Konservativismus und Fortschrittsdenken in den Streitkräften des "langen Jahrhunderts

dekumatland

Aktives Mitglied
(verkürzt gesagt) die Diskrepanz zwischen technischer Moderne und konservativer Tradition
Sehr richtig und analog auch mit der gesamten Entwicklung der Gesellschaft im Kaiserreich zu vergleichen.
was mir zu dieser Diskrepanz noch einfällt:
- Zeitmessung wurde ab der Mitte des 19. Jh. abgeglichen
überhaupt die Zeiteinteilungen, die Beschleunigungen: man hatte Fahrpläne (Eisenbahn (Dvoraks*) Hobby war, die Pünktlicheit von Zügen zu überprüfen)), Arbeitspläne (Schicht), der Siegeszug des Metronoms*); die Verbesserungen des Dampfkesselantriebs, Verbrennungsmotoren
- Kommunikationstechniken führen zur Nachrichtenbeschleunigung
Hör-/Sprechrohre, optische Signalketten, Atlantikkabel (Morsetechnik), Elektrifizierung
--- summarisch können wir für das 19.Jh.**) eine zuvor nie dagewesene Verbesserung und Beschleunigung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts feststellen; die industrielle Revolution betraf alle Lebensbereiche.

ein kurioses Beispiel:
Wagner "Walkürenritt schrieb:
Siegrune´s Stimme (durch ein Sprachrohr)
die Uraufführung war 1870 in München, ausgerechnet für die Bühnenrealisation des spektkulären Walkürenritts sah Wagner den Einsatz damals modernster Kommunikationstechnik vor: eine Stimme des Ensembleaiftritts sollte unsichtbar durch ein Sprachrohr kommen - die Sprachrohre kannte Wagner von: Schiffen (!)
-- das nur als kurioses Beispiel für die Auswirkungen der techn. Entwicklung

und nun stellt sich eine andere Frage: war nicht zu allen Zeiten das Militär ganz besonders an technischem Fortschritt interessiert? Polyorketik, Materialkunde, Waffenbau, Explosionstechnik usw. usw.: gerade seit der Entwicklung der Feuerwaffen und simultan der Abwehrtechniken war doch das Militär Ausgang und Anwender der Innovation. Mit anderen Worten: innerhalb des Militärs gehörte der Umgang mit und die Reaktion auf Innovation zum Alltag.

(seinerzeit) modernste Technik finden wir nicht nur zu Wasser, sondern auch zu Land (eine Besichtigung der Festung KWII im Elsass ist da verblüffend) -- so gefragt: gibt es sie wirklich, diese Diskrepanz zwischen moderner Technik und konservativer Tradition?

__________________
*) ja, der Komponist der "Moldau" / Taktmaß und Aufführungsdauer kontrollieren/festlegen
**) der Einfachheit halber soll hier "das 19. Jh." bis zur großen Zäsur des WWI gehen
 
[...]und nun stellt sich eine andere Frage: war nicht zu allen Zeiten das Militär ganz besonders an technischem Fortschritt interessiert? [...]

Kurz gesagt: Zum Ende des 19. Jahrhundert erfordert die Bedienung der hochmoderne Technik auch hochqualifiziertes Personal, doch war bisher nur dem höherem Stand eine höhere Ausbildung vorbehalten. Das änderte sich aber nach und nach in diesem Zeitraum, weil einfach die Nachfrage an hochqualifizierten Personal stieg.
Und hier entsteht der Graben zwischen der alten Traditionen der Gesellschaftsform und der neuen technischen Gesellschaft ... auf den Schiffen der Marine führt es zu extremen Spannungen zwischen Deckoffizieren und dem Offizierskorps ...

Deckoffizier ? Wikipedia
 
@dekumatland

O.T.

Du sprichst das "Geniekorps" an.

Die soziologisch Gliederung des Offizierskorps in den vier Armeen und der Hochseeflotte war sehr kompliziert. Köbis17, bitte korrigiere mich, Seeoffiziere hatten gegenüber technischen Offizieren (z.B. Ingenieuren) einen gesellschaftlichen Vorrang i.d.R. kam dieser informell daher, manchmal aber auch formell, von Militärbeamten, w.z.B. Zahlmeistern ganz zu schweigen.

