Opferzahlen unter Stalin

C

centafera

Gast
Hallo zusammen,


mich würde interessieren in welcher Höhe die Opferzahlen unter Stalin lagen und zwar in der Zeit seit der Machtergreifung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges.

Gemeint sind damit die kompletten Opfer aus Säuberungen, Vernichtung durch Arbeit (Gulags), politische Opfer, usw...

Vielen Dank für die Hilfe
 
Buchempfehlung - Bloodlands

Hallo,

hab das Buch gerade nicht zur Hand, aber kann ich

Timothy Snyder
Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin
ISBN-13: 978-3423347563

empfehlen.

Hier werden zumindest für Polen, Weißrussland, Ukraine und baltische Staaten
detailiert Zahlen genannt für einzelne Aktionen.

Gruß,
Sixpence
 
Hallo centafera,

eine Gesamtdarstellung aller Todesopfer wird schwer aufzustellen sein. Ich weiß nicht, ob es eine glaubwürdige Statistik zu den Hungertoten gibt. Ferner lässt sich für die Periode von 1941 bis 1945 nicht genau definieren, wie viele Menschen auf Befehl Stalins oder seiner Schergen umkamen, oder durch die von ihnen betriebene Politik, und wie viele durch die Auswirkungen des Deutsch-Russischen Krieges ihr Leben ließen. Und zählen die etlichen Suizide, ausgelöst durch Folter, Verbannung oder Beraubung der Existenzgrundlage auch zu Stalins Opfern?

Simon Sebag Montefiore spricht in "Am Hof des Roten Zaren" (Seite 261) von 72.950 Personen, die allein zwischen dem 5. und 15. August auf Vorschlag Jeschows und seines Stellvertreters Frinowski erschossen werden sollten. Diese Verordnung Nr. 00447 wurde am 31. Juli 1937 durch das Politbüro angenommen. 259.450 weitere Personen wurden entsprechend der Verordnung deportiert.
Zwischen dem 28. August und dem 15. Dezember 1937 wurden weitere 48.000 Erschießungen bewilligt. Insgesamt sollen durch die Verordnung Nr. 00447 767.397 Menschen festgenommen und 386.789 Menschen hingerichtet worden sein.

Ferner schätzt Montefiore die Zahl der Erschießungen unter Polen, Volksdeutschen, Koreanern, Bulgaren, Mazedoniern und anderen ethnischen Gruppen auf 700.000, von denen 247.157 anhand von sowjetischen Akten nachverfolgt werden können.

Allein in der Ukraine sollen im Jahr 1938 106.119 Hinrichtungen ausgeführt worden sein. (Seite 310 des oben genannten Buches)

Der "The Times Atlas Zweiter Weltkrieg" nennt darüber hinaus noch Opferzahlen für die Zeit der sowjetischen Okkupation Ostpolens 1939-1941 und der späteren Rückeroberung 1944/45. 14.000 Polen sollen allein in Katyn ermordet worden sein, 150.000 Kriegsgefangene und 500.000 Zivilisten umgekommen sein, und 100.000 Menschen in den Gefängnissen des NKWD zu Tode gefoltert, verhungert oder erschossen worden sein. 950.000 Menschen sollen nach Osten deportiert worden sein.

Diese Schreckensstatistik ließe sich jetzt noch unendlich erweitern, teils mit anderen Zahlen. Ich habe die Zahlen gepostet, um einen Überblick über das Ausmaß der Gewalt zu geben, eine Gesamtaufzählung wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Eine Zusammenfassung liefert "Geo Epoche" in der Ausgabe "Stalin: 1917-1953 - Der Tyrann und das Sowjetreich" (Nr. 38). Hier wird auf Seite 164f von zwei Millionen Toten in den Gulags, 300.000 umgekommenen deportierten Kulaken und 681.692 im Zuge des Großen Terrors Hingerichteten gesprochen. Der Hungersnot von 1946/47 sollen zwischen 500.000 und einer Million Menschen zum Opfer gefallen sein, der Hungersnot von 1932/33 gar sechs Millionen. Aber selbst bei dieser grausamen Aufzählung sind viele Opfer noch nicht enthalten, etwa die Kriegsgefangenen des 2. Weltkrieges, die von den Politkommissaren getöteten Sowjetsoldaten, die im Bürgerkrieg auf Geheiß Stalins Umgekommenen/Ermordeten, diejenigen Arbeiter, die aufgrund schlechtester Arbeitsbedingungen im Donezkbecken oder Magnitogorsk umkamen, und viele viele mehr.
 
Hallo centafera,

eine Gesamtdarstellung aller Todesopfer wird schwer aufzustellen sein. Ich weiß nicht, ob es eine glaubwürdige Statistik zu den Hungertoten gibt. Ferner lässt sich für die Periode von 1941 bis 1945 nicht genau definieren, wie viele Menschen auf Befehl Stalins oder seiner Schergen umkamen, oder durch die von ihnen betriebene Politik, und wie viele durch die Auswirkungen des Deutsch-Russischen Krieges ihr Leben ließen. Und zählen die etlichen Suizide, ausgelöst durch Folter, Verbannung oder Beraubung der Existenzgrundlage auch zu Stalins Opfern?

Die Opferzahl des Stalinismus ist bis heute umstritten und schwankt zwischen etwa 3-4 Millionen und 20 Millionen. Es scheint wohl auch eine Frage zu sein, was man dem Stalinismus als Opfer zuschreibt und wie weit man dabei geht bzw. zählt. Kann man z.B. die toten Kriegsgefangenen des 2. WK dazu zählen oder die Opfer von Hungerkrisen 1931/33 und nach 1945?

Ob man schließlich den Zahlen der sowjetischen Archive, die inzwischen geöffnet sind, vertrauen kann, ist unter Historikern ebenfalls heftig umstritten.
 
Die Opferzahl des Stalinismus ist bis heute umstritten und schwankt zwischen etwa 3-4 Millionen und 20 Millionen. Es scheint wohl auch eine Frage zu sein, was man dem Stalinismus als Opfer zuschreibt und wie weit man dabei geht bzw. zählt. Kann man z.B. die toten Kriegsgefangenen des 2. WK dazu zählen oder die Opfer von Hungerkrisen 1931/33 und nach 1945?

Ob man schließlich den Zahlen der sowjetischen Archive, die inzwischen geöffnet sind, vertrauen kann, ist unter Historikern ebenfalls heftig umstritten.
Ja, man findet vielerlei unterschiedliche Zahlenangaben aus unterschiedlichen Quellen. Und wer jetzt genau zu den Opfern gezählt werden darf oder soll ist auch so eine Sache. In den Archiven finden sich zwar zumindest die Zahlen der Hinrichtungen, Verhaftungen und Deportationen sowie der Gulag-Häftlinge, aber es ist anzunehmen dass diese Zahlen zu tief angesetzt sind, und es tatsächlich mehr Opfer waren. Jeschow prägte gegenüber seinen Untergebenen ja den Ausspruch "Lieber zu viel als zu wenig", was diese als Anlass nahmen, die festgelegten Hinrichtungsquoten noch zu übertreffen, sei es um alte Rechnungen zu begleichen, sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen oder um in der Partei aufzusteigen.
 
Mir sagte mal ein Geschäftspartner in Litauen beim Rundgang in „Stalins Welt“ – Grutas Park bei Druskininkai (an der Grenze zu Weißrussland) –, man wird wohl nie ermitteln können, wie viel Opfer der Rote Terror gekostet hat.

Ich glaube und befürchte, da wird er wohl Recht haben.

Sicher gibt es Leute die das könnten, aber...
Aber will man’s von russischer Seite aus aufklären?
Immerhin, seit dem XX. Parteitag der KPdSU sind inzwischen 57. Jahre vergangen.

Und welche Unterlagen würden diesen Leuten zur Verfügung stehen, wie glaubwürdig sind diese und wie vollständig!!!???


Wie schrieb doch Genosse Lenin an Genossen Dmitrij Kurski (Volkskommissar für Justiz von 1918 – 1928):

„Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen – das zu versprechen wäre Selbstbetrug oder Betrug-, sondern ihn prinzipiell, klar ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern. Die Formulierung muss so weitgefaßt wie möglich sein, denn nur das revolutionäre Rechtsbewusstsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die die mehr oder minder breite Anwendung in der Praxis.
Mit kommunistischen Gruß
Lenin“

Lenin Werke Band 3, Seite 344.
Leider habe ich Band 3 nicht; ich verlasse mich da auf Alexander Solschenizyn: „Der Archipel Gulag“ Band 1, Seite 328.

Da brauchte dann wohl Stalin nicht erst „schöpferisch“ tätig zu werden, dass brauchte er wohl nur noch anzuwenden!
Oder interpretiere ich da was falsch?

Und zum Schluss...
Da wird wohl der Volksmund seinerzeit nicht ganz unrecht gehabt haben, mit...
Wann beginnt ein glücklicher Tag für Iwan Iwanowitsch?

Wenn’s früh am morgen bei ihm klingelt.
Und zwei unverwechselbare Typen fragen ihn, sind sie Maxim Michailowitsch?
Nein antwortet er, der wohnt eine Etage höher!
 
Zuletzt bearbeitet:
Danke Euch für die vielen Antworten, das gibt mir einen kleinen Überblick.

"Die Opferzahl des Stalinismus ist bis heute umstritten und schwankt zwischen etwa 3-4 Millionen und 20 Millionen."

Es ist eigentlich verwunderlich, warum man hier nicht zu genaueren Zahlen kommt vor allem im Vergleich zum Dritten Reich. Die Opferzahlen wurden hier viel genauer dargestellt und recherchiert.

Was sind die Gründe, warum solch große Unterschiede bei Nennung der Opferzahlen vorherrschen und warum wird den sowjetischen Archiven wenig vertrauen geschenkt. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis wurde doch sicherlich auch mit Dokumenten des Dritten Reiches der damaligen Zeit unterlegt.

Was mich ebenso irretiert wenn man sich diese Zahlen ansieht, sind die Nürnberger Prozesse. Hier haben doch eigentlich Verbrecher über Verbrecher geurteilt.

Zu guter Letzt, inwiefern schaut es mit der Geschichtsaufarbeitung aus bezüglich des Stalinismus. Wird das gepflegt oder eher vernachlässigt ?


Danke Euch nochmals für die tollen Antworten =)
 
Ich vermische nicht gern historische Vorgänge.

Weil sich bei genauer Betrachtungsweise doch immer Unