Das historische Buch: Dreissig Monate im Krieg - Christopher Browning rekonstruiert den Weg in den Holocaust Norbert Frei Zu den Eigentümlichkeiten der hohen medialen Präsenz, zu welcher der Holocaust in den letzten etwa eineinhalb Jahrzehnten aufgestiegen ist, gehört eine wachsende Kluft zwischen seiner populären Vergegenwärtigung und seiner wissenschaftlichen Erforschung. Mitunter erscheint dieses Auseinanderdriften von frustrierender Unaufhaltsamkeit. Doch dann greift man zu einem Werk, wie es jetzt der amerikanische Historiker Christopher Browning vorgelegt hat – und gewinnt die Zuversicht zurück, dass es gelingen könnte, Forschung und Vermittlung wieder näher zusammenzubringen. «Die Entfesselung der ‹Endlösung›» ist Brownings siebtes Buch über Hitler, die nationalsozialistische Führung und den Holocaust. Mehrere seiner Bücher sind ins Deutsche übersetzt, so auch «Ordinary Men», seine berühmte Studie über den Einsatz des Hamburger Polizei-Reservebataillons 101 im Vernichtungskrieg gegen die Juden; ihr deutscher Titel «Ganz normale Männer» ist für den Gang der Holocaust-Forschung geradezu paradigmatisch geworden. Mit dieser meisterhaften Untersuchung hat Browning Anfang der neunziger Jahre, längst vor Goldhagen, auch den Kontakt zu einem breiteren Publikum gefunden. In Fachkreisen allerdings begann er sich schon vor mehr als zwanzig Jahren einen Namen zu machen: zunächst mit seiner Dissertation über «The Final Solution and the German Foreign Office» (1978), mehr noch aber 1981 mit einem Aufsatz in den «Vierteljahresheften für Zeitgeschichte», in dem er Martin Broszats Überlegungen zur «Genesis der ‹Endlösung›» widersprach. Im Grunde lieferte Browning damit den Text, der die schon länger schwelende Auseinandersetzung zwischen den schliesslich so genannten Strukturalisten und den Intentionalisten auch auf den Mord an den europäischen Juden ausdehnte. Anders als seine streitenden deutschen Kollegen verfiel Browning jedoch schon damals nicht in ein schroffes Entweder-oder; ihn überzeugte weder die Vorstellung, man könne den Holocaust aus einem in Hitlers Hirn seit langem feststehenden Masterplan erklären, noch die zunächst von Broszat und weiter zugespitzt dann von Hans Mommsen vorgetragene Erklärung, die den Holocaust als das im Kern improvisierte Ergebnis einer Dynamik selbst geschaffener «Sachzwänge» beschrieb. Fragen der Datierung Browning ging es schon seinerzeit ganz wesentlich um die Frage der Datierung, und es ist interessant zu sehen, dass er seine Überlegungen in diesem Punkt nur wenig verändern musste: Im Oktober oder November 1941, so Browning 1981, habe Hitler die auf seinem «Vernichtungsbefehl vom Sommer basierenden Grundzüge des Plans . . . gebilligt». In seinem neuen Buch ist nun zwar nicht mehr von einem einzelnen, definitiv terminierten Grundentscheid des «Führers» die Rede, aber als die «fateful months» identifiziert Browning nach wie vor den Sommer und Spätsommer 1941. Die vor allem von Christian Gerlach verfochtene These, Hitler habe seine «Grundsatzentscheidung» für den Genozid erst in einer Ansprache vor hohen Parteiführern am 12. Dezember 1941 bekanntgegeben, hält er für falsch. Wesentlich stärkere Bedeutung als in früheren Texten misst Browning nun dem Zusammenhang zwischen dem Beginn der «Endlösung» und dem Krieg gegen die Sowjetunion bei. Doch damit ist er den Strukturalisten nur scheinbar näher gerückt, denn in scharfem Kontrast zu Broszat und Mommsen sieht Browning den Zusammenhang nicht im stockenden deutschen