Diese informellen soziologischen Unterschiede geben m.E. ein sehr deutliches Bild wider, von der Kluft/Widerspruch zwischen Moderne <=> Traditionalismus im Kaiserreich wider.

Als Leutnant im 1. Leib-Garde-Husaren-Regiment in Potsdam, hatte man eine andere gesellschaftliche Stellung, als ein Leutnant beim Train oder den Pionieren.

M.
 
...

und nun stellt sich eine andere Frage: war nicht zu allen Zeiten das Militär ganz besonders an technischem Fortschritt interessiert?

Bezogen auf alle Zeiten: Nein, Tradition ging vor Feuerkraft.

Innovationen wurden eher auf Initiative oder Anregung Einzelner (von Archimedes über da Vinci bis Fisher oder Guderian) denn des Systems an sich eingeführt. Gesellschaftlich ist der Begriff Militär ja auch eher mit Adjektiven von traditionell bis reaktionär denn fortschrittlich oder progressiv behaftet.

Über Anschaffungen, also Gelder, haben alte Männer auf Basis ihrer persönlichen Erfahrungen entschieden. Naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse waren eher dünn gesät.

Beispiele: die preußische Pickelhaube, die Einführung von Maschinengewehren oder die Royal Navy vor Fischer.
 
Bezogen auf alle Zeiten: Nein, Tradition ging vor Feuerkraft.

Innovationen wurden eher auf Initiative oder Anregung Einzelner (von Archimedes über da Vinci bis Fisher oder Guderian) denn des Systems an sich eingeführt. Gesellschaftlich ist der Begriff Militär ja auch eher mit Adjektiven von traditionell bis reaktionär denn fortschrittlich oder progressiv behaftet.

Über Anschaffungen, also Gelder, haben alte Männer auf Basis ihrer persönlichen Erfahrungen entschieden. Naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse waren eher dünn gesät.

Beispiele: die preußische Pickelhaube, die Einführung von Maschinengewehren oder die Royal Navy vor Fischer.

Das sehe ich auch so.

Was bei der Marine der von Köbis erwähnte Konflikt zwischen nautischen und technischen (Deck-) Offizieren war, spielte sich beim Heer zwischen den traditionellen Waffen Kavallerie und Infanterie und den "moderneren" Artillerie*-, Genie- und Traintruppen so wie den später entstandenen Telegraphen und Eisenbahnerkorps.

Die traditionelle Exklusivität der Adligen Offiziere, die man auch nach den napoleonischen Kriegen wederherzustellen versuchte, wurde durch diese Waffen aufgebrochen, da man dafür technisch und naturwissenschaftlich gebildete Offiziere brauchte. Man sah sich gezwungen diese zu akzeptieren, die höheren Posten waren aber noch lange Zeit für Offiziere aus Infanterie oder Kavallerie reserviert, gelegentlich Artillerie.

*Die Artillerie gab es zwar schon länger und hatte auch vorher schon vorher höhere Bildungsanforderungen (und öfters ein Schlupfloch ins Militär für Bürgerliche), mit dem rasanten technischen Fortschritt im 19. Jahrhundert stiegen aber sowohl die Anforderungen wie die Anzahl an erforderlichen Offizieren und ausgebildeten Unteroffizieren.

Anekdotisch ist der Fall von einem preussischen General der testamentarisch verfügte, dass bei seinem Begräbnis nur glattläufige Kanonen abgefeuert werden dürften, weil ihm der scharfe hohe Knall der gezogenen Geschütze mißfiel: Der Klang des Fortschritts.
 
