Musik-Sequenzen

Eumolp

Aktives Mitglied
Ich stelle mir gelegentlich die Frage, wie sich musikalische Themen entwickeln. Dazu kommt mir vor allem eine Sequenz in den Sinn: Tonika Dur-Akkord - Dominant Moll-Parallele. Nehmen wir mal C-Dur, dann entspricht das: C-Dur - e-Moll. Im Bass entspricht das einen halben Ton abwärts, also von C nach H. (Man merkt, dass ich darin beileibe kein Fachmann bin, sondern einfach Schulweisheiten aufgreife.)

Diese Sequenz hat eine sehr starke psychische Wirkung, so dass eine Armada von Pop-Songs darauf beruht, und zwar genau dann, wenn sie ein "romantisches" / "intensives" Gefühl rüberbringen will. Beispiele dieser Art wären etwa: Bee Gees, I started a Joke, oder: Bobby Vinton, Mr. Lonely, und wieder Bobby Vinton, Blue Velvet oder Harry Nilsson, Without you, oder ganz extrem: One Republic, Secrets, der ganze Titel beruht darauf, und viele (hundert-)tausende,.

Ich hoffe, dass ihr überhaupt versteht, worum es mir geht. (Vielleicht fehlt mir da die Fachsprache?)

Was hat das mit Geschichte zu tun?

Wenn ich klassische Musik höre, dann kenne ich diese Sequenz nicht. Eine Ahnung finde ich in Pachelbel, Kanon in D, da wird die Bass-Sequenz (in C): C, H, A, E vorgestellt, ähnlich in Bach, Air. Sonst kenne ich diese Sequenz nicht.

Das wären also folgende Fragen, die von folgenden Voraussetzungen ausgehen:
- Die "C-Dur/E-Moll"-Sequenz ist im heutigen Pop-Schlager-/Genre Dauerbrenner, wenn's gemütlich werden soll
- Die "C-Dur/E-Moll"-Sequenz wurde zuvor kaum eingesetzt (obwohl sie eine sehr rudimentäre Sequenz ist!)

1. Stimmt das?

2. Und wenn ja: wann drang diese Art zu komponieren, in die Musik ein? Mit der Pop-Musik des 20 Jh, oder vorher?

Und noch 3.:
3. Wenn es stimmt, dass die "klassische Musik" diese Sequenz nicht kennt, sie aber sehr einfach ist (ähnlich der Sequenz C-Dur/G-Dur, die etwa bei 1 Million Volksliedern vorkommt): warum hat man sie nicht verwendet? Zu kitschig? (Gibt es überhaupt Aussagen von Komponisten über Stilmittel ihrer Kompositionen?) Ja, das könnte ich verstehen: man hat diese Sequenz als ein allzu kitschiges Stilmittel verpönt.
 
Ich stelle mir gelegentlich die Frage, wie sich musikalische Themen entwickeln. Dazu kommt mir vor allem eine Sequenz in den Sinn: Tonika Dur-Akkord - Dominant Moll-Parallele. Nehmen wir mal C-Dur, dann entspricht das: C-Dur - e-Moll. Im Bass entspricht das einen halben Ton abwärts, also von C nach H. (Man merkt, dass ich darin beileibe kein Fachmann bin, sondern einfach Schulweisheiten aufgreife.)
H ist ein schwacher Bass für einen e-moll-Akkord, normalerweise würde man den Grundton nehmen. So ist es bei "I started a Joke", so fängt z. B. auch die russische Nationalhymne an:
Hymne der Russischen Föderation – Wikipedia

Eine Ahnung finde ich in Pachelbel, Kanon in D, da wird die Bass-Sequenz (in C): C, H, A, E vorgestellt, ähnlich in Bach, Air. Sonst kenne ich diese Sequenz nicht.
Nein, da kommt nach der Tonika die Dominante, nicht die Dominantparallele.
 
Wenn ich klassische Musik höre, dann kenne ich diese Sequenz nicht.
Das könnte daran liegen, dass du zu wenig davon kennst?
Die direkte Folge der Dreiklänge e-Moll => C-Dur findet sich mit voller orchestraler Pracht und Wucht an einer sehr prominenten Stelle in Wagners Ring des Nibelungen, am Anfang des dritten Aufzugs (Akt) vom Siegfried:
Bildschirm­foto 2023-04-03 um 20.35.40.png


Nebenbei: diese einfache Akkordfolge ist keine "Sequenz".

