Medizin in Mesopotamien

Babylonia

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„...Ärzte besitzen sie nicht“ - Teil 1



Zu diesem Urteil über die Medizin im Zweistromland gelangte im Jahre 450 v. Ch. der gleiche Herodotos von Halikarnassos, der in seinen Reisebeschreibungen ein so lebendiges Zeugnis vom Wirken der ägyptischen Ärzte hinterlassen hatte. Er sollte sich täuschen.

Unter den Ruinen der sumerischen Stadt Nippur wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine 8 x 15 cm große Tontafel gefunden, die der Sumerologe S. N. Kramer gut einhundert Jahre später, 1956, als das älteste ärztliche Handbuch der Medizin, das die Menschheit kennt, identifizierte. Ein unbekannter sumerischer Arzt, der gegen Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends lebte, schrieb in Keilschrift rund ein Dutzend seiner Rezepte in den feuchten Ton. Interessant an dieser Tafel ist, außer der Erkenntnis, dass schon die Sumerer umfangreiche Kenntnisse von der Anwendung diverser Drogen und chemischer Substanzen hatten, die Tatsache, dass sich darin nicht eine einzige Erwähnung über Götter, Dämonen oder Magie findet. Die Rezepte waren einzig nach rationalen Gesichtspunkten zusammengestellt worden. Keilschriften belegen die Koexistenz einer an Magie orientierten, im babylonischen Sinn „wissenschaftliche“ Medizin, die die vermutete Ursache der Krankheit- das Wirken böswilliger Dämonen- zu beseitigen suchte, und eine „empirisch- praktische“ Therapeutik, die sich verschiedenster Heilmittel pflanzlichen, mineralischen oder tierischen Ursprungs bediente. Der jeweilige Arzt oder Heilmittelkundiger arbeitete zusammen mit dem Beschwörer oder Exorzist.


Ebenfalls aus der Ur III- Zeit, also Ende des 3. Jt. v. Ch., stammt ein Rollsiegel mit der Inschrift: „Oh Edin-mugi, Wesir des Gottes Gir, der den Müttern bei der Geburt beisteht, Ur- lugal- edina, der Arzt, ist dein Diener“. 1877 fand der Franzose E. de Serzec in Lagasch (al- Hiba, Südirak) ein Rollsiegel aus der gleichen Zeit, das als Visitenkarte eines Arztes anzusehen ist. Der Rollsiegelabdruck zeigt rechts und links die Gestalt eines Heilgottes; zur Mitte hin sind medizinische Gerätschaften zu sehen, wie zwei chirurgische Messer (Lanzette und Skalpell), ein Stößel mit einem Mörser zum Zerstampfen und Zerreiben von Drogen sowie Salbentöpfe.

In Assurbanipals (7.Jahrhundert v. Ch.) Bibliothek in Ninive fanden 1845- 1854 die Ausgräber H. Layard und H. Rassam chirurgische Instrumente und 660 weitere Tontafeln, die sich in irgendeiner Form mit medizinischen Fragen beschäftigen. Die Übersetzungsschwierigkeiten schienen anfangs unüberwindbar, genau wie bei den Übersetzungen der ägyptischen Papyri. Medizinische und anatomische Begriffe, Namen von Drogen und Instrumenten, Rezepte oder Krankheitsbeschreibungen waren nicht zu entziffern. Das lag vor allem daran, dass die Medizin der Mesopotamier, genau wie die der Ägypter, durchwoben war mit Götterglauben, Dämonenfurcht, Opfer und Beschwörung.