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Bezogen auf alle Zeiten: Nein, Tradition ging vor Feuerkraft.
das glaube ich nicht so ganz - mir scheint eher, dass man aus ganz banal irdischen Gründen stets daran interessiert war, über die möglichst effizientesten Waffen zu verfügen (schließlich tauchte im 19. Jh. kein Offizier in einer Ritterrüstung auf...;)...) --- wenn allerdings die effizienten Waffen kompliziert werden, kann das traditionelle Haltungen aufbrechen (wie Köbis gesagt hat)
 
[...] wenn allerdings die effizienten Waffen kompliziert werden, kann das traditionelle Haltungen aufbrechen (wie Köbis gesagt hat)

Da habe ich wohl missverständlich ausgedrückt. Bdaian hat das ganz gut formuliert.
Die steife Tradition mit veraltenden hierarchischen Stufen stand im vollen Gegensatz zu der technischen Qualifizierung von Personal ohne entsprechenden Stand. Da wurde nix traditionelles Aufgebrochen.

Damit waren z.B. die Deckoffiziere nicht nur technisch sondern auch geistig teilweise dem Seeoffizieren überlegen, die nur durch ihr Abstammung die Position erreichten.
Das konnte auf den Kriegsschiffen nur früher oder später zu einer offenen Konfrontation führen. Der Krieg und der schonenden Einsatz der Flotte beschleunigte diesen Umstand, hinzukam hier noch die politische Rolle der USPD und der Gewerkschaften, die über die Werftarbeiter an die Matrosen und Deckoffiziere kamen.
 
Da habe ich wohl missverständlich ausgedrückt. Bdaian hat das ganz gut formuliert.
Die steife Tradition mit veraltenden hierarchischen Stufen stand im vollen Gegensatz zu der technischen Qualifizierung von Personal ohne entsprechenden Stand. Da wurde nix traditionelles Aufgebrochen.
einerseits das aufkommen der Massenheere (irgendwann gab es einfach nicht mehr genügend adelige Offiziere) und andererseits das aufkommen der nötigen Spezialisierungen haben den Militärapparat gezwungen, sich anzupassen -- aber war "der Adel", der "Offiziersadel" denn überall und jederzeit zugleich dünkelhaft und inkompetent? ((im Festungsbau (gesplittete Festung) waren es adelige Ingenieuroffiziere, die Innovationen entwickelten - also die zumindest hatten sich die entsprechende Qualifikation trotz ihrer Herkunft geholt)
 
das glaube ich nicht so ganz - mir scheint eher, dass man aus ganz banal irdischen Gründen stets daran interessiert war, über die möglichst effizientesten Waffen zu verfügen (schließlich tauchte im 19. Jh. kein Offizier in einer Ritterrüstung auf...;)...) --- wenn allerdings die effizienten Waffen kompliziert werden, kann das traditionelle Haltungen aufbrechen (wie Köbis gesagt hat)

Da wär ich mir nicht so sicher, gehörten Lanze und Harnisch nicht zur Ausrüstung der Ulanen, die sogar noch im 20. Jh. damit gegen Maschinengewehre anritten: Gefecht bei Lagarde ? Wikipedia?
 
einerseits das aufkommen der Massenheere (irgendwann gab es einfach nicht mehr genügend adelige Offiziere) und andererseits das aufkommen der nötigen Spezialisierungen haben den Militärapparat gezwungen, sich anzupassen -- aber war "der Adel", der "Offiziersadel" denn überall und jederzeit zugleich dünkelhaft und inkompetent? ((im Festungsbau (gesplittete Festung) waren es adelige Ingenieuroffiziere, die Innovationen entwickelten - also die zumindest hatten sich die entsprechende Qualifikation trotz ihrer Herkunft geholt)

Der Adel war prolifisch und hatte viele Kinder. Bis in den ersten Weltkrieg hinein dominierten in den nicht technischen Waffen die Adligen, sowohl im DR, in GB wie in Russland (Frankreich war in dieser Hinsicht deutlich demokratischer). Erst die hohen Verluste im Kriege, zwangen zur massiven Beförderung von Bürgerlichen. In Großbritannien führte dieses nachträglich sogar zu einem Wandel in den Sozialstrukturen da die frühere Führungsschicht sehr stark ausgelichtet wurde.

Ausnahmen zum Konservativismus (und Unfähigkeit) gab es zweifellos, aber sie waren selten.

Schau doch nur, wie wenig waffentechnische Innovationen es zwischen 1700 und 1850 gab. Mit Beginn der Industriellen Revolution überschlugen sich dann zwar die technischen Neuerungen, es dauerte aber lange bis sie beim Militär eingeführt wurden.