Vormarsch oder gar erst in der sich abzeichnenden Niederlage, sondern in der im Sommer 1941 sich breit machenden Euphorie des vermeintlich bevorstehenden Sieges – und der damit verbundenen Planung für die Nachkriegsordnung eines «Grossgermanischen Reiches». In dem Moment, in dem die Einsatzgruppen «vom selektiven zum totalen Massenmord» an den sowjetischen Juden übergingen, habe Hitler «offenbar» das Signal für die «Ausarbeitung eines nach dem Ende des Russlandfeldzuges umzusetzenden Programms für die Ermordung der europäischen Juden» erteilt. Browning weist darauf hin, dass er an diesem Punkt spekuliert, aber seine Deutung des berüchtigten Auftragsschreibens, das sich Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamts, am 31. Juli 1941 von Hermann Göring geben liess, ist gut begründet: Es muss damals um etwas qualitativ anderes gegangen sein als um die vollständige «Umsiedlung» der europäischen Juden auf sowjetisches Territorium, denn die hatte Heydrich ja bereits im März 1941 geplant. Worum also ging es in dem Moment, da die deutschen Truppen in phantastischem Tempo auf Moskau zumarschierten? Browning: «Im Grunde hatte Göring eine ‹Machbarkeitsstudie› über einen Massenmord von noch nie da gewesenem Ausmass bei ihm bestellt.» Eindrucksvolle Synthese Christopher Brownings neue Darstellung, in der ein Beitrag von Jürgen Matthäus die Bedeutung des Russlandkrieges für den Beginn der Judenvernichtung noch einmal gesondert unterstreicht, liefert für die dreissig Monate zwischen dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 und dem Beginn der systematischen Vergasungsaktionen in den auf polnischem Boden errichteten Tötungszentren eine Fülle wichtiger Einsichten. Hervorzuheben ist nicht zuletzt seine konzentrierte Analyse des mörderischen Terrors, mit dem die Einsatzgruppen der SS und der «Volksdeutsche Selbstschutz» bereits im Herbst 1939 Tausende von Angehörigen der polnischen Intelligenz, von Geistlichen und Juden überzogen. Die rassenideologische Vernichtungswut äusserte sich schon damals in Erklärungen wie jener eines Selbstschutzkommandeurs, der seine Männer zur Zurückhaltung beim Aufbau von Lagern anhielt: Er habe nicht die Absicht, Gefangene «durchzufüttern», vielmehr sei es «eine Ehre für jeden Polen, mit seinem Kadaver die deutsche Erde zu düngen». – Eindrucksvoll ist auch die Syntheseleistung, die Browning hinsichtlich der Phase der Ghettobildung im sogenannten Generalgouvernement erbringt: Hier wird deutlich, dass die Vorstellung eines von den Zuständen an der «Peripherie» zum Handeln gezwungenen «Zentrums» (sprich: Berlins) so wenig greift wie die These, die Einrichtung jüdischer Ghettos sei lediglich ein Schritt auf dem längst vorgeplanten Weg in die Vernichtung gewesen. Christopher Brownings Buch erscheint im Rahmen einer gross angelegten «Comprehensive History of the Holocaust», die das Forschungsinstitut von Yad Vashem (Jerusalem) herausgibt. Allein der nationalsozialistischen Judenpolitik, mithin der Perspektive der Täter, widmet die Reihe drei Einzelbände. Brownings Arbeit ist gleichsam das Mittelstück, das freilich die Kernfragen adressiert, mit denen die internationale Holocaust-Forschung seit Jahrzehnten ringt. Mit seiner mustergültigen Verbindung von eigenen Quellenstudien und vorbildlicher Literaturverarbeitung hat Christopher Browning dieser Community einen grossen Dienst getan – und dem lesenden Publikum hat er mit seinem jüngsten Werk eine eindrucksvolle Summe seines bisherigen Schaffens geschenkt.