Leopolds Toskana und die Todesstrafe

jschmidt

Aktives Mitglied
Es ist schlechterdings nicht möglich, im GF jedes wichtigen Jahrestags zu gedenken. Aber das folgende Datum würde ich doch gern nachtragen, auch wegen des hohen Aktualitätsbezugs [1]:

Gestern vor 230 Jahren, am 30. November 1786, erließ Pietro Leopoldo, Großherzog der Toskana [2], ein Strafrechts-Reformgesetz.
Das Gesetz schaffte die Todesstrafe völlig ab – zu diesem Zeitpunkt das weltweit allererste Mal.
Vorangegangen war unter dem Geist der Aufklärung erstmals eine Diskussion über die Rechtfertigung der Todesstrafe. Nach den neuen Straftheorien sollte das Maß der Strafe im rechten Verhältnis zur Schädlichkeit der Tat stehen und sich damit am Endzweck des gemeinen Nutzens orientieren. In Deutschland war es vor allem Christian Thomasius mit seiner Schrift "Über die Folter", in Österreich Joseph von Sonnenfels und in Italien Cesare Beccaria mit seiner Schrift "Dei delitti e delle pene", welche die entsprechenden Diskussionen auslösten.
Während allerdings das Preussische Allgemeine Landrecht von 1794 noch die Todesstrafe für zahlreiche Delikte androhte und auch die Österreichische Constitutio Criminalis Theresiana ebenfalls die Todesstrafe noch ausgiebig vorsah, hat sie Leopold II. in Artikel 51 seines Criminalgesetzbuches für die Toskana völlig abgeschafft.
Richard J. Evans hat dem Fürsten in seiner monumentalen Studie [3] nur einen schmalen Satz gewidmet und darauf hingewiesen, dass Leopolds Bruder, Kaiser Joseph II., zwei Jahre später die Todestrafe auch in seinem Herrschaftsgebiet beseitigte, freilich nur vorübergehend.


[1] Zitierter Text aus: Ohne Todesstrafe: die fortschrittliche Toskana von 1786
[2] Als Leopold II. vorletzter römisch-deutscher Kaiser 1790-1792
[3] Rituale der Vergeltung: Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532-1987. Berlin/Hamburg 2001 (1312 S.), hier S. 172
 
Da sieht man es mal wieder, ich hatte das Datum verkehrt im Kopf und hätte dieses Ereignis früher eingestuft. Leopold war ein Reformer "mit Augenmaß" wie man heute sagen würde. Die Toskana machte er zu einer Art Modellstaat, ähnlich wie die Dessauer Askanier den ihren und Carl Friedrich sein Badnerland (wohl unter Einfluss auch seiner hochgebildeten Gattin). Beccaria würde ich als maßgeblich für diese Entscheidung ansehen, von der gebildeten Welt damals auch als eine Art Supergenie zeitweilig gehypet. Anders als die zahlreichen anderen namenhaften und herausragenden Juristen seiner Zeit wie Leibniz, Moser Vater und Sohn etc. war Beccaria voller Wirkung. :fs:
 
Beccaria würde ich als maßgeblich für diese Entscheidung ansehen...
Dafür spricht vieles.

Beccaria vertrat freilich eine juristische Außenseiterposition. Die herrschende Meinung fand sich am klarsten bei Kant [1], der ein Jahr vor Leopolds Rechtsreform auf der Grundlage des Wiedervergeltungsrechts (ius talionis) konstatierte: »Hat er [der Täter] aber gemordet, so muß er sterben.«
Und weiter: »Hiegegen hat nun der Marchese Beccaria, aus teilnehmender Empfindelei einer affektierten Humanität (compassibilitas), seine Behauptung der Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe aufgestellt ... Alles Sophisterei und Rechtsverdrehung.« [2]

Leopold war ein Reformer "mit Augenmaß" wie man heute sagen würde.
Und dennoch (oder gerade deshalb?) verstand er sich als erster zur gesetzlichen Abschaffung der Todesstrafe, obwohl er sicherlich wusste, dass die Mehrheit der Juristen zunächst gegen ihn war, vermutlich auch die Mehrheit der Laien, des einfachen Volkes.