Das Zündnadelgewehr (http://de.wikipedia.org/wiki/Z%C3%BCndnadelgewehr) wurde bereits 1827 entwickelt, von Preussen bereits 1848 als erster militärischer Hinterlader eigeführt (Zivile gab es bereits um 1650!). Es dauerte aber bis 1866, bis die Militärs anderer Länder dessen eindeutige Vorteile erkannten und nachzogen.

Der Repetierer wurde erstmals auch zurückgewiesen weil man die Feuerkraft des einschüssigen Hinterladers als Ausreichend betrachtete und einen zu hohen Munitionsverbrauch befürchtete. Als Folge wurden erst einzelschüssige Gewehre eingeführt (z.B. Mauser Gewehr 71 (http://de.wikipedia.org/wiki/Mauser_Modell_71), Martini Peabody u.A.) während es seit 1848 die ersten funktionierende Repetierer auf dem zivilen Markt gab (z.B. Volcanic Rifle co. der Vorläufer des Winchester) und man diese um 1860 als ausgereift betrachten könnte.

Die Schlacht von Plevna, (Siege of Plevna - Wikipedia, the free encyclopedia) bei der die zahlenmäßig unterlegenen Türken ein Blutbad unter den angreiffenden Russen und Bulgaren mit zivilen Winchestern verursachten, jagte den Militärs erneut einen Schreck ein, so dass die erst kurz vorher eingeführten Waffen umgebaut ( Gewehr 71/84 mit einem Röhrenmagazin unter dem Lauf) oder gar neue eingeführt wurden.

Funktionierende MGs gab es bereits um 1865, die breite Einführung erfolgte jedoch erst um 1880 (zum Teil jedoch wegen der schlechten Ergebnisse der französischen Mitralleusen, die aus mangelnder Phantasie von den Franzosen wie Feldartillerie eingesetzt wurden).

Bei der Artillerie war es ähnlich, obwohl dessen Offizierskorp grundsätzlich offener für Neuerungen war. Krupp hat jedoch erst einmal seine Produkte ins Ausland verkaufen müssen bevor man in Deutschland dessen Vorteile erkannte.

Ähnliche Beispiele kann man für die Streitkräfte aller großen Armeen finden:

Withworth hat auch zuerst seine modernen Produkte nach Übersee verkauft (USA CSA oder sogar Paraguay führten diese Geschütze vor GB ein). Die Briten haben auf Grund einiger frühen Produktionsfehler von der Hinterladerartillerie wieder zu den Vorderladern gewechselt; Die Russen mussten in Eile gezogene Gewehre einführen (Krimkrieg); Die Franzosen sahen auf den Hinterlader herab bevor sie ihn 1866 überstürzt einführten und übersahen dabei die Neuerungen bei der Artillerie, die in Deutschland und GB stattgefunden hatte.

Die Neuerungen wurden oft von kleineren Heeren eingeführt in der Hoffnung, dadurch ihre numerische Unterlegenheit auszugleichen. Sehr innovativ waren z.B. auch die US-Amerikaner die zu Friedenszeiten ein sehr kleines Heer hatten und dessen Offizierskorps enorm aufgestockt wurde, durch Menschen mit wenig Traditionsbewustsein.

In Europa hat die Neuerungswut erst ab 1890 eingesetzt und beschleunigte sich danach, beflügelt durch Ereignisse wie der Burenkrieg oder der Russisch-Japanische Krieg.
 
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Könnte man diese Unterdikussion über Konservativismus gegen Fortschritt in den Streitkräften im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht auslagern? Hat wenig mit "im Hafen zu Rosten" zu tun.
 
Schau doch nur, wie wenig waffentechnische Innovationen es zwischen 1700 und 1850 gab. Mit Beginn der Industriellen Revolution überschlugen sich dann zwar die technischen Neuerungen, es dauerte aber lange bis sie beim Militär eingeführt wurden. (...) In Europa hat die Neuerungswut erst ab 1890 eingesetzt und beschleunigte sich danach, beflügelt durch Ereignisse wie der Burenkrieg oder der Russisch-Japanische Krieg.
diesen Eindruck vermittelt mir die Geschichte des Festungsbaus als Reaktion auf waffentechnische Neuerungen nicht (vor 1850 die klassizist. Großfestung a la Koblenz; vor 1890 die Brisanzkrise usw.) aber mag sein, dass das ein Sonderfall war (?)
ein eigener Faden zum Thema (ständischer) Konservativismus versus Inoovation im europ. Militär könnte interessant sein!
 
diesen Eindruck vermittelt mir die Geschichte des Festungsbaus als Reaktion auf waffentechnische Neuerungen nicht (vor 1850 die klassizist. Großfestung a la Koblenz;...

Bei diesem Beispiel wäre es interessant zu forschen, wie es zu dieser Entwicklung kam, denn eine Reaktion auf eine Waffentechnische Entwicklung war es in diesen Falle nicht: Die gezogene Artillerie setzte sich erst ab 1850 durch, auch wenn es bereits seit 1750 Experimente in diese Richtung gab. In diesem Falle könnte es sich tatsächlich um einen eigenständigen Fortschritt handeln der aus theoretischen Überlegungen bzw. aus früheren Kriegserfahrungen aus der napoleonischen Zeit stammt.

Dass die gezogene Artillerie sich schliesslich durchsetzte, erfolgte dagegen als eine Reaktion auf die gezogenen Infanteriewaffen, die auf einmal eine solche Reichweite und Präzision hatten, dass die Verwendung der Feldartillerie dadurch massiv eigeschränkt wurde. Man konnte nicht mehr die Batterien vor die eigene Schlachtlinie aufbauen, weil sie in kürzeste Zeit durch Gewehrfeuer ausser Gefecht gesetzt wurden.

Diese Entwicklung im Fenstungsbau war auch eine preussische Spezialität. Die Franzosen haben bis 1870 weiter im traditionellen Bastionärssystem geplant und gebaut. Es gab zwar einige Neuerungen nach Montalembert und Carnot, aber diese wurden in frankreich nur Zögerhaft gefolgt (Festung Cherbourg?), ohne dass es wesentliche Neuerungen vergleichbar mit dem Neupreussischen System gegeben hätte (auf das die Schriften Montalemberts m.W. auch Einfluss hatten).

Österreich folgte nach und in geringeren Maße ein paar andere Länder. Das Polygonalsystem blieb aber weitgehend in Gebrauch und sogar im US-Bürgerkrieg wurden einige Sternforts gebaut, die aus der Feder Vaubans gestammt haben könnten.

vor 1890 die Brisanzkrise usw.) aber mag sein, dass das ein Sonderfall war (?)
...

Vor der Brisanzkrise gab es noch eine vorangegangene Revolution. Mit den artilleristischen Tests durch die preussische Armee an der Festung Jülich, konnte man die Fähigkeiten der gezogenen Artillerie eindeutig beweisen. Zur Praxisanwendung kam dieses dann beim Niederringen der Festung Straßburg, die obwohl für damalige Verhältnisse stark befestigt war, 1870 sehr schnell sturmreif geschossen wurde. Danach haben auch die Franzosen auf detachierte Forts umgeschwänkt und nach dem Krieg ein gewaltiges Bauprogramm aufgesetzt (Barriere de Fér oder System Serre de Riviere: Barrière de fer ? Wikipedia).

Die Brisanzkriese erwischte dieses Programm mitten in der Ausführung, so dass man einige Forts noch umbaute und mit Beton versah (z.B. der "Sargdeckel" von Douamont bei Verdun) andere einfach aufgelassen hat.

Als Zeichen von Aufgeschlossenheit würde ich das nicht unbedingt ansehen, da man lediglich auf eine bereits stattgefundene Entwicklung reagierte.
 
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Bei diesem Beispiel wäre es interessant zu forschen, wie es zu dieser Entwicklung kam, denn eine Reaktion auf eine Waffentechnische Entwicklung war es in diesen Falle nicht:
in gewisser Weise doch: die Erkenntnis, dass bastionäre Festungen nicht mehr das leisteten, was man von festen Plätzen erwartete, führte zu innovativen Konzepten. Einen groben Überblick bieten Polygonalsystem ? Wikipedia und Gürtelfestung ? Wikipedia

ich habe den Eindruck, dass waffentechnische Entwicklungen sowie Festungsbau im 19. Jh. sozusagen wissenschaftlicher und nicht militärisch-hierarchisch betrieben wurden. Im von dir genannten Zeitraum waren die Jülicher Beschußversuche ja nicht die einzige experimentelle Maßnahme, ich erinnere nur an Schumanns Panzerstand (vor der Brisanzkrise!)

allerdings gehörte Interesse an und Kenntnis im Festungsbau, z.B. im entwickeln von gelegentlich kuriosen "Manieren", schon im 17. und 18. Jh. quasi zum guten Ton der höheren Stände - so gesehen ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche festungsbauliche Innovation innerhalb der Kreise des Militäradels entwickelt wurden.

Aber lassen wir das Seitenthema der Festungen lieber wieder ruhen, es hat seinen Zweck ja darin erfüllt, zu zeigen, dass dem traditionellen Militäradel die Fähigkeit zur militärtechn.-wiss. Innovation nicht komplett fehlte ;)
 
Danach haben auch die Franzosen auf detachierte Forts umgeschwänkt und nach dem Krieg ein gewaltiges Bauprogramm aufgesetzt (Barriere de Fér oder System Serre de Riviere: Barrière de fer ? Wikipedia).

Die Brisanzkriese erwischte dieses Programm mitten in der Ausführung, so dass man einige Forts noch umbaute und mit Beton versah (z.B. der "Sargdeckel" von Douamont bei Verdun) andere einfach aufgelassen hat.

Als Zeichen von Aufgeschlossenheit würde ich das nicht unbedingt ansehen, da man lediglich auf eine bereits stattgefundene Entwicklung reagierte.
ok, doch noch kurz zum Festungsbau nach der Brisanzkrise: angemessen zu reagieren, z.B. mit neuen fortifikatorischen Konzepten und neuen Baustoffen, war gräßlich teuer. Deswegen entstanden nach 1885 nur recht wenige modernste Großfestungen (Metz, Diedenhofen, KWII), ansonsten wurden bestehende Fortgürtel mit (Stahl)Beton verstärkt, Grabenwehren in die Kontereskarpe eingebaut usw.; auch Frankreich leistete sich ein paar der nun neuen "Festen" bzw. gesplitteten Befestigungen (z.B. in Belfort) --- die Brisanzkrise erwischte den Festungsbau kalt, aber man war fähig, entsprechende temporäre Verteidigungsanlagen zu hohem Preis zu bauen; bedenkt man, dass selbst nachgebesserte Festungen wie Verdun oder Osowiec doch ganz ordentlich was aushielten und sich partout nicht erobern ließen...
 
Der Adel war prolifisch und hatte viele Kinder. Bis in den ersten Weltkrieg hinein dominierten in den nicht technischen Waffen die Adligen, sowohl im DR, in GB wie in Russland (Frankreich war in dieser Hinsicht deutlich demokratischer). Erst die hohen Verluste im Kriege, zwangen zur massiven Beförderung von Bürgerlichen. In Großbritannien führte dieses nachträglich sogar zu einem Wandel in den Sozialstrukturen da die frühere Führungsschicht sehr stark ausgelichtet wurde.

Ausnahmen zum Konservativismus (und Unfähigkeit) gab es zweifellos, aber sie waren selten.

Schau doch nur, wie wenig waffentechnische Innovationen es zwischen 1700 und 1850 gab. Mit Beginn der Industriellen Revolution überschlugen sich dann zwar die technischen Neuerungen, es dauerte aber lange bis sie beim Militär eingeführt wurden.

Das Zündnadelgewehr (Zündnadelgewehr ? Wikipedia) wurde bereits 1827 entwickelt, von Preussen bereits 1848 als erster militärischer Hinterlader eigeführt (Zivile gab es bereits um 1650!). Es dauerte aber bis 1866, bis die Militärs anderer Länder dessen eindeutige Vorteile erkannten und nachzogen.

Der Repetierer wurde erstmals auch zurückgewiesen weil man die Feuerkraft des einschüssigen Hinterladers als Ausreichend betrachtete und einen zu hohen Munitionsverbrauch befürchtete. Als Folge wurden erst einzelschüssige Gewehre eingeführt (z.B. Mauser Gewehr 71 (Mauser Modell 71 ? Wikipedia), Martini Peabody u.A.) während es seit 1848 die ersten funktionierende Repetierer auf dem zivilen Markt gab (z.B. Volcanic Rifle co. der Vorläufer des Winchester) und man diese um 1860 als ausgereift betrachten könnte.

Die Schlacht von Plevna, (Siege of Plevna - Wikipedia, the free encyclopedia) bei der die zahlenmäßig unterlegenen Türken ein Blutbad unter den angreiffenden Russen und Bulgaren mit zivilen Winchestern verursachten, jagte den Militärs erneut einen Schreck ein, so dass die erst kurz vorher eingeführten Waffen umgebaut ( Gewehr 71/84 mit einem Röhrenmagazin unter dem Lauf) oder gar neue eingeführt wurden.

Funktionierende MGs gab es bereits um 1865, die breite Einführung erfolgte jedoch erst um 1880 (zum Teil jedoch wegen der schlechten Ergebnisse der französischen Mitralleusen, die aus mangelnder Phantasie von den Franzosen wie Feldartillerie eingesetzt wurden).

Bei der Artillerie war es ähnlich, obwohl dessen Offizierskorp grundsätzlich offener für Neuerungen war. Krupp hat jedoch erst einmal seine Produkte ins Ausland verkaufen müssen bevor man in Deutschland dessen Vorteile erkannte.

Ähnliche Beispiele kann man für die Streitkräfte aller großen Armeen finden:

Withworth hat auch zuerst seine modernen Produkte nach Übersee verkauft (USA CSA oder sogar Paraguay führten diese Geschütze vor GB ein). Die Briten haben auf Grund einiger frühen Produktionsfehler von der Hinterladerartillerie wieder zu den Vorderladern gewechselt; Die Russen mussten in Eile gezogene Gewehre einführen (Krimkrieg); Die Franzosen sahen auf den Hinterlader herab bevor sie ihn 1866 überstürzt einführten und übersahen dabei die Neuerungen bei der Artillerie, die in Deutschland und GB stattgefunden hatte.

Die Neuerungen wurden oft von kleineren Heeren eingeführt in der Hoffnung, dadurch ihre numerische Unterlegenheit auszugleichen. Sehr innovativ waren z.B. auch die US-Amerikaner die zu Friedenszeiten ein sehr kleines Heer hatten und dessen Offizierskorps enorm aufgestockt wurde, durch Menschen mit wenig Traditionsbewustsein.

In Europa hat die Neuerungswut erst ab 1890 eingesetzt und beschleunigte sich danach, beflügelt durch Ereignisse wie der Burenkrieg oder der Russisch-Japanische Krieg.[/QUOTE]

Und selbst danach haben viele Militärs die Zeichen der Zeit einfach nicht wahrhaben wollen- jedenfalls drängt sich dieser Eindruck auf, wenn man an die Erfahrungen von 1914-16 denkt, wo noch etliche Kommandeure in der Kavallerieattacke und im Bajonettangriff die ultima ratio sahen, obwohl MGs das längst zum blutrünstigen Anachronismus gemacht hatten.
 
...Aber lassen wir das Seitenthema der Festungen lieber wieder ruhen, es hat seinen Zweck ja darin erfüllt, zu zeigen, dass dem traditionellen Militäradel die Fähigkeit zur militärtechn.-wiss. Innovation nicht komplett fehlte ;)

Davon habe ich sowieso keine Ahnung und schweige zu diesem Thema besser. :winke:

Eine Waffengattung hat die Basisinnovation der Industriellen Revolution, leicht zeitversetzt, sehr schnell nachvollzogen, die Marine.