Ansonsten findet sich (bezogen auf Dur) die Folge III-I gar nicht mal so selten.
 
Eine Ahnung finde ich in Pachelbel, Kanon in D, da wird die Bass-Sequenz (in C): C, H, A, E vorgestellt,
Nein.
Der Bass ist C-G-a-e-F-C-F-G

Die drei absteigenden Quarten (cg,ae,fc) sind eine Sequenz, harmonisiert sind sie I-V-VI-III-IV-I (also T-D-Tp-Dp-S-T-S-D) gefolgt von der kadenzierenden Rückleitung zum Sequenzanfang (IV-V) - und das wiederholt sich dann.
 
Gefragt war eher nach der Folge I-III.
Das taucht statt als I-III bezogen auf Dur (und zwar auf I) als Durchgangsharmonie -ohne dass es sonderlich auffällt - oft genug auf (Schubert, Chopin, Schumann, Rachmaninov) --- ich verstehe aber nicht, was genau @Eumolp so erstaunt. Wie gesagt, eine Sequenz ist es nicht. Sollte eine Kadenzformel oder ein Trugschluss gemeint sein, so gibt es diese auch.
 
Das taucht statt als I-III bezogen auf Dur (und zwar auf I) als Durchgangsharmonie -ohne dass es sonderlich auffällt - oft genug auf (Schubert, Chopin, Schumann, Rachmaninov) --- ich verstehe aber nicht, was genau @Eumolp so erstaunt. Wie gesagt, eine Sequenz ist es nicht. Sollte eine Kadenzformel oder ein Trugschluss gemeint sein, so gibt es diese auch.
Erst einmal vielen Dank an @Sepiola und dich, der Kanon bei Pachelbel überrascht mich, ist damit irgendwie "trivialer" als ich dachte. Aber ich kenne die Fachbegriffe nicht, der Ausdruck "Sequenz" stammt von mir und sollte nur andeuten "x gefolgt von y". Muss nochmal nachlesen, was genau diese Begriffe bedeuten.

Einigen wir uns einfach auf den Begriff "Abfolge": T - Dp. Das kann dann mit S - D weitergehen oder Tp - D oder wie auch immer (und mag dann eine solche abgeschlossene Sequenz ergeben).

Mir geht es um die Wirkung auf den Hörer: wenn eine solche Abfolge irgendwo versteckt auftaucht, dann hat das nichts mit dem zu tun, was die heutigen Schlager daraus machen. Hör dir einfach mal One Republic, Secrets an: der ganze Song beruht auf dieser "Abfolge", ohne sie wäre daraus mit Sicherheit kein Hit geworden (man muss sich nur vorstellen, wie es klingt, würde Dp durch D ersetzt werden: da wäre Hänschen klein noch spannender!). In der klassischen Musik, auch wenn's hier und da vorkommen mag, gibt es aber eine solche "Effekthascherei" mit dieser Abfolge nicht, noch nicht mal bei Pachelbel, wie ich dachte. (Vielleicht, das ist mir gerade eingefallen, beim Pilgerchor im Tannhäuser, der berühmte Refrain "Beglückt darf nun". Aber vielleicht interpretiere ich das hier nur rein.)
 
