Männerphantasien 1+2

Meines Erachtens ist es eher aus psychologischer bzw. psychoanalytischer Sicht interessant denn aus der Sicht des Historikers.
Habe die beiden Bände (es sind die aus dem Roter-Stern-Verlage mit dem roten Schnitt) zufällig auch letzte Woche wieder zur Hand genommen, weil ich Material suchte, aus gegebenem Anlass, über totale (Erziehungs-) Organisationen.
Mit der Rubrizierung hast Du sicher recht; merkwürdig immerhin, dass laut Reichardt die Vorbehalte in der amerikanischen Historiographie offenbar geringer waren.

... und kolportiert zudem einige Geschichtsmythen, deren historische Unkorrektheit sich inzwischen erwiesen hat...
Ist mir beim ersten Lesen vor 30 Jahren gar nicht aufgefallen - kannst Du ein paar Beispiele nennen?
 
Ist mir beim ersten Lesen vor 30 Jahren gar nicht aufgefallen - kannst Du ein paar Beispiele nennen?

Eigentlich sind es eher kleinere Randbemerkungen, die wir ihm zudem - wie bereits ausgeführt - auch nur sehr bedingt ankreiden können (in den 70ern waren die neueren Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft eben noch nicht bekannt geworden - logisch), anhand derer aber einige Herleitungen in Band 1 zu den Frauenbildern gezogen werden.

Ich beschränke mich auf drei Beispiele (bei Bedarf kann ich die entsprechenden Stellen noch einmal heraussuchen):
1. Theweleit spricht wie selbstverständlich von den Hebammen und Heilerinnen als besonders bevorzugte Opfer der Hexenverfolgung - eben um darüber auch das entsprechende Frauenbild seitens der Männer aufzubauen.
2. Desweiteren geht Theweleit von einem die Jahrhunderte hindurch wirkenden ius primae noctis aus, wenn er seine Charakterisierung des proletarischen Milieus darlegt (wenn er auch ausdrücklich ein Fortwirken des ius primae noctis im proletarischen Milieu bestreitet).
3. Korrekt konstatiert Theweleit einen Wandel im Welt- und Menschenbild beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, nur führt er dabei seinen Schlag natürlich auch gegen das Bild der flachen Erde (Erdscheibe).

Wie geschrieben sind dies eher Kleinigkeiten (da Randbemerkungen), die wir eben auch mit den vorherrschenden Geschichtsbildern der 70er in Relation setzen müssen, aber wir sollten dies beim Lesen des Werkes dennoch berücksichtigen, da einige der getroffenen Herleitungen damit nicht mehr ganz so glatt gezogen werden können:
zu 1. Es läßt sich dann eben nicht mehr einfach sagen, daß vor allem die Hexenverfolgung zur Abdrängung der Frauen in "Nebenrollen" innerhalb der Medizin geführt hat.
zu 2. Daß Frauen insbes. der unteren Schichten über lange Zeiten Gewalt, sexueller Ausbeutung etc. unterlagen, ist nicht zu leugnen. Dies jedoch an einem ius primae noctis - einer Erscheinung, die es so nie gegeben hat, ergo einem Mythos und Topos - zu messen (unabhängig davon, ob man ein Fortwirken sehen will oder nicht), ist einfach unsinnig.
zu 3. Es bedurfte auch in den 70er Jahren nicht des Bildes vom scheibengläubigen Mittelalter und daß Columbus bewiesen habe, daß die Erde keine Scheibe ist (was bekanntlich eine nach wie vor verbreitete, aber irrige Ansicht ist), um das mit der Renaissance einsetzende neue Welt- und Menschenbild zu charakterisieren.
 
Hebammen und Medizin sind ohnehin ein heikles Thema. Einerseits war Geburtshilfe eben keine "Männerarbeit" und es gab keine "studierte" Medizin, bzw. nur in Teilbereichen; andererseits sollte die Hebamme für das Überleben von Mutter und Kind sorgen (es wurden Hebammen bei Kindstod sogar angeklagt!), wobei Ärzte und Kirche argwöhnisch die steigenden medizinischen Kenntnisse und das "Fachwissen" der Hebammen beäugten und in allem Übergriffe in ihre Fachbereiche sahen und auch ein gewisses Machtpotential der Hebammen. Das erste "deutsche" Geburtshilfe-Werk erschein wohl 1513
"Der swangern Frawen und Hebammen Rosengarten".

Dann kam noch dazu dass mancherorts die "Nottaufe" zu den Aufgaben der Hebamme zählte, was der Kirche auch ein Dorn im Auge war.

Eine Verdrängung der Frau aus ihrem angestammten Berufsbild war demnach erst möglich, als ihre Aufgaben für den Mann/Arzt vertretbar und resepektabel schienen. Es gibt ja heute noch Kulturen, wo sich Frauen nicht von Männern/Gynäkologen anfassen lassen. Kirche und Gesellschaft mussten das Berufsbild also erst "säubern", um diese Machtposition patriarchisch zu übernehmen. Aber kann man das einem Frauenbild und männlichen Phantasien verschulden/andichten? :grübel:
 
Eigentlich sind es eher kleinere Randbemerkungen...
Da hast Du völlig recht!

Die genannten Textstellen (Hexen: S. 170, ius primae noctis: S. 210, Erdscheibe: S. 388 - ohne Anspruch auf Vollständigkeit!) interpretiere ich z.T. ein wenig anders. Aber zu allen drei Themen gibt es einen oder mehrere andere Threads, weswegen ich der Stimme der Versuchung (Caro1 :winke:), deren Diskussion hier fortzusetzen, widerstehen möchte.