Die Sumerer glaubten, dass Sünden und Vergehen die Ungnade der Götter und den Sieg der Dämonen herbeiführen würden. In ihren Vorstellungen hatten die Dämonen die Macht, die Menschen mit Krankheiten zu strafen. Mit Opfern und Beschwörungen suchten sie die Gunst und Hilfe der Götter zu erhalten. Diesen Glauben übernahmen später die nachfolgenden Völker und bauten sie sogar noch aus. Im Lauf der Jahrhunderte und im Lauf der geistigen Entwicklung der Menschen erwachte der Wunsch, die Entschlüsse der Götter im Voraus zu ergründen und drohende Gefahren, besonders Krankheiten, zu bannen. So entstand in Babylon die Institution der „Baru“, der Wahrsagepriester, die unter der Notwendigkeit, Schicksalsvoraussagen für die Herrschenden abzugeben, mit großem Erfolg Astronomie und Astrologie entwickelten. Eine noch bekanntere Art der mesopotamischen Krankheitswahrsage ist die Leberschau anhand der Lebern von Opferschafen. Lebermodelle aus Ton oder Bronze, in Felder eingeteilt und mit Inschriften versehen, dienten dem Unterricht von werdenden Baru, so wie anatomische Modelle heute der Ausbildung von Medizinstudenten dienen. Dreißig solcher Modelle fanden Ausgräber in Mari (am Euphrat), dazu Keilschriften mit Texten wie: „Wenn sich ein fleischiger Tumor am Boden des Na (Teil der Leber) befindet, wird es dem Kranken schlechter gehen und er wird sterben“. Auch die Magie hatte eine große Rolle bei der Heilung von Kranken gespielt. So brauchte es Zeit, bis Wissenschaftler die in Ninive aufgefundenen Tontafeln entschlüsseln konnten. Hinzu kommt, dass die Gräber in Mesopotamien keine Mumien bergen, die der Nachwelt Zeugnis ihres Leides und Sterbens geben könnten.



Quellen siehe Teil 3





















 
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„...Ärzte besitzen sie nicht“ – Teil 2
Der Engländer R. C. Thompson, Assistent am Britischen Museum in London, brauchte für die Entzifferung der 660 in Ninive gefundenen Keilschrifttexte, die medizinische Rezepte und Behandlungsrichtlinien enthielten, zwanzig Jahre. Darunter befand sich auch eine Liste mit der Überschrift „Uruanna“, in der mehrere hundert verschiedenster Ingredienzien zusammengestellt sind. Die Übersetzungen fasste er in zwei Büchern zusammen: (1923) „Assyrian medical texts from the originals in the Britisch Museum“ und (1924) „The Assyrian Herbal“. Es gelang ihm darin unzählige Krankheiten und Heilmethoden der Mesopotamier sowie 250 Namen von Pflanzen und anderen, für Heilzwecke verwendeten Stoffe, zu identifizieren. Außer Pflanzen wie Mohn, Mandragora oder Bilsenkraut, die auch bei den Ägypten Anwendung fanden, verwendeten die Mesopotamier Pflanzen, die es in Ägypten nicht gab, z.B. Platane, Johannisbrotbaum, Euphratpappel, Myrobalsam und die krampflösende Tollkirsche (Atropa belladonna - Atropin). Diese trat in den folgenden Jahrtausenden einen niemals unterbrochenen Siegeszug über die ganze Welt an. Die mesopotamischen Namen der Tollkirsche, wie „Raserei verursachend“, „Tod bringend“ zeigen aber auch, das damals schon Heil und Verderb der Pflanze bekannt waren. So wurde sie in Mesopotamien unter anderem bei Blasensteinen, Hustenreiz oder Asthma verordnet. Die Tontafeln verraten auch, dass Priester und Ärzte ihre Drogen- und Giftkenntnisse durch Versuche an Sklaven und Unterworfenen erworben haben. Auch in der Korrespondenz zwischen dem assyrischen König Asarhaddon (680- 669 v. Ch.) und einem seiner Ärzte, Abad- Schum- Usur, wird das deutlich. Der Arzt schreibt an den König: „Wir werden es, wie mein Herr und König es angeordnet hat, jenem Sklaven zu trinken geben. Später mag der Kronprinz es selbst nehmen“.

Thompson fand in den Keilschriften aus Ninive Behandlungsanweisungen, die bis vor kurzer Zeit auch bei uns noch Anwendung fanden. Die „weichen“ Harnsäure- Nierensteine wurden durch alkalische und Harn treibende Mittel „verkleinert und aufgelöst oder ausgespült“. Die Behandlung einer Lungenentzündung bestand in heißen Auflagen von Leinensäckchen, verbunden mit Einwicklung in Tücher, die wiederholt in heißes Wasser oder Fenchelsud getaucht werden mussten - eine Methode, die bis zur Anwendung von Antibiotika nach dem II. Weltkrieg (erfunden 1928 durch Alexander Fleming) auch in Europa verordnet wurde.
Die Verordnung von „Ruhe“ und „Lagern“ war ebenso gebräuchlich, wie der Einlauf mit Hilfe eines röhrenartigen Instruments, der „Flöte“, oder die Behandlung mit Zäpfchen. Den Höhepunkt bildete folgende Beschreibung der Genorrhoe: „Wenn der Urin eines Mannes aussieht wie derjenige eines Esels, dann leidet der Mann an Genorrhoe. Wenn der Urin eines Mannes aussieht wie Bierhefe, dann leidet der Mann an Genorrhoe...“. Die Schmerzhaftigkeit, die Vernarbungen und Abflusshindernisse in der Harnröhre veranlasste die Mesopotamier zur Erfindung eines Instruments, des Katheters, der von da an niemals mehr seine oft lebensrettende Bedeutung verlieren sollte.

Im Lauf der Zeit wurden immer mehr Dokumente aus jener Zeit ausgegraben, die von der hohen Kunst der mesopotamischen Ärzte berichten.
Die große Überraschung, die jeden Zweifel über das Vorhandensein eines Ärztestandes in Mesopotamien ausräumte, brachte 1902 die Entdeckung einer schwarzen Dioritstele mit dem Kodex Hammurabi (1792 – 1750 v. Ch.) in Susa. Darin finden sich mehrere Paragraphen, die den Ärztestand betreffen. So lautet z.B. der § 215: „Wenn ein Arzt einen Mann mit einem bronzenen Instrument von einer schweren Wunde geheilt oder das Fleckchen im Auge eines Mannes mit dem bronzenen Instrument geöffnet und das Auge des Mannes geheilt hat, sind ihm dafür 10 Schekel Silber zu bezahlen...“. Wenn allerdings die Operation den Tod des Mannes verursachte oder den Verlust seines Auges, schnitt man dem Arzt seine Hand ab. Diese Rechtsvorschriften zeigen aber auch, dass die Chirurgie sich doch mit rationalen medizinischen Methoden auseinandersetzte. Außerdem ließ ein genaues Studium der §§ 215 bis 218 des Kodex Hammurabi, das zu Begin des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurde, wenig Zweifel daran, das die Mesopotamier spätestens im 18. Jahrtausend v. Ch. die Operation des grauen Stars gekannt und durchgeführt haben. In Ninive wurden zusammen mit Keilschrifttexten chirurgische Instrumente freigelegt, wie ein zweischneidiges Skalpell, eine Säge, zwei Bronzemesser, ein kleines Obsidianmesser und ein Trepan zur Eröffnung der Schädeldecke, die darauf hinweisen, dass Operationen auch im größeren Stil durchgeführt wurden. Beweise für Schädeltrepanationen, wie sie uns aus der Schilderung der frühen Chirurgie in Südamerika vorliegen, fehlen in ganz Mesopotamien- bis jetzt wurde kein Schädel mit hinein gebohrten Öffnungen gefunden.

Quellen siehe Teil 3
 
„...Ärzte besitzen sie nicht“ – Teil 3
Weitere medizingeschichtlich hochinteressante Quellen erlaubten einen tiefen Einblick in das Leben von Königen und ihren Ärzten. Im Tontafel- Archiv von Hattusa, der Hauptstadt der Hethiter, fanden Forscher Berichte darüber, dass der König der Hethiter, Muwatalli (kämpfte in der Schlacht von Kadesch 1275 v. Ch. gegen Ramses) von einem ägyptischen Arzt namens Pareamakhu wegen einer aus Syrien eingeschleppten Seuche behandelt wurde. Aber erfolgreich war dann der mesopotamische Arzt Rabascha- marduk, den der kassitische König Nasimarutasch von Babylon, zusammen mit einem Beschwörer, nach Hattusa sandte.

Auch weitere Texte der schon oben erwähnte Korrespondenz vom Hofe des Königs Asarhaddon ist aufschlussreich. Asarhaddon litt unter schwerer rheumatischer Erkrankung: „Ich bin verzehrt vom Fieber, das in meinen Gliedern glüht“. Der damals berühmte Arzt Arad- Nana, der selbst nicht im Palast lebte, erschien in Abständen zur Behandlung bei Hofe und sandte in der Zwischenzeit schriftliche Anweisungen. Auch hier finden sich wieder Vorstellungen von Göttern und Dämonen und außerdem der modern anmutende Ratschlag an den König: „...Er, dessen Kopf, Hände und Füße entzündet sind, verdankt diese Krankheit dem Zustand seiner Zähne. Die Zähne meines Herrn müssen entfernt werden. Aus diesem Grund ist sein Inneres entzündet. Die Schmerzen werden sofort verschwinden, sein Zustand wird zufrieden stellend sein...“.

Ein nicht endgültig geklärtes Kapitel der mesopotamischen Medizingeschichte sind die Seuchen. Ob die Mesopotamier die echte Influenza kannten, die uns heutzutage heimsucht (eine solche habe ich gerade heil überstanden), ist nicht bekannt. Auch mit der Übersetzung von Bezeichnungen für Seuchen, wie Pest, Cholera, Malaria oder Tuberkulose haben sich Übersetzer von Keilschrifttafeln schwer getan. Sie konnten, in Zusammenarbeit mit Medizinern, nur aufgrund von beschriebenen Krankheitsbildern darauf schließen, dass es diese Seuchen in Mesopotamien gab. Was die Mesopotamier mit „Mutanu“ beschrieben, erinnert sehr an die auch im Alten Testament (1. Sam. 5,6 oder Ex. 9,9) erwähnte „Pest“ (Blattern) von Asdod, die aber offiziell erst ab 542 n. Ch. in Konstantinopel gesichert ist. Fest steht, dass es schon damals Seuchen gab, die weite Schichten der Bevölkerung dahinrafften - davon berichten unzählige Keilschrifttafeln. Auch kein Geringerer als der Welteroberer Alexander der Große wurde im Juni 323 v. Ch. in Babylon wahrscheinlich Opfer der Malaria. Fieber mit Schüttelfrost, Schmerzen im Oberbauch als Folge der Milzschwellung, die geistige Verwirrtheit, während der er sich angeblich in den Euphrat stürzen wollte und nach einem Dolch begehrte, um sich selbst zu töten, sind für Fachleute eindeutige Anzeichen für diese Erkrankung. Mücken fanden in den Sümpfen Mesopotamiens beste Brutbedingungen. Oder die Beschreibung einer Krankheit, die in jedem Lehrbuch für Medizinstudenten zu finden ist und wohl eindeutig die Tuberkulose meint: „Der Kranke hustet ständig, der Auswurf ist dick und enthält manchmal Blut. Sein Atem ist wie eine Flöte. Seine Hand ist kalt aber seine Füße sind heiß. Er schwitzt leicht und sein Herz ist gestört...“.

Den Menschen plagten anscheinend immer schon Krankheiten und Gebrechen. So verwundert es nicht, dass in allen frühen Kulturen, ob in Ägypten, Indien, China, Südamerika aber auch in Mesopotamien, versucht wurde, diesen mit den verschiedensten Mitteln und Methoden beizukommen. Viele dieser Versuche stellen sich uns heute zumindest unbergreiflich dar, wie dieser: „Um einer Frau, die noch nicht geboren hat, zur Empfängnis zu verhelfen: Du häutest eine ‚Röhricht- Maus’, schneidest sie auf und füllst sie mit ‚muru’(einer bitteren Pflanze), du trocknest das Ganze im Schatten, zermalmst und zerreibst es und vermischst es mit Schafsfett. Du gibst es in die Vagina und sie wird schwanger werden“. Die Verwendung des Nagetiers in diesem Zusammenhang war durch dessen bekannte Fruchtbarkeit motiviert.

Jahrtausende später suchen heute auch wir nach neuen, immer wirksameren Heilmethoden. Was wohl in 4000 Jahren unsere Nachkommen von unseren heute hochmodernen Diagnose- und Heilmethoden halten werden?

Quellen:
B. Hrouda, Der Alte Orient, Bertelsmann, München 2003
M. Jursa, Die Babylonier, C.H. Beck Wissen, München 2004
J. Thorwald, Macht und Geheimnis der frühen Ärzte, Knaur, München 1974 (1962)
 
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