der Kanon bei Pachelbel überrascht mich, ist damit irgendwie "trivialer" als ich dachte.
der "triviale" barock-"Kanon" von Pachelbl hat immerhin wie Bachs Praeludium Nr.1 WTK I, die barocke Septakkordkette, das anonyme Dresdner Ave Maria und die spanische Kadenz eine Akkordprogression etabliert, die etliche Generationen lang bis in die Spätromantik/Frühmoderne wirksam war:
- Pachelbl-Folge: bei Beethoven (op.49 Finale, op.109 Kopfsatz) Fanny Mendelssohn (neue Liebe) Chopin (Etüde op.25 Nr.9)
- Bach Praeludium: Bach selber (!!!) Praeludium Cellosuite Nr.1 Chopin (Etude op.10,1 Prelude op.28,1) Debussy (Dr. Gradus ad Parnassum)
- Septakkordkette: Bach Air, Heinichen Messe, Mozart Iupitersinfonie, Chopin Etude op.10,1*)
- Dresdner Ave Maria: Mendelssohn (Reformationssinfonie) Wagner (Parsifal)
- "spanische Kadenz" (Moll: I-VII-VI-#V): Wagner (Siegfried 1. Akt) de Falla (Fantasia baetica) Gulda ("für Paul")
(die Anzahl der Verwendungen dieser 5 typischen "Turnarounds" ist Legion seit ihrer nicht immer ermittelbaren ersten Etablierung, sie ergeben sich übrigens ausgenommen die span.Kadenz aus den Stimmführungsregeln des vierstimmigen Satzes - ich habe nur sehr prominente Beispiele aufgeführt)

Aber um einen kleinen Bezug zur Geschichte herzustellen:
schematische Akkordprogressionen und schematisierte Bassverläufe, die man wiederholen kann, wobei Melodiestimmen variieren, waren in der Barockzeit üblich: solche "Patterns" ermöglichten das Ensemblespiel in probearmen (!! vgl. Scheibe) Zeiten. Die Pachelbl-Akkorde sowie ihre Basslinie sind ebenso ein Turnaround wie die barocke Septakkordkette (letztere liegt als harmonisches Gerüst schätzungsweise mindestens 50% der Barockmusik zu Grunde!) - die Praxis, eine Strophenform harmonisch mit Turnarounds zu unterlegen, wie das in mehr als 80% aller Rock/Pop Musik der Fall ist, wie das prinzipiell im Blues der Fall ist, ist quasi ein formaler und praktischer Rückgriff auf die barocke Praxis. (das ist auch kein Wunder bei Musik, die viel Improvisationsvermögen bei den Ausübenden voraussetzen muss: feste wiederholte Muster (Patterns) ermöglichen das, sie ermöglichen auch kompositorische Produktion in kürzerer Zeit (bei dichter Auftragslage) : Pattern 1 - Kadenz - Pattern 2 - Pattern 2 - Kadenz wäre schon die Basis einer kompletten Komposition)

Allerdings gibt es einen Aspekt, den man nicht übersehen darf und der das alles irgendwie heikel in der Betrachtung macht: es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob und welche Akkordprogression man als Allgemeingut betrachtet und welche nicht... mit anderen Worten ist dem Beethoven in seinem den romantischen Klavierstil vorwegnehmenden op.109 nichts besseres eingefallen, als bei Pachelbl abzukupfern, könnte man fragen (ich finde: nein, denn diese Folge war 1819/20 schon Allgemeingut) - aber in Moll I-III-IV#3-VI ist zwar ein Turnaround, aber für immer mit "house of the raising sun" verknüpft.

Einigen wir uns einfach auf den Begriff "Abfolge": T - Dp.
ok, die gab/gibt es öfter, als du meinst - aber sie fällt selten sonderlich auf: das hat seinen Grund darin, dass in der Musik nach Bach die modulierende Harmonik quasi freier, variabler, weniger an abschnittsweise harmonische Muster gebunden und schneller wechselhaft wurde (ein Beispiel: Brahms g-Moll Rhapsodie streift in wenigen Takten fast alle Tonarten) und in Sachen Chromatik/Enharmonik/freierDissonanz immer farbiger/krasser wurde, sodass die harmlose Folge I-III da überhaupt nicht auffällt.

Wir haben nach allem vorangegangenen also bzgl. Wirkung und Einordnung drei Orientierungsprobleme:
1. ist das Detail solitär (einzigartig) und bezieht es daraus seine Wirkung? (einzigartig wie "Tristanakkord")
2. ist das Detail nicht einzigartig, sondern Bestandteil eines allgemeinen Patterns?
3. ist die vermeintliche Wirkung des Details (wie es auf dich wirkt) womöglich nur ein subjektiver Eindruck?

_________________
...der Vollständigkeit halber mach´ ich andeutungsweise noch ein weiteres musikhistorisches Fass auf: vor- und frühbarocke Schlussformeln sowie im weitesten Sinn modale Harmonik:
Von starker emotionaler Wirkung auf Grund der harmonischen Entwicklung ist die Schlussformel von Wagners Oper "die Walküre": da stehen die zwei Dreiklänge d-moll und E-Dur nebeneinander. ein Takt lang d-f-a, dann verlängert (Fermate) ein Takt e-#g-h - und damit jeder begreift, dass das ein Abschluss ist, wird das ein paarmal wiederholt. Und tatsächlich: es prägt sich als schlüssige Formel, als Kadenzersatz, ein!
...ein Blick in die in Vergessenheit, als der Praxis verschwundenen vor/frühbarocken Formeln lehrt allerdings, dass es genau das schon mal gab... :) - - I-III ist ebenfalls eine Variante frühbarocker Schlussformeln (der Musikwissenschaftler Prof. W. Breit hat das aufgedröselt)


________
*) diese Etüde bezieht sich im Thema variierend auf Bachs thematische Akkordik, in ihrem modulierenden "Durchführungsabschnitt" verwendet sie mit neobarocker Klangwirkung die dissonante Septakkordkette
 
...ein Blick in die in Vergessenheit, als der Praxis verschwundenen vor/frühbarocken Formeln lehrt allerdings, dass es genau das schon mal gab... :) - - I-III ist ebenfalls eine Variante frühbarocker Schlussformeln (der Musikwissenschaftler Prof. W. Breit hat das aufgedröselt)
Ich muss zugeben, dass ich deinen Beitrag noch ein paar Mal durchlesen muss, bevor ich ihn verstehe, habe aber dies oben im Zitat mitgenommen.

Zu meinem Beitrag eine kurze Ergänzung:
Neben der T-Dp - Abfolge, die ich als "stark schmalzig" bezeichnen würde, gibt es eine T-Tp - Abfolge, die ebenso rudimentär ist, aber schwächer schmalzig.
Ich habe ein bisschen in der wikipedia gestöbert und gefunden, dass man auch Kadenz für die Abfolge von Akkorden sagen kann, was mich überrascht, weil ich unter einer Kadenz immer einen Abschluss (cadere: fallen) verstanden habe. Sehr erfreut war ich von diesem Artikel: Gegenklang – Wikipedia , in dem genau meine 2 Kandidaten erscheinen (und noch mehr). Und zwar ist der Dp = Tg (Tonikagegenklang) und Tp = Sg (Subdominantgegenklang), womit man schöne Begriffe hat.

Somit lauten meine Definitionen:

1. stark schmalzig ist die Kadenz T - Tg
Muster: One Republic, Secrets
2. schwach schmalzig ist die Kadenz T - Sg
Muster: Righteous Brothers, Unchained Melody

Es gibt Schlager, die beide Formen vereinigen, z.B. Nilsson, Without you oder Drupi, Sereno è - und die natürlich zu Superhits wurden, kein Wunder, hier hat man alle Kadenzen gezogen.

Möglicherweise sind diese Kadenzen schon im Barock aufgetaucht - so simpel, wie sie sind, wäre es merkwürdig, wenn nicht. Wir hatten ja @Sepiola 's Vom Himmel hoch, aber doch in einer sehr abgespeckten, kaum fühlbaren Art, jedenfalls geht das mir so. Richtig aufgebauscht wurden diese Kadenzfolgen erst in der Schlagermusik des 20. Jh.
 
...teils ungenaues Gedächtnis, teils die penetrant ungebildete Autokorrektur am Mac... Es muss statt
anonyme Dresdner Ave Maria
natürlich Dresdner Amen heißen, und der Name
Musikwissenschaftler Prof. W. Breit
ist Breig

_____________

Die Praxis der Turnarounds und das Blues-Schema haben im 20. Jh. teilweise die so genannte Kadenz (Tonika-Subdominante-Dominante-Tonika) ergänzt und dabei die Schlußwirkung D7-T außer Kraft gesetzt, man könnte auch sagen ersetzt*). Eigenartig an den massiv gehäuft verwendeten halb- oder tanztaktigen Turnarounds ist, dass sie relativ beliebig stoppen können, sowohl auf I als auch auf VI - z.B. die schmalzige Titanic Filmmusik repetiert VI-V-IV-V sehr oft, schließt mal mit I-V-I (herkömmliche Kadenz) , mal mit V-VI (herkömmlicher Trugschluss). Wir finden variable Schlußwendungen bei verschiedenen Allgemeingut gewordenen Turnarounds. Das Blues-Schema bringt zwei "Neuerungen": Septimakkorde werden nicht mehr als Dissonanzen aufgefasst, verlieren also ihre Strebetendenz zu einer Auflösung (ganz speziell in der Folge V7-IVb7-I(7) (also D7-Sb7-T)) und damit verliert der Dominantseptakkord seine ursprüngliche Funktion - dennoch wirken (!) diese Folgen klanglich als Schlussformeln.

Ich will keinesfalls behaupten, dass beides sich eindeutig aus der "klassisch-romantischen" "Kunstmusik" herleiten würde, das ist nicht der Fall. Die frühen Bluesmusiker kannten überwiegend weder Chopin noch Liszt, weder Wagner noch Debussy - und die wenigen, die dergleichen kannten, hatten in ihrer Musik damit nichts am Hut.

Historisch interessant ist der Umstand, dass das Aufheben der traditionellen/herkömmlichen Kadenzwirkung, gleichgültig ob als Periodenmuster die einfache T-S-D-T Kadenz**) oder die erweiterte Kadenz mit Neapolitaner***) Usus sind, im 19.Jh. einige Komponisten dazu brachte, gelegentlich stark abweichende Schlüsse und völlig andersartige Schlussvarianten zu kreieren (vielleicht, weil sie der herkömmlichen Kadenz überdrüssig waren, oder weil sie eine stärkere Wirkung erzielen wollten)
a) ungewöhnliche "abweichende" Schlüsse:
Chopin Ballade Nr.2 F-Dur endet in a-Moll
Chopin Prelude op.28,13 F-Dur endet mit F7, da ist die leiterfremde tiefalterierte 7.Stufe wie eine "Blue note"
Schumann "Kind im einschlummern" e-Moll/E-Dur endet mit a-Moll
b) keine Kadenz mehr, sondern ganz andere - dennoch wirksam abschließende! - Schlusswendungen:
Chopin Mazurka op.30Nr.4 acht chromatisch absteigende und damit funktionslose Dominantseptakkorde (von Fis7 bis H7) danach 6 Takte s6 und 1 Takt Moll-Tonika (also ein extrem in die Länge gezogener s-t Plagalschluss nach der Zerstörung der Dominantwirkung!)
Liszt Sonate: a-Moll => F-Dur => H-Dur als Schluss"Kadenz" - völlig gaga, aber von ungeheurer Wirkung :)
Liszt Mephistowalzer b-Moll => Zigeunertonleiter => A-Dur - krass
Wagner Walküre****) d-Moll => E-Dur
Debussy "Clair de Lune" (Suite bergamesque) bietet eine einzigartige Kadenz, die verblüffend zielstrebig und wohlklingend ist: I-III-bIII(+6)-I, also in C-Dur: C-Dur - e-Moll - Es-Dur(+c) - C-Dur

Freilich liegt da ein dialektisches Verhältnis vor: ohne die herkömmliche Kadenz könnten die abweichenden Schlussformeln nicht ihre Wirkung haben, d.h. das bedingt sich gegenseitig.

Frage: hat wer Interesse an Notenbeispielen, um die erwähnten "andersartigen" Schlussformeln auszuprobieren? wenn ja, füge ich die ein, wenn nein (das ist kein Harmonielehreforum) ist auch ok, man findet sie kostenlos online bei imslp
________
*) artifizieller ist das im Jazz bzw. der Jazzharmonik, aber sorry die zu beschreiben würde hier zu weit wegführen (und wäre auch recht kompliziert)
**) Musterbeispiele wären Mozart Hauptthema Sonate C-Dur KV "facile" KV 545 oder Beethoven Sonate op.57 "appassionata" Thema Variationssatz
***) Musterbeispiel Beethoven Sonate op.27,2 "Mondschein" 1.Satz Intro
****) hie müsste man weit ausholen, denn diese ursprüngliche vorbarocke Formel wird nicht sakral kirchentonartlich hergeleitet, sondern entwickelt sich motivisch aus dem tristanesken "Todverkündungs-Motiv", welches a la Tristanakkord harmonisiert ist und das Terrain der herkömmlichen romantischen Harmonik verlassen hat
 
1. stark schmalzig ist die Kadenz T - Tg
Muster: One Republic, Secrets
das hat als durchlaufendes viertaktiges Pattern/Turnaround eine Folge von vier Akkorden, wobei diese 1. zunächst reduziert sind (dem dritten Akkord fehlt die Quinte) und 2. ihre Basslinie etwas unbeholfen wirkt. Nach C-Dur transponiert
1. c-e-g also I oder T
im Bass c
2. h-e-g also III oder Dp/Tg
im Bass h
3. a-c-a meint VI oder Tp (die fehlende Quinte e wird später ergänzt)
im Bass a
4. f-c-a also IV oder S
im Bass f

@Eumolp verzeih´ mir die zunächst schlechte Nachricht: rein akkordisch gespielt, also nur als Harmonien, hat diese taktweise organisierte relativ langsame Abfolge eigentlich gar keine Wirkung - bitte schimpf mich nun nicht, ich kann nichts dafür, dass vier furchtbar langsame Allerweltsdreiklänge kein schmalzig-hochemotionaler Gänsehautgarant sind ;) ---- aber Kopf hoch, nicht weinen: die von dir angemerkte Wirkung gibt es, doch sie entsteht hier nicht durch die Harmoniefolge :)
Sie entsteht primär aus der meditativ-repetiven Klangbewegung und deren Ingredenzien:
- jeder Takt erhält eine (Allerwelts)Figur: der Akkord c-e-g wird zweimal in die Abfolge c-e-g-e-g-e-c-e zerlegt bzw. Bewegung versetzt, danach der Akkord h-e-g in h-e-g-e-g-e-h-e
-- dadurch entsteht eine indirekte Binnenstimme, die parallel zur c-h-a-f-Basslinie zunächst auf den Wechsel von c zu h aufmerksam macht: c---cc---c/h---hh---h/a usw und dadurch (durch das aufmerksam machen) den Mollcharakter des 2.Takts hervorhebt (!)
--- die ruhige Klangbewegung (ruhige gleichmäßige Dreiklangbrechungen) mit absteigendem Bass von I bis IV ist ein weltberühmtes Klangsignal: ja genau, dasselbe macht das prototypische Intro von Beethovens Mondscheinsonate (erste "hochemotionale" Ingredienz)
---- die Klangbewegung in ihrer akkordischen Lage gerät im 3.Takt in die Gefahr, blöde zu werden (sie hat da nur zwei verschiedene Töne: A-c-a-c-a-c-A-c würde auf Dauer nerven) weshalb sie abgewandelt wird: als 2. hochemotionale Ingredienz wird Bachs Praeludium der 1. Cellosuite zitiert :) die war 2009/10 schon längst als Filmmusik populär, ebenfalls mit elegischer Stimmung. Also klingen Takt 3 und 4 nach einem ersten reduzierten Durchlauf nun wie Bachs Cellolinie: a-c-e-d-e-c-a-c im 3.Takt und f-c-a-g-a-c-f-c (unterstrichen markiert das Bach Original) und damit das auch jeder merkt, wird das im Instrumentalintro vom Cello (!!) gespielt :):D

Diese bewußt eingesetzten Mittel (assoziatives und wörtliches Zitat) sollen die von @Eumolp wahrgenommene Wirkung erzielen (tun sie auch) und dabei sollen sie zugleich mittels der Wirkung von einem erstaunlichen Umstand ablenken: das Pattern I-III-VI-IV ist nichts anderes als das zigtausendfach verwendete "four chords" Muster, also I-V-VI-IV - das liegt daran, dass III als Substitutionsakkord von V funktioniert (e-g-h oder h-e-g kann problemlos die Funktion eines Vorhalts von g-h-d haben (Sextvorhalt))
=> das ist doch recht geschickt konstruiert/arrangiert

I-III-VI kann allerdings auch ganz anders wirken, rein akkordisch und ohne meditative Akkordbrechungen/Klangbewegungen:
Chopins Nocturne op.37 Nr.1 g-Moll hat einen stilisierten Choral als Mittelteil. Das zweite Thema dieses Chorals setzt explizit die Folge I-III-VI ein, allerdings mit einer anderen Basslinie (sorry: diese klingt sinnvoller)
ich schreibe mal farbig die Töne nach C-Dur transponiert auf:
Bass Akkord Stufe
C / g-c-e = I
G / e-h-e = III
A / a-c-e = VI

H / fis-h-dis
rot sind Bass und Akkorde Chopin/Secrets

@Eumolp dieses Nocturne ist nur eines von vielen Beispielen mit I-III
 
@Eumolp dieses Nocturne ist nur eines von vielen Beispielen mit I-III
ich muss noch was nachträglich anmerken: ich habe dieses Nocturne ausgewählt, weil da die diskutierte Akkordfolge völlig unkompliziert (ohne allerlei Figurationen, ohne Vorhalte etc) nachsehbar ist. Allerdings ist dieser Choral in Es-Dur notiert, nicht in C-Dur.
Andere Beispiele sind aufwändiger, z.B. Liszts "Transkription" (die eigentlich keine ist) des feierlichen Marsch aus Parsifal - hier findet sich ein Bassostinato c-g-a-e, um dessen Töne sich die anderen Stimmen nicht immer kümmern... das Ostinato stammt ursprünglich aus einem Klavierstück von Liszt (Genfer Glocken), es verwendet die ersten 4 Bassschritte des Pachelbl-Musters, Wagner verwendete es dann im Parsifal, Liszt modifiziert dann die Parsifalvorlage ein wenig - - auf jeden Fall tauchen da auch die ersten 4 Pachelbl Akkorde I-V-VI-III auf, aber auch völlig andere; und zwischendurch mit herber Wirkung auch direkt I-III und umgedreht III-I. Ansonsten wird man, kompliziert zu lesen, bei Brahms, Tschaikowski, Mussorgski usw fündig.
 
="dekumatland, post: 871546, member: 18918"]
@Eumolp verzeih´ mir die zunächst schlechte Nachricht: rein akkordisch gespielt, also nur als Harmonien, hat diese taktweise organisierte relativ langsame Abfolge eigentlich gar keine Wirkung - bitte schimpf mich nun nicht, ich kann nichts dafür, dass vier furchtbar langsame Allerweltsdreiklänge kein schmalzig-hochemotionaler Gänsehautgarant sind ;) ---- aber Kopf hoch, nicht weinen: die von dir angemerkte Wirkung gibt es, doch sie entsteht hier nicht durch die Harmoniefolge :)
Nein, nein, das wäre ganz sicher nicht das, was mir vorschwebt, sonst würde es ja reichen, die 4 Akkorde zu spielen, und jeder wäre emotional aufgewühlt. Es ist schon klar, dass da in der Melodie etwas passieren muss, um einen Effekt mit dieser (oder ähnlicher) Akkordfolge zu erzielen. Die Akkordfolge ist lediglich der "Grundbass", auf dem ein solcher Effekt überhaupt entstehen kann. Aber sie ist notwendig. Ich habe ja schon geschrieben: würde man im "Secrets"-Song die Dp durch eine einfache D ersetzen, dann wäre auch die schönste Melodie, die darüber schwebt, langweilig.

Mehr von deinem Beitrag kann ich im Moment nicht kommentieren, da muss ich erstmal länger nachdenken und nachhorchen. Es ist aber sehr interessant.

Zwischenzeitlich erkläre mir doch bitte nochmal den Begriff der Kadenz, der hier zentral ist, der mir aber irgendwie schwammig vorkommt. Du sprichst von einem Turnaround bzw. Pattern, ich verstehe das als eine Folge von Akkorden mit einem Ende, das nicht unbedingt einen klassischen Abschluss haben muss, also in I (Tonika) enden muss, sondern irgendwie anders, in einem Dominant-Septakkord o.ä. Was aber ist dann eine Kadenz - ist sie das, was ich in meinem Beitrag so bezeichne oder doch etwas anderes? Mir ist das nicht ganz klar, ich möchte schließlich hier auch was lernen^^.

Um nochmal ganz kurz nochmal auf die geschichtliche Seite zu kommen: irgendwo ist in der musikalischen Entwicklung des 20. Jh ein Sprung. Ich habe dazu als Beispiel meine "schmalzigen Kadenzen" gewählt, weil sie mir eben aufgefallen sind, was ich zuvor nicht kannte. Aber du meinst: dieses Beispiel ist gar nicht wirklich ein Sprung in der Entwicklung? Oder wie muss ich das verstehen?
 
Zwischenzeitlich erkläre mir doch bitte nochmal den Begriff der Kadenz, der hier zentral ist, der mir aber irgendwie schwammig vorkommt.
Ja, er ist irgendwie "schwammig" oder besser gesagt nicht so eindeutig präzise formuliert wie etwa eine Definition von "positiven natürlichen Zahlen".

Beim nachschauen bzgl. musikhistorischer Angelegenheiten und bzgl. Begriffen rund um Harmonik würde ich mich nicht auf die deutschsprachige Wikipedia verlassen, wenn es dir möglich ist, würde ein Blick in MGG, Brockhaus/Riemann oder in irgendeine Harmonielehre (de la Motte) zuverlässigere Ergebnisse bringen.

So einfach wie möglich:
- zunächst ist seit der Barockmusik im eurozentristischen Abendland üblich geworden a) sich für einen Grundton und seine zugehörige Tonleiter zu entscheiden, was aus mancherlei gewachsenen Traditionen b) zu einer "harmonischen Festigung" des Grundtons als Regel führte: den Abschluss / die Schlussformel in den Dreiklang des Grundtons, auch authentische Kadenz genannt. Das ist nichts anderes als die Abfolge Dominantseptakkord => Tonikadreiklang
- darüber hinaus hat sich als Gerüst, als grundlegende Strukturierung die einerseits die vierteilige (oft viertaktige) Periode etabliert, beginnend mit dem Dreiklang des Grundtons "Tonika" und endend mit D7-T - das sind jetzt erst drei von vier Teilen, komplett wird das als D-S-D-T => diese vierteilige Harmonikstruktur als hinterblendetes Gerüst wurde seit Rameau derart üblich, dass sie die europäische Musik bis heute prägte. Das T-S-D-T Gerüst wird auch als Kadenz bezeichnet, als einfachste Grundstruktur der "Funktionsharmonik".
- - es macht keinen Sinn zu fragen, warum sich das etablierte und ob sich das "logisch" herleiten lässt, denn das ist wie eine Regel eines Spiels: es ist sinnlos zu fragen, warum im Schach der Läufer diagonal zieht. Um gut Schach zu spielen, muss man die (im Wesen willkürlich gesetzten) Regeln akzeptieren. Dasselbe gilt für die Musik, die in ihrem Tonmaterial, in ihren Auswahlkriterien desselben (was klingt gut zusammen, was nicht) manche Asymmetrie und manches "unlogische", willkürliche enthält.

Das Kadenzgerüst als Grundlage hat sich derart eingeprägt, dass Abweichungen davon als Besonderheiten auffallen - das betrifft deine @Eumolp Wahrnehmung des 2.Takts von One Republic, Secrets. Ohne die implizite Prägung bzw Hörgewohnheit wäre dir das nicht aufgefallen.

Die wiederholenden Perioden, seien sie akkordisch/harmonisch (Kadenzschemata, Blues Schema, Turnarounds) oder linear (Bass Ostinati) ändern nichts an der impliziten Kadenzharmonik, auch dann nicht, wenn sie abweichend nicht in der Tonika enden: denn gehört werden sie nun mal als "harmonisch richtig" zusammengehörende Folgen (sind sie auch) und sie enden entweder auf der Tonika (z.B. "let it be") oder sie schließen wahrnehmbar auf einem Substitutionsklang, z.B. dem Trugschluss (Mollparallele)

Aber du meinst: dieses Beispiel ist gar nicht wirklich ein Sprung in der Entwicklung?
Nein, es ist keins. Es ist ein ganz normaler tonaler harmonischer Vorgang.

Etwas anderes ist die Auflösung der tonalen Harmonik in der Frühmoderne, z.B. die freie Atonalität des Komponisten Alexander Skrjabin oder die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg (da gibt es kein gewohntes Dur, Moll, keine gewohnte Kadenzierung mehr)
 
Zurück
Oben