Ich denke, ähnlich wie es dekumatland formulierte, auch konservative Militärs auf "Entscheiderebene" verschlossen sich waffentechnischen Innovationen nicht. Vielmehr war es m.E. die taktische-operative Antizipation dieser waffentechnischen Innovationen, also die Umsetzung waffentechnischer Neuerungen in taktische Vorschriften, in der sich das konservative Beharrungsvermögen widerspiegelte (eventuell auch falsch interpretierte "soldatische Tugenden").

Beispiel:
M/41 und Folgemodelle.

Die Einführung eines gezogenen Hinterladers hätte aus taktischer Sicht die Ablösung der im Reglement vorgesehenen Battailionskolonne bzw. Kompaniekolonne und den Übergang zum Schützenschwarm ermöglicht, inkl. liegendes Schützenfeuer. Tatsächlich dauerte es fast 50 Jahre, bis das Reglement den Schützenschwarm als Regelkampfform der Infanterie vorschrieb. (Vergl.: Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, MV der DDR, S. 388f., Beitrag "Kolonne", 1985)

M.
 
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Ich denke, ähnlich wie es dekumatland formulierte, auch konservative Militärs auf "Entscheiderebene" verschlossen sich waffentechnischen Innovationen nicht. Vielmehr war es m.E. die taktische-operative Antizipation dieser waffentechnischen Innovationen, also die Umsetzung waffentechnischer Neuerungen in taktische Vorschriften, in der sich das konservative Beharrungsvermögen widerspiegelte (eventuell auch falsch interpretierte "soldatische Tugenden").

Beispiel:
M/41 und Folgemodelle.

Die Einführung eines gezogenen Hinterladers hätte aus taktischer Sicht die Ablösung der im Reglement vorgesehenen Battailionskolonne bzw. Kompaniekolonne und den Übergang zum Schützenschwarm ermöglicht, inkl. liegendes Schützenfeuer. Tatsächlich dauerte es fast 50 Jahre, bis das Reglement den Schützenschwarm als Regelkampfform der Infanterie vorschrieb. (Vergl.: Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, MV der DDR, S. 388f., Beitrag "Kolonne", 1985)

M.

Dabei war das Konzept schon länger bekannt. Die Reglements für Jägertruppen sahen einen solchen Einsatz schon seit dem 18. Jahrhundert vor. Nur waren das besondere Truppen und die Offiziere der Linie hatten Angst, die Kontrolle über ihre "normalen" Muschkoten zu verlieren. Ein britischer General beschwerte sich über die Einführung der gezogenen Enfield-Gewehre mit den Worten "am Ende wollen die noch alle Grün uniformiert werden" da die britischen Rifle-Regimenter deutlich mehr Freiheiten genossen, als die (rotgekleideten) Linientruppen.
 
Dabei war das Konzept schon länger bekannt. Die Reglements für Jägertruppen sahen einen solchen Einsatz schon seit dem 18. Jahrhundert vor. Nur waren das besondere Truppen und die Offiziere der Linie hatten Angst, die Kontrolle über ihre "normalen" Muschkoten zu verlieren. Ein britischer General beschwerte sich über die Einführung der gezogenen Enfield-Gewehre mit den Worten "am Ende wollen die noch alle Grün uniformiert werden" da die britischen Rifle-Regimenter deutlich mehr Freiheiten genossen, als die (rotgekleideten) Linientruppen.

@Bdaian

Vollkommen d'accord. Das Gefechtskonzept der "Leichten Infanterie" war seinerzeit längst bekannt und in die Reglements aufgenommen.

Du sprichst in Deinem Beitrag einen sehr interessanten Punkt en passant an, und zwar die soziale Differenzierung zwischen dem Offizierskorps und den Soldaten und dem daraus offensichtlich erwachsenden "Mißtrauen" des Offizierskorps => Soldaten.

Immerhin im DR gab es zwar eine Wehrpflicht, aber keine "Wehrgerechtigkeit" ("Einjährig Freiwillige"). Soziologisch determinierte Unterschiedspositionen können zwar waffentechnische Innovationen nicht "aushebeln", wohl aber ihre angemessene taktische Umsetzung verzögern.

M.
 
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