Maßnahmen nach dem 30.01.1933 und das Reichsgericht?

Art. 48 sist hier schon einige Male diskutiert worden. Er sollte ebenfalls nicht ohne Kontext gesehen werden.

Die Rückgriffe auf 48 als „Reserveverfassung“ häuften sich erst, (Gusy) als das parlamentarische Regierungssystem als „Normalsystem“ sein Fundament einbüsste.

Am Anfang stand der Übergang zum Minderheitenkabinett.
Seit der ersten Reichstagswahl waren Minderheitenkabinette eher der Normalfall als die Ausnahme.
Von den zwölf Kabinetten zwischen 1920 und 1928 hatten acht zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit. Zwei weitere Kabinette, die mit einer Mehrheit gestartet waren, endeten als Minderheitskabinette.

Rückgriffe auf Artikel 48 hatten sich auch in den Jahren 1920 und 1921 schon sehr gehäuft, siehe documentArchiv.de - Notverordnungen auf Grund des Artikel 48 des Reichspräsidenten für Weimarer Republik und das Dritte Reich

Weitere Wege, an der Verfassung vorbeizuregieren, waren ebenfalls in der Zwischenzeit schon erprobt worden:
"Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete für erforderlich und dringend erachtet. Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden."
Ermächtigungsgesetz. Vom 13. Oktober 1923 – Wikisource
 
Wenn ich noch etwas zum Vergleich Weimarer Republik / Bundesrepublik sagen darf: Erzwingen? In dem Art. 100 GG steht nur: „… das Gericht (hat) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.“ Wenn das Bundesverfassungsgericht sich weigert, eine Entscheidung zu fällen, dann hat’s sich das mit dem Einholen.

Siehe Silesias Beitrag.

Ich sehe hier keinen wesentlichen Unterschied
Dann übersiehst Du einige Dinge.

Hitler wurde in den Reichstag gewählt
Das ist schon mal falsch, Hitler war damals kein Reichstagsabgeordneter. Erst nach der "Machtergreifung" ließ er sich in den Reichstag wählen.

... der Reichspräsident hat ihn erst zum Kanzler ernannt, als sich die beteiligten Parteien in den Koalitionsverhandlungen auf Hitler als Reichskanzler geeinigt haben. Das heutige Verfahren ist nicht sehr viel anders.

Das heutige Verfahren setzt zwingend eine Wahl durch den Bundestag voraus.

In der Weimarer Republik gab es keine Kanzlerwahl. Reichskanzler konnten vom Präsidenten ohne Rücksicht auf Mehrheiten ernannt werden, das war auch bei Hitlers Vorgängern Brüning, Schleicher und Papen der Fall gewesen.

Und sogar wenn es eine Kanzlerwahl gegeben hätte: Die "beteiligten Parteien" - NSDAP und DNVP - waren zu diesem Zeitpunkt weit von einer Mehrheit entfernt. Sie brachten es zusammen auf 248 von 584 Sitzen.

Auch die Notstandgesetze der Bundesrepublik erlauben der Bundesregierung im Fall eines inneren Notstands unter Umgehung des Bundestages Notstand auszurufen.
Auch im Fall des inneren Notstands kann die Bundesregierung unter Umgehung des Bundestages weder Gesetze außer Kraft setzen noch Notverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. (Und schon gar nicht der Bundespräsident.) Da vergleichst Du Äpfel mit Birnen.

Bei einer Konstellation wie derzeit in Polen, wo sich die Regierung auf eine absolute Mehrheit im Parlament und den „eigenen“ Staatspräsidenten stützen kann, sähe auch bei uns düster aus: Man müsse sich dazu anstelle des „eigenen“ Bundespräsidenten nur den „eigenen“ Bundesrat (d.h. die Mehrheit der Bundesländer) vorstellen
Diese "düstere" Situation bestand zuletzt vom 28. Oktober 2009 bis 14. Juli 2010.
Davor vom 21. November 2005 bis 5. Februar 2009.
Davor vom 27. Oktober 1998 bis 7. April 1999
Davor vom 8. November 1990 bis 4. April 1991
Davor vom 10. Dezember 1982 bis 21. Juni 1990.
...

