicht ähnlich verhalten, sondern Rangordnungen in Kleingruppen aufbauen? Weil sie vielleicht die oben behaupteten (angeblichen) Vorteile nicht reflektieren können?
     
  12. thanepower

    thanepower Aktives Mitglied

    Mir ist nicht so ganz klar, warum es dabei um einen "biologischen" Aspekt handelt. Die Frage nach sozialen Hierarchien wird "ausgehandelt" und ist somit ein Verhaltensaspekt. Und verweist auf Machtbeziehungen bzw. auf die - unterstellte - Abwesenheit von Macht und Formen von Herrschaft.
     
  13. hatl

    hatl Premiummitglied

    Vorsichtig gesagt hab ich den Eindruck,
    mei, der Mann schreibt halt was.

    As part of their egalitarianism, they have an extraordinary degree of respect for individual autonomy. They don’t tell one another what to do or offer unsolicited advice. „
    Ist das so? Kommt es nicht vor, dass der eine dem anderen den Schädel einschlägt um sich der Frau des anderen mit Gewalt zu bemächtigen?

    „Elsewhere I have described how this egalitarian ethos underlies even their interactions with young children .“
    Ja sogar das! Da freut sich der Psychologe.

    „They make all group decisions through discussion until a consensus is reached."
    Was sind Gruppenentscheidungen? Sind Auseinandersetzungen innerhalb dieser Gruppe auch inbegriffen?

    But if that is so, then how do hunter-gatherers manage to live in their egalitarian way? Genes can’t account for that difference. Indeed, people just a generation or so away from being hunter-gatherers, who now live in agricultural societies, often quickly lose their egalitarian tendencies and fall into dominance patterns.“
    Das ist kein zulässiger Schluss.
    Es ist eine genetische Ausstattung denkbar die mehrere Organisationsformen zulässt.
    Es könnte sehr wohl auch sein, dass die sehr lang andauernde Organisationsform eine höhere genetische Beeinflussung aufwies, als die nachfolgende.
    Das ist sogar naheliegend.

    Wenn die ein paar hunderttausend Jahre, oder vielleicht auch länger, so gelebt haben mit dieser Form, dann wird das wohl mit einer biologische Evolution einhergegangen sein.
    Wenn sie dann, sozusagen im Zeitraffer, andere Formen der Organisation entwickelten, ist weit weniger davon auszugehen.
     
  14. drmarkuse

    drmarkuse Mitglied

    º
    Laut Harari hat das Morden schon viel früher begonnen. Er stellt die These in den Raum dass der Homo Sapiens eine aktive Rolle beim Verschwinden aller anderen Menschen spielte, vermutlich auch durch Anwendung von Gewalt. Zumindest zieht er den Schluss dass überall dort wo der Homo Sapiens auftaucht, andere Menschen auf geheimnisvolle Art verschwinden. Dazu gehören u.a. der Homo Neanderthalensis, Homo soloensis, Homo floresiensis, Homo erectus, Homo denisova, Homo rudolfensis, Homo ergaster.
    Dazu kommt die Ausrottung nahezu aller grösseren Säugetiere am Beispiel Australiens: Innerhalb weniger Jahrtausende nach dem Auftreten des Homo Sapiens in Australien sind 23 von 24 Tierarten die über 50 kg wogen ausgestorben und zahlreiche kleinere.

    Danach wäre die These vom respektvollen Jäger und Sammler der im Einklang mit sich und der Natur lebt wohl nicht haltbar.
     
  15. schwedenmann

    schwedenmann Aktives Mitglied

    Hallo

    Steile These, ohne relevante Beweise, wenn man andere Ursachen (geringer Population, die ein Überleben nicht sichert), Änderung der Beutetiere und natürlich nicht zu vergessen der Klimawandel, alles jetzt bezogen auf den Homo Neanderthalensis.


    auch hier, was ist mit anderen Ursachen, wurden die berücksichtigt, oder paßte die anderen Ursachen nciht ins "Beuteschema" des Autors ?

    mfg
    schwedenmann
     
  16. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Das war mein Verständnis des "warum".
    Mir ging es bei der hinzugefügten Bemerkung weniger um das "wie", die "Mechanik" und einen Verhaltensaspekt als solchem, sondern um die Frage, welchen Vorteil das für mesolithische Gruppen im Überleben bieten könnte.

    Wenn man den spieltheoretischen Ansatz, der vom Autor benutzt wird, akzeptiert, muss die Frage von Einsatz, Risiko und Chancen, Verlust und Gewinn klärbar sein.

    Also die Frage nach den "biologischen Vorteil" dieses Verhaltens.
    Dabei unterstelle ich natürlich, dass dieses Verhalten verschwinden würde, wenn sich der Vorteil verflüchtigt,
     
  17. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Vermutlich liegt da ein Missverständnis vor.
    Ich würde den Autor so verstehen, dass um Hierarchien, also "strukturierte" Gewalt geht.

    Es geht diesen Anthropologen und Psychologen nicht um friedliches Utopia, Paradies etc. ohne individuelle Gewalt, krankhafte Aggressionen, Affekte etc. sozusagen mit Diebstahl, "Mord und Totschlag"

    Man käme ja sicher auch nicht auf die These, die Abwesenheit von Strafgesetzen gegen Mord zu behaupten, nur weil es tatsächlich andauernd Morde gibt.

    Es geht also nicht - so verstehe ich seine Überlegungen - um Fälle wie oben #145.
     
  18. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter


    Schreibt Harari von "Morden"? Selbst wenn es solche prähistorischen Ausrottungen gab, ist die Verwendung des Begriffes Unsinn.

    Im Schlusssatz ist außerdem die These verdreht.
     
  19. drmarkuse

    drmarkuse Mitglied


    Er benutzt explizit den Begriff Genozid als mögliche Erklärung:


    " But if the Neanderthals, Denisovans and other human species didn’t merge with Sapiens, why did they vanish? One possibility is that Homo sapiens drove them to extinction. Imagine a Sapiens band reaching a Balkan valley where Neanderthals had lived for hundreds of thousands of years. The newcomers began to hunt the deer and gather the nuts and berries that were the Neanderthals’ traditional staples. Sapiens were more proficient hunters and gatherers – thanks to better technology and superior social skills – so they multiplied and spread. The less resourceful Neanderthals found it increasingly difficult to feed themselves. Their population dwindled and they slowly died out, except perhaps for one or two members who joined their Sapiens neighbours.
    (...)
    Another possibility is that competition for resources flared up into violence and genocide. Tolerance is not a Sapiens trademark. In modern times, a small difference in skin colour, dialect or religion has been enough to prompt one group of Sapiens to set about exterminating another group. Would ancient Sapiens have been more tolerant towards an entirely different human species? It may well be that when Sapiens encountered Neanderthals, the result was the first and most significant ethnic-cleansing campaign in history.(...)

    Whether Sapiens are to blame or not, no sooner had they arrived at a new location than the native population became extinct. The last remains of Homo soloensis are dated to about 50,000 years ago. Homo denisova disappeared shortly thereafter. Neanderthals made their exit roughly 30,000 years ago. The last dwarf-like humans vanished from Flores Island about 12,000 years ago. They left behind some bones, stone tools, a few genes in our DNA and a lot of unanswered questions. They also left behind us, Homo sapiens, the last human species."

    Und zum Ökozid:


    "Firstly, even though Australia’s climate changed some 45,000 years ago, it wasn’t a very remarkable upheaval. It’s hard to see how the new weather patterns alone could have caused such a massive extinction. It’s common today to explain anything and everything as the result of climate change, but the truth is that earth’s climate never rests. It is in constant flux. Every event in history occurred against the background of some climate change.
    (...)
    The giant diprotodon appeared in Australia more than 1.5 million years ago and successfully weathered at least ten previous ice ages. It also survived the first peak of the last ice age, around 70,000 years ago. Why, then, did it disappear 45,000 years ago? Of course, if diprotodons had been the only large animal to disappear at this time, it might have been just a fluke. But more than 90 per cent of Australia’s megafauna disappeared along with the diprotodon. The evidence is circumstantial, but it’s hard to imagine that Sapiens, just by coincidence, arrived in Australia at the precise point that all these animals were dropping dead of the chills.
    (...)
    For example, the megafauna of New Zealand – which had weathered the alleged ‘climate change’ of c.45,000 years ago without a scratch – suffered devastating blows immediately after the first humans set foot on the islands. The Maoris, New Zealand’s first Sapiens colonisers, reached the islands about 800 years ago. Within a couple of centuries, the majority of the local megafauna was extinct, along with 60 per cent of all bird species.
    (...)
    A similar fate befell the mammoth population of Wrangel Island in the Arctic Ocean (200 kilometres north of the Siberian coast). Mammoths had flourished for millions of years over most of the northern hemisphere, but as Homo sapiens spread – first over Eurasia and then over North America – the mammoths retreated. By 10,000 years ago there was not a single mammoth to be found in the world, except on a few remote Arctic islands, most conspicuously Wrangel. The mammoths of Wrangel continued to prosper for a few more millennia, then suddenly disappeared about 4,000 years ago, just when the first humans reached the island."




     
  20. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Aha, danke! Kein Mord, dafür nun Genozid.
    Solche Deformierungen hält man kaum für möglich.
     

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