NS-Pädagogik

hatl

Premiummitglied
Ich wusste jetzt nicht wo ich diesen Beitrag einsortieren sollte und hab deshalb ein Thema eröffnet.

Also ich bin über Johanna Haarer gestolpert und hab mich mit einer Pädagogin unterhalten, ob sie die Haarer kenne. Um Gottes Willen, die ist bekannt!

Diese Dame, eine Lungenfachärztin, schreibt 1934 einen Ratgeber: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“.
Der wird durch die Förderung des Regimes ein Bestseller.
„Bis Kriegsende erreichte es, durch NS-Propaganda beworben, eine Auflage von 690.000 Stück. Aber auch nach dem Krieg wurde es– vom gröbsten Nazijargon bereinigt– bis 1987 noch einmal von fast genauso vielen Deutschen gekauft: am Ende insgesamt 1,2 Millionen Mal.“

Anne Kratzer:
https://www.spektrum.de/news/paedagogik-die-folgen-der-ns-erziehung/1555862

Ist die Höhe der Auflage schon beträchtlich, so ist die Wirkung dieses wirklich gruseligen Buches umso höher, als es Grundlage von Schulungen oder Unterweisungen von werdenden Müttern wurde, und dessen Einfluss sich bis weit in die Nachkriegszeit erstreckte.

Das Buch, das immerhin 280 Seiten umfasst, findet sich in einer Ausgabe von 1940 hier:
https://archive.org/details/JohannaHaarerDieDeutscheMutterUndIhrErstesKind1940/page/n3/mode/1up

Eingebettet im Rahmen der organisatorischen Aspekte der „Aufzucht“ beinhaltet es eine Anleitung zur Kindesmisshandlung. (z.B. Seite 168: „Von vornherein mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlass mit dem Kinde abzugeben“)
Die Befolgung solcher Ratschläge, wie etwa auch man müsse den Säugling isolieren und mit Zuwendung sparen,
sind lt. Kratzer nicht nur traumatisierend, sondern es spricht auch viel dafür, dass sie Wirkung über mehr als eine Generation entfalten.
Gleichzeitig führt die erzeugte kindliche Bindungsstörung zu einer leichteren Manipulierbarkeit im späteren Leben.

Die Gruselpädagogin Haarer wird wohl derlei Bedenken nicht gehabt haben, denn sie verortet ja die „deutsche Frau“ an der Geburtsfront des Rassenkampfes. (Das Vorwort ist da wirklich lesenswert)

Was ein totalitäres Regime bedeutet mag man vielleicht leichter ermessen, wenn man sieht, dass schon der Säugling in ein solches eingesogen wird.
 
Dank an @hatl für das Thema!

Vor einigen Jahren lief nmE dazu eine sehr interessante Sendung mit ihrer Tochter, "Lebenslinien". Die Tochter berichtete über die Kindheit in der Familie Haarer.

Dazu gibt es eine Autobiografie
Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind

Gertrud Haarer: "Ich stand vor ihr wie vor einem Richter"

Presse zur Haarer-Pädagogik
NS-Geschichte: Warum Hitler bis heute die Erziehung von Kindern beeinflusst

Die Erziehungsmethoden beeinflussten Jahrzehnte nach 1945, die Bücher lagen auch nach dem Ende des Dritten Reiches in vielen Familien.

Dabei sollte man nicht übersehen, dass viele "Tipps" von Haarer in der Zeit gängige Vorstellung waren, und Haarer sich entsprechend bei vielen "NS-unverdächtigen" Autoren in westlichen Ländern wiederfindet.
 
Das Zweiterschreckendste ist das "... vom GRÖBSTEN Nazijargon bereinigt..." (Hervorhebung von mir).

Bezüglich der Inhalte ist das leider de fakto schon / immer noch Tagespolitik - was das Allererschreckendste ist - wie man z. B. an einem hochumstrittenen, immer noch aktuellen Film über eine klinische Einrichtung zur Erziehungs"hilfe" in Gelsenkirchen erkennen kann. ... Kontinuitäten? (siehe Ergänzung 2)


Ergänzung 1:
Die Zeit hat Ende letzten Jahres ein Interview mit einer Tochter Haarers gebracht. (Ist leider im Bezahlbereich). Da grauste es einen beim Lesen.


Ergänzung 2:

Frau Haarer war nicht die einzige:
Wir haben ein Familienerbstück, das im Westen mindestens bis in die 80er wohl einigermaßen verbreitet war. Autorin: Hannah Uflacker, die während des 3. Reiches aktiv an Kindereuthanasie beteiligt war. (https://www.fritz-bauer-blog.de/de/startseite/aktuell/stefan-schuster-02-08-2018-personelle-kontinuitaeten)

(Ich hab u. a. Zitat mal ganz unwissenschaftlich indirekt zitiert von hier: https://www.vonguteneltern.de/meine-hebamme-oder-stern-tv-hat-gesagt/ .. steht in unserer Ausgabe auf S. 344 - auch als Indikator für die Verbreitung dieses Buches):

„Wer möchte nicht gern so oft wie möglich am Tage mit seinem Kinde spielen? Der Säugling würde dabei mit Gewissheit Schaden leiden. Zum großen Kummer der Mutter würde dieses Kind sehr bald ein schlechtes Gedeihen zeigen, trotz aller sorgfältigen Pflege und einer altersentsprechenden Ernährung. Es würde blass und appetitlos werden und sehr oft erbrechen. Wenn es nicht sofort seinen Willen bekäme würde es wütend und ungeduldig schreien. Es könnte durch das Schreien sogar Wutkrämpfe bekommen […] Der Säugling kann sich dadurch zum Haustyrannen entwickeln, die übrigen Familienangehörigen und der Haushalt werden nur ungenügend versorgt, weil die Mutter schließlich nur noch für den Säugling da sein muss.“ Als meine Freundin vor knapp 40 Jahren geboren wurde, hat man ihrer Mutter im Krankenhaus das Buch „Mutter und Kind – ein praktischer Ratgeber“ aus dem Bertelsmann Verlag von 1971 (Erstauflage 1956), geschrieben von Dr. med. Hannah Uflacker, in die Hand gedrückt. Darin steht wirklich alles, was man über die „Aufzucht“ von Babys wissen muss. Auch die gerade zitierte Passage. Aber das Buch verspricht auch Abhilfe, wenn dieser Zustand – verursacht durch eine vermeintliche Fehlerziehung – dann eingetreten ist: „Ist er erst einmal fest eingefahren, so erfordert es oft eine monatelange Behandlung in einem gut geleiteten Kinderheim oder einem Kinderkrankenhaus, um die Folgen dieser fehlerhaften Erziehung auszumerzen.“ Das Buch ist seitenweise voll mit grausamen Empfehlungen wie: „Gewiss kann und darf die Mutter, insbesondere im 2. Lebenshalbjahr, mit ihrem Kinde einmal spielen, aber immer nur im Zusammenhang mit den Pflegemaßnahmen (Trockenlegen und Füttern). In den Zeiten dazwischen soll sich das Kind in seinem Bettchen und später in seinem Laufställchen selbst überlassen bleiben.“

Weiter vorne steht fast wörtlich, dass man mit "abhärtenden Maßnahmen" mit kaltem Wasser erst im 3. Jahr anfangen solle.

Im Vorwort von 1955 zu unserer Bertelsmann-Ausgabe steht irgendwas von "warmherzig"...
 
Danke @Neddy.
Wir haben ein Familienerbstück, das im Westen mindestens bis in die 80er wohl einigermaßen verbreitet war. Autorin: Hannah Uflacker, die während des 3. Reiches aktiv an Kindereuthanasie beteiligt war.
Passenderweise verfasst in dieser Ausgabe das Geleitwort einer der Haupttäter: Prof. Dr. Werner Catel, der in Deinem ersten Link so gewürdigt wird: "Ernst Wentzler war neben Hans Heinze und Werner Catel einer der drei Obergutachter der „Kindereuthanasie“ und entschied über Leben und Tod."

Im Ärzteblatt findet sich folgende Beschreibung:
"Die Meldungen der Amtsärzte wurden in der Abteilung 2 b der Kanzlei des Führers von Hefelmann beziehungsweise von Hegener gemustert, und es wurden die Fälle aussortiert, die nach ihrer Ansicht nicht für die „Euthanasie“ infrage kamen. Der Rest – von circa 100 000 eingegangenen Meldebogen bis 1945 wohl circa 20 000 – ging an die drei „Gutachter“ des „Reichsausschusses“ (die schon erwähnten Dr. Heinze, Dr. Wentzler und Prof. Catel). Die Meldebogen wurden von den Gutachtern im Umlaufverfahren beurteilt. Nach Aussage von Hefelmann füllten die Gutachter einen Bogen aus, der drei Rubriken enthielt: Ein „+“ bedeutete „Behandlung, das heißt Freigabe der Tötung“; ein „–“ bedeutete Ablehnung der Freigabe."
 
Weiter vorne steht fast wörtlich, dass man mit "abhärtenden Maßnahmen" mit kaltem Wasser erst im 3. Jahr anfangen solle.

Die NS-Organisationen standen in einem direkten Spannungsverhältnis zur Familie und anderen Organisationen, vor allem der Kirche.

Es war somit im wesentlichen eine Frage der "Macht", welche Werte im Rahmen der prmären und sekundären Sozialisation durchgesetzt werden konnten.

Und entsprechend der Familienideologie des NS-Systems war es die Frau, in der Rolle der Mutter, die diese Aufgabe primär zu erfüllen hatte.

Und die Ausrichtung der NS-Familienpolitik auf eine "Bevölkerungsexplosion" zu ermöglichen, um die hegemoniale Position des "Ariers" in Europa durchzusetzen, war im funktionalen Sinne eine "Standardisierung" der Erziehung erforderlich. Zum einen im Hinblick auf die "rassische Identität" - als "Herrenmensch" - und zum andere um die Anforderungen der Armee und der Wirtschaft bevölkerungspolitisch zu befriedigen.

Dieser Strategie der NS-Sozialisation lag im wesentlichen die Idee der "Standardisierung" und "Konfektionierung" - als Gleichschaltung - im Kern zugrunde.

Da mag es dann nur ein "Abfallprodukt" sein, dass eine gesteigerte Härte und Distanz zu seinen Kindern eine hilfreiche Eigenschaft in einem Krieg ist, das kollektive Trauma der Eltern beim Verlust ihrer Kinder im Vorfeld schon ideologisch zu begrenzen. Immerhin sind die "Söhne" und "Väter" ja nicht umsonst gefallen, sondern im Dienste der "höheren Aufgabe".

Das war auch ein Aspekt, um präventiv mögliche kritische Stimmen an der "Heimatfront" zum schweigen zu bringen.
 
Viele Wissenschaftler - nach dem Krieg häufig anerkannte Fachleute - erlebten ihren Aufstieg im Nationalsozialismus. Ihre Thesen / Entdeckungen etc durften sie nach dem Krieg wohl - sofern es keine zu deutliche Nähe zu den Kernelementen des Nationalsozialismus gab - weiter verbreiten.
Dass gewisse Einstellungen aus dem Kaiserreich / der Weimarer Republik / dem Nationalsozialismus (denn da gibt es ja Konstanten) noch bis (weit) in die BRD hinein wirkten, ist irgendwie schon erschreckend, sollte aber gar nicht so überraschen:
- Erwachsene waren geprägt durch die Erziehung ihrer Kindheit und Jugend
- eine größere Zahl ehemaliger (?) Nationalsozialisten machte Kariere (weil man sie z.T. als Fachleute brauchte)
- heute ist es selbstverständlich, dass Soldaten, die aus dem Kriegseinsatz heimkehren, psychologisch betreut werden ... gibt es wissenschaftliche Untersuchungen bzgl. dieses Themas für Kriegsheimkehrer?

Als jemand, der erst am Ende der 1960 geboren wurde, erinnern mich Aufnahmen vom Vorgehen der Polizei z.B. bei 68er Demos immer eher an Bilder aus Diktaturen. Die Polizeitaktik / die ganze Einstellung der Jugend gegenüber stammte wohl noch aus Zeiten vor dem Krieg.
 
Was ein totalitäres Regime bedeutet mag man vielleicht leichter ermessen, wenn man sieht, dass schon der Säugling in ein solches eingesogen wird.

Das Ziel und die Mittel "totalitärer Regime" zur Gleichschaltung einer Gesellschaft sind ähnlich.

Es gibt dennoch auf der Ebene der "Pädagogik" Interschiede. Im NS-System zielte die Sozialisation - primär - auf die aktive Unterdrückung von Individualität ab. Die Konformität des Individuums wurde durch Imitation von allgemeinen anerkannten bzw. vorgegebenen Normen und Verhaltensweisen erzielt.

Der Stalinismus ging da einen Schritt weiter. indem der erwünschte "Sozialistische Mensch" durch gezielte Konditionierung erzogen werden sollte (vgl. Behaviorismus)

https://de.wikipedia.org/wiki/Behaviorismus

Stalin interessierte sich für die "wissenschaftliche Sicht" auf die Formung und Lenkung von Massen (vgl. z.B. Hoffmann: Stalinist Values und Cultivating the Masses).