Im Unterschied zu früheren Threads [3] würde ich im Folgenden gern das Modell der Kraftfeldanalyse [4] anwenden. Dazu folgende Beschreibung:
1. Im ganzen Abendland wird die Todesstrafe für eine mehr oder weniger große Zahl von Delikten verhängt; das ist der Status quo. Es gibt jedoch Forderungen nach Abschaffung der Todesstrafe bzw. Veränderung des Status quo.
2. Der Status quo ergibt sich aus der Stärke der im (politischen, gesetzgeberischen) Kraftfeld wirkenden Faktoren: Den Kräften, welche für die Veränderung des Status quo eintreten (fördernde Faktoren, f.F.), stehen Kräfte gegenüber, welche diese Veränderung nicht wünschen (hemmende Faktoren, h.F.).
3. Die beiderseitigen Kräfte/Faktoren sind im Gleichgewicht. Anders gesagt: die f.F. sind nicht stark genug, um die h.F. zu überwinden, bzw. die auf Veränderung drängende kritische Masse ist nicht groß genug.
4. Um den Status quo zu verändern, muss man entweder (a) zusätzliche f.F. kreieren oder die vorhandenen stärken und/oder (b) die h.F. schwächen oder eliminieren. Wenn das gelingt, wenn die f.F. also hinreichend stark werden, um den Widerstand zu überwinden, kann ein neuer Gleichgewichtszustand – Todesstrafe abgeschafft – erreicht werden.

Ich könnte mir vorstellen, dass Leopold – wie gesagt: ein Reformer, kein Revolutionär/Revoluzzer – und seine Berater sinngemäß so verfahren sind und dass sie insbesondere die Widerstände gegenüber ihrem Vorhaben analysiert haben samt den Möglichkeiten, diese zu überwinden.

Würde jemand beim Identifizieren der Faktoren/Kräfte mitmachen?


[1] Die Metaphysik der Sitten, Riga 1785 (= Werkausgabe Bd. VIII, S. 309 ff.); Zitat S. 454
[2] S. 456 (Hervorh. von mir); ob Kant dies konsequenterweise auch dem Leopold vorgehalten hat, ist mir nicht bekannt.
[3] Worin Leopold schon erwähnt wird, wenngleich z.T. mit abweichenden Daten; vgl.
http://www.geschichtsforum.de/f51/todesstrafen-strafen-1744/
http://www.geschichtsforum.de/f76/wann-wurde-die-todesstrafe-abgeschafft-13054/
Die Todesstrafe in der Frühen Neuzeit - Geschichtsforum.de - Forum für Geschichte
[4] Wer mehr Infos dazu braucht, dem stelle ich gern eine kleine Abhandlung zur Verfügung.
 
Ich könnte mir vorstellen, dass Leopold – wie gesagt: ein Reformer, kein Revolutionär/Revoluzzer – und seine Berater sinngemäß so verfahren sind und dass sie insbesondere die Widerstände gegenüber ihrem Vorhaben analysiert haben samt den Möglichkeiten, diese zu überwinden.
Hier sehe ich auch eine große Qualität in Leopolds Reform.

Eine so radikale Entscheidung schuf ja prinzipiell große Folgen. Wie sollte man mit Fremden verfahren? Wie sollte gehandelt werden, wenn eigene Untertanen auf fremden Territorium mit einer Todesstrafe bedroht wurden? Dann auch das Problem wie sollte man künftig Rechtsgutachten einholen. Für gewöhnlich fragte man an renommierten Universitäten um Gutachten an. Wie sollte das gehen, wenn an allen Unis schonmal die Todesstrafe gelehrt wurde? Auch die Abschaffung der Folter passte ja kaum in das Konzept damaliger Urteilsfindung.

Es ist für mich etwas schwierig so ganz auf Deinen Zug aufzuspringen.
Es gibt progressive und konservative Kräfte. Auf Leopolds Seite zumindest schonmal beim Zeitpunkt der Einführung der Abschaffung ( :red::autsch: was ist das denn für ein Konstrukt von mir) muss man wohl in Betracht ziehen, dass er schon 20 Jahre am Ruder war. Zwar hatte ihm Joseph II. Steine in den Weg gelegt, aber seine Mutter war inzwischen tot.

Es wäre sicherlich wichtig mehr über die innere Verfassung der Toskana zu erfahren, um Deine Kraftfelder wirklich ermessen zu können. Wohlmöglich fand Leopold geeignete Strukturen vor, die außerhalb des juristisch-wissenschaftlichen Diskurses, seine Reformpolitik begünstigte.

Nebenbei: Kants Urteil klingt nicht besonders fundiert oder von einem juristischen Verständnis zeugend. "Rechtsverdrehung" wäre es ja, wenn ein existierendes Gesetz entgegen der ursprünglichen Intention zu Gunsten eines Interesses ausgelegt worden wäre. Hier aber wurde ein "neues Gesetz geschaffen" (kein Zitat). Die FNZ war ja geprägt von einem Herumdeuteln und sich Abkämpfen der Juristen an antiken Autoren. Warum diese alten Gesetzessammlung eine unumstößliche Wahrheit bereithielten, dass es sich lohnte darauf rumzureiten, verwunderte mich auch anfänglich.
 
Es ist für mich etwas schwierig so ganz auf Deinen Zug aufzuspringen
Ist ja ein Bummelzug, und ich freue mich auch, wenn Du ein Stück daneben her gehst...:winke:

Zu Joseph II.:
Natürlich gab es auch Zwist mit ihm (will ich hier nicht vertiefen), aber in der Todesstrafen-Frage waren beide auf einer Linie: Sie wurde ja dann auch in Österreich (in welchen Teilen?) abgeschafft.

Indirekt unterstützend
mag auch die Haltung Friedrichs II. gewesen sein. Der hatte ebenfalls die Absicht, die Todesstrafe abzuschaffen. Weil er aber darüber starb, behielt das ALR (1794) die Strafe bei.

Die Nation
war für Leopold auch ein Argument: In der Einleitung zum Gesetzbuch schreibt er, die alte Gesetzgebung habe er »›dem sanften und gutmütigen‹ (dolce e mansueto) Charakter der Nation gar nicht angemessen gefunden«. [1]


[1] Zitat bei Adam Wandruszka: Leopold II., Zweiter Band, Wien 1964, S. 141
 
Zu Joseph II.:
Natürlich gab es auch Zwist mit ihm (will ich hier nicht vertiefen), aber in der Todesstrafen-Frage waren beide auf einer Linie: Sie wurde ja dann auch in Österreich (in welchen Teilen?) abgeschafft.
Die Todesstrafe wurde durch das "Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung vom 13. Januar 1787" abgeschafft. Es müsste grundsätzlich in allen habsburgischen Erblanden gegolten haben, jedoch mit Ausnahme Ungarns und seiner Nebenländer.

In § 20 des I. Teils wurde die Todesstrafe grundsätzlich ausdrücklich untersagt. Sie blieb jedoch im Standrecht erhalten und sollte durch Hängen vollzogen werden, anschließend sollte die Leiche zur Abschreckung 12 Stunden lang hängen bleiben, und ihr wurde ein ordentliches Begräbnis verweigert.

Ansonsten wurden als Strafen insbesondere angedroht: Gefängnis, Anschmiedung, Gefängnis mit öffentlicher Arbeit, verschiedene Prügelstrafen und die öffentliche Zurschaustellung auf der "Schandbühne" sowie Ausweisung aus einem bestimmten Ort. Bei den Gefängnisstrafen unterschied das Gesetz nach Art der Unterbringung, der Ernährung und der Fesselung verschiedene Grade.
Kritisch anzumerken bleibt, dass die "öffentliche Arbeit" auch das Schiffziehen sein konnte, was jedoch von der Mehrheit der Verurteilten nicht lange überlebt wurde.
 
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