Dann gibt es noch den Art. 81 GG, nach dem die Bundesregierung zusammen mit dem Bundesrat Gesetze unter Ausschaltung des Bundestages beschließen kann.
Dazu müssen aber Bundesregierung, Bundespräsident und Bundesrat an einem Strang ziehen.
Vergleich das doch mal mit dem Spielraum, den der Reichspräsident als Einzelperson hatte. Vielleicht fällt Dir doch noch ein Unterschied auf.
 

Dazwischen liegt (zeitlich nicht nur eine scharfe juristische Debatte, sondern) ein Funktionswandel, weswegen das diktatorisch „angenäherte Polizeirecht“ der frühen Verwendung von Art. 48 nicht mit dem „angenäherten Verordnungrecht der Exekutive“ in der Spätphase der Republik vergleichbar ist.

Diese Auffassung ist unter Staatsrechtler eigentlich unumstritten, weswegen die nackten Aufzählungen in Dokumentenarchiven wie so häufig die Gefahr von Äpfeln und Birnen bergen.

Für den Funktionswandel wird schon zeitgenössisch Hensel, DJZ 1930: 1060, bemüht. Bis 1924 galt als g.h.M. in der Auslegung der Vorschrift, dass die WRV im „Diktaturfall“ unangetastet und unverändert - damit begrenzend - fortgelte. Dass änderte sich 1924 vor dem StGH, der Abweichungen zuließ und die Kompetenzen der Exekutive im Notfall als weiterreichend als im Normalfall sah, wodurch die Exekutive „nicht an jede Begrenzung“ außerhalb der Diktatur gebunden sei. Der Testfall hierfür wurde dann die parlamentarische Haushaltskompetenz.

Weiter geht es in der Debatte nach Gusy nicht um „einfache“ Minderheiten vor 1928, sonden um „negative“ Mehrheiten oder Minderheiten ab 1930.
 
Um diese Diskussion nicht unnötig in die Länge zu ziehen:
Auf dem Papier ist die Bundesrepublik Deutschland gut gegen eine Machtübernahme von Böswilligen gerüstet, aber praktisch nicht: Bei einer Konstellation wie derzeit in Polen, wo sich die Regierung auf eine absolute Mehrheit im Parlament und den „eigenen“ Staatspräsidenten stützen kann, sähe auch bei uns düster aus: Man müsse sich dazu anstelle des „eigenen“ Bundespräsidenten nur den „eigenen“ Bundesrat (d.h. die Mehrheit der Bundesländer) vorstellen und schon kann man einen inneren Notstand ausrufen und danach nach Belieben regieren.
Diese "düstere" Situation bestand zuletzt vom 28. Oktober 2009 bis 14. Juli 2010.
Davor vom 21. November 2005 bis 5. Februar 2009.
Davor vom 27. Oktober 1998 bis 7. April 1999
Davor vom 8. November 1990 bis 4. April 1991
Davor vom 10. Dezember 1982 bis 21. Juni 1990.
...
Schon klar, aber ich schrieb extra von einer „Machtübernahme von Böswilligen“.

Auch unsere Demokratie funktioniert nur, solange sich alle politischen Kräfte an die Spielregeln halten. Das meinte sicher auch silesia in diesem Statement:
Jede Gerichtsentscheidung wie auch die Verfassung setzt voraus, dass die Gewaltenteilung noch funktioniert.
 
Weiter geht es in der Debatte nach Gusy nicht um „einfache“ Minderheiten vor 1928, sonden um „negative“ Mehrheiten oder Minderheiten ab 1930.

Dann möchte ich doch um etwas Butter bei die Fische bitten.
Was soll ich unter dem schlichten Satz "Am Anfang stand der Übergang zum Minderheitenkabinett" verstehen?
 
Auch unsere Demokratie funktioniert nur, solange sich alle politischen Kräfte an die Spielregeln halten.

Was ist mit solchen Gemeinplätzen für die Diskussion gewonnen?

Es gab in der Weimarer Republik mehrere Versuche der politischen Machtübernahme ohne Rücksicht auf die Spielregeln. Diese blieben aber erfolglos.
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gehört nicht dazu. Die lief nach den Spielregeln ab.
 
Auch unsere Demokratie funktioniert nur, solange sich alle politischen Kräfte an die Spielregeln halten. Das meinte sicher auch silesia in diesem Statement:
Jede Gerichtsentscheidung wie auch die Verfassung setzt voraus, dass die Gewaltenteilung noch funktioniert.[/I]
In der Kürze liegt die Würze, hier ist das aber eine Sinnentstellung meines Zitates. Es fehlt der Vor-Satz
„durchsetzen“ ist außerdem dehnbar.

Bezogen war meine Bemerkung als Kritik an der Wischiwaschi-Formulierung, über das "Durchsetzen" der Verfassung/Rechtsordnung in der Weise zu diskutieren, den Ausnahmezustand mit dem Normalzustand zu vermischen. Die Prämissen sind säuberlich auseinander zu halten:

- "durchsetzen" in der bestehenden Rechtsordnung mit funktionierender, gewaltengeteilten Bereichen
- Ausnahmezustand bei Angriffen auf die Rechtsordnung und Notwehr/Notstandsrechte.

Darauf hat sepiola hingewiesen. Der Machtantritt Hitlers erfolgte im gegebenen Verfassungsrahmen. Spiegelbildlich wehrte sich die Republik unter Ebert mit dem Notstandsrecht, dass unter Hindenburg - in anderer Interpretation und mit anderem Auslegungsrahmen - zur faktischen Aufgabe der (in der Verfassung unterstellten) parlamentarischen Ordnung führte.

Die Diskussion sollte außerdem auf eingestreute tagespolitische Mutmaßungen zum deutschen Staat und zu Nachbarstaaten verzichten, und sich auf historische (und rechtsvergleichende) Betrachtungen beschränken: Forenregeln.

Immerhin scheint diese dubiose These ad acta gelegt zu sein, jedenfalls kam dazu nichts mehr und die Karawane zog weiter:
Dion schrieb:
Wenn das Bundesverfassungsgericht sich weigert, eine Entscheidung zu fällen, dann hat’s sich das mit dem Einholen.
silesia schrieb:
Selbstverständlich wird eine Entscheidung bei der konkreten Normenkontrolle durch Gerichtsvorlage „erzwungen“, nämlich, weil zu entscheiden ist...
Entschieden wird damit in jedem Fall, nach üblichen rechtstaatlichen Kriterien.
 
Bezogen war meine Bemerkung als Kritik an der Wischiwaschi-Formulierung, über das "Durchsetzen" der Verfassung/Rechtsordnung in der Weise zu diskutieren, den Ausnahmezustand mit dem Normalzustand zu vermischen.
Was ich mit meiner „Wischiwaschi-Formulierung“ vor allem meinte: Was passiert, wenn sich Executive und Legislative – im Bund und/oder Ländern – weigern, die Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts Folge zu leisten?

PS: Ich verstehe, dass das keine zulässige Frage in einem Geschichtsforum ist, das natürlich nur das Vergangene behandelt, aber vielleicht macht man hier eine Ausnahme.
 
Was passiert, wenn sich Executive und Legislative – im Bund und/oder Ländern – weigern, die Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts Folge zu leisten

„Anordnungen des BverfG Folge leisten“? = Rechsfolgen der Beschlüsse beachten, bzw. bei „Weigerung“ also missachten?

Kommt darauf an.

Wenn zulässig/rechtstaatlich, könnte das Parlament Gesetze oder sogar die Verfassung ändern. Das ist eine Frage von Mehrheiten. Ansonsten ist der Fall „weigern“ rechtstaatlich nicht denkbar.

Wenn das dagegen - sozusagen ausserhalb des rechtstaatlichen Kontextes - auf die Einleitung der Diktatur zielt: mehr als ein Widerstandsrecht kann jede Verfassung oder auch selbst ein überpositivistisches (Natur)Recht dort nicht bieten.
http://www.geschichtsforum.de/thema...imarer-demokratiebegriffes.49668/#post-732019

Das explizite (positivistische) Widerstandsrecht - über seine Wirkmacht kann man ergebnislos streiten - ist ebenfalls eine Erfahrung von Weimar, zeitgenössisch ab 1945 unter vielen Facetten bekannt: Befehlsnotstand, Eidestreue, etc.

Solchen „Begründungen“ bei Gefährdungen der Verfassung wollte man zumindest argumentativ den Boden entziehen.
 
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