Aber nochmal Dank für den Hinweis auf Theweleit.
 
Da hast Du völlig recht!

Die genannten Textstellen (Hexen: S. 170, ius primae noctis: S. 210, Erdscheibe: S. 388 - ohne Anspruch auf Vollständigkeit!) interpretiere ich z.T. ein wenig anders. Aber zu allen drei Themen gibt es einen oder mehrere andere Threads, weswegen ich der Stimme der Versuchung (Caro1 :winke:), deren Diskussion hier fortzusetzen, widerstehen möchte.
Okay, und wo geht's dann weiter? :pfeif::winke:
 
Die genannten Textstellen (Hexen: S. 170, ius primae noctis: S. 210, Erdscheibe: S. 388 - ohne Anspruch auf Vollständigkeit!) interpretiere ich z.T. ein wenig anders...

Ich habe die dtv Ausgabe von 1995; da weichen die Seitenzahlen ab.
Da man die entsprechenden Stellen sicher unterschiedlich wichten kann, liefere ich sie einmal dennoch nach:
The lady with the light schrieb:
...
In der weißen Krankenschwester steckt aber noch mehr. Das wird aus neuerer feministischer Literatur deutlich, die die europäische Geschichte der Medizin untersucht und dabei feststellt, daß es ein Kampf von Jahrhunderten war, die heilkundigen Frauen mit volksmedizinischem Wissen aus der praktischen Medizin zu verdrängen und studierte professionelle männliche Ärzte an ihre Stelle zu setzen. Die Hexenverfolgungen waren auch ein Mittel zur Durchsetzung dieses Ziels*. Den Frauen blieb lediglich die Arbeit der Hebamme.
...
Einschub über proletarische Wirklichkeit... schrieb:
...
Daß die Herren der normalen wilhelminischen Bürgerhäuser in der Anstellung, die ein Dienstmädchen bei ihnen nahm, eine Art sexuellen Verfügungsrechts enthalten sahen, daß sie oft ihre Söhne die ersten sexuellen Erfahrungen bei Dienstmädchen machen ließen, ehe die Söhne als für den Bordellbesuch reif erachtet wurden, sind oft betonte und gesicherte Tatbestände...
...
Welche Bedeutung dieser Sachverhalt für proletarische Frauen gehabt haben muß, wird schlagartig klar, wenn man erfährt, daß von den 495 Hamborner Arbeiterfrauen, die Fischer-Eckert befragt hat, 343 vor ihrer Ehe Dienstmädchen waren, das sind 70%. Eine Berufsausbildung, durch die sie relativ selbständig gewesen waren, hatten nur zwei, eine Diakonissin, eine Kindergärtnerin.
So ist es nicht das ius primae noctis, das fortdauert**, wohl aber eine weitgehende Schutzlosigkeit der Frauen des niedrigen Volks gegenüber ständigen Zugriffen von Herren auf ihre Leiber. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Normalität sind so.
...
Entgrenzung/Begrenzung um 1500: der weite Ozean und der Gott innen schrieb:
...
... Und es sind Menschen dieser Art (eingegrenzt und aus dieser Begrenzung auszubrechen versuchend - Anm. z. Verständnis), die im Zeitraum der frühbürgerlichen Revolution etwa zwischen 1450 und 1550 agieren. Der Buchdruck entgrenzt den Besitz des geschriebenen Wortes, die Tabellen des Nürnberger Mathematikers Johannes Müller über Sonne, Mond und Planeten, veröffentlicht 1474, das Meer: mit ihrer Hilfe konnte man den Standort der Schiffe unabhängig von den Küsten berechnen. Kolumbus hat sie benutzt. Aus dem gleichen Jahr, in dem er Amerika fand, stammt der erste erhaltene Globus, der Erdapfel des Nürnberger Kaufmanns Martin Behaim. Amerika ist noch nicht verzeichnet, war auch noch nicht so wichtig; wichtiger war: die Erde ist kein Teller, man fällt gar nicht vom Rand. Der Ozean führt gar nicht durch die Hölle, er ist beschiffbar***.
...

So mag sich jede(r) ihr/sein eigenes Bild vom Text machen; meine Einwände nochmals kurz (auch wenn ich es dem Autor nun wirklich eigentlich weder zum Vorwurf machen kann noch zum Vorwurf machen will):
* Nein; das waren die Hexenverfolgungen eben nicht.
** Natürlich war da kein ius primae noctis, das fortdauert, denn das konnte es real gar nicht, da es so nie existiert hatte.
*** Vollkommen überschätzt: Die Erde war auch vor Behaim, Columbus & Co. für die Menschen des europäischen Mittelalters kein Teller, und man fürchtete weder vom Rand zu fallen noch daß der Ozean durch die Hölle führte.

Anm. 1: Aber wie bereits mehrfach eingeräumt, mache ich dem Autor keinen Vorwurf und weiß zudem, daß es sich um Randbemerkungen handelt.
Anm. 2: Über diese Geschichtsmythen zu diskutieren, gehört in der Tat in entsprechende Threads - einmal abgesehen davon, daß es dazu auch schon mehrfach Threads gibt.



Aber nochmal Dank für den Hinweis auf Theweleit.

Kein Problem :friends:
 
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