In seinem einflußreichen Buch zu "Wandlungen der Deutschen Familie in der Gegenwart" geht Schelsky zwar umfangreich auf die Kriegsgesellschaft und ihre gravierenden Wirkungen für die deutsche Nachkriegsgesellschaft ein, aber er verzichtet sehr auffallend fast ausschließlich auf Literaturverweise.

Gleichzeitig verweist es auf ein zunehmendes soziales Problem vor allem in westlichen Gesellschaften, dass im 20 Jahrhundert eine massive "Individualisierung" eingesetzt hatte. Dem das NS-Regime die "Volksgemeinschaft" entgegen gesetzt hatte und sich die Nachkriegsgesellschaft an der Idee von Lyndon B. Johnsons "Great Society" - auch als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" thematisiert - orientiert haben.

Und vor dem Problem stehen, dem Trend der zunehmenden Individualisierung die Fähigkeit der Gesellschaft entgegenstellen, eine angemessene allgemeine und politische Sozialisation zu erzielen. Und die kann nur erfolgreich sein, sofern ein Wertekanon vorhanden ist, der von 90 Prozent anerkannt ist und als Grundlage für die Sozialisation - auf freiwilliger Basis - im Rahmen einer liberalen Pädagogik vermittelt wird.
 
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Die Ausführungen von Haarer stehen m.E. im Kontext der völkischen NS-Ideologie und sollten auch in diesem Zusammenhang eingeordnet werden.

In # 5 wurde schon ein Bezugsrahmen kurz skizziert, der die pädagogischen Ziele den Anforderungen von Hitler an "Deutschland" untergeordnet hatte. Im folgenden einer Weiterführung in Anlehngun an Maubach.

Die Konzeption der "Volksgemeinschaft" war im wesentlichen ein Reflex auf die gesellschaftlichen Verwerfungen des WW1. In diesem Kontext war es ein Ludendorff, der den Zusammenbruch der Heimatfront kritisiert hatte, da die "Jammerbriefe" der "Frauen" von zu Hause, die Moral der Männer an der Front untergraben hatte.

Parallel zu der Kritik von Ludendorff im Rahmen der "Dolchstoßlegend" publizierte Mathilde von Kemnitz - die spätere Frau von Ludendorff !!!!! - ihr Buch: Das Weib und seine Bestimmung (1917).

In diesem Buch präsentierte Frau Ludendorff eine nationalsitisch-völkische Rassereligion in der der Körper und der Geist der deutschen Frauen einer Neuausrichtung ihrer Pflichten im Krieg zum Ziel hatten. Dazu hatten die Frauen individuelle "Sonderbelange" unter das allgemeine Wohl des Staates zu stellen und die Frau hat ihre Fähigkeiten in die "Verwertung durch den Staat" zu stellen.

In der Partnerschaft mit Ludendorff wurden die Vorstellungen von Mathilde so weit entwickelt, dass sich daraus die Idee einer rassisch bestimmten völkischen Schutzgemeinschaft entstand, die homogen im Rahmen einer "totalen Kriegsführung" als "Heimatfront" nicht zusammen brechen würde. Eine Idee, die in dem 1935 erschienenen Buch von Ludendorff, Der totale Krieg, eine Rolle spielte.

Diese Ideen wurden bereits im Rahmen des "Tannenbergbundes" 1927 ausformuliert und kombinierten die Wehrhaftigkeit des Mannes mit der geschlechterspezfischen Rollenteilung der Frau, dieses zu fördern.

Gleichzeitig ergab sich in der völkischen Ideologie ein komplexes geschlechter- und rassitisch differenziertes hierarchisches Verständnis von Gesellschaft. Bei dem die Dominanz und Überordnung der "männerbündischen" Organsiation über die deutschen Frauen festgeschrieben wurde. Und die deutsche Frau ihrerseits über Männern und Frauen anderer "Rassen" stehen würde.

In diesem Sinne war die Frage des Erziehungsstiles nicht losgelöst vom allgemeinen historischen Kontext der Entwicklung der national-völkischen Bewegung als Reaktion auf den WW1 und seiner spezifischen Ausformung in der NS-Bewegung. Und die Härte erklärt sich dann aus dem extremen Sozialdarwinismus und der impliziten Forderung, Revanche zu nehmen.

Maubach, Franka (2014): "Volksgemeinschaft" als Geschlechtergemeinschaft. Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform. In: Gudrun Brockhaus (Hg.): Attraktion der NS-Bewegung. Essen: Klartext, Pos: 5667-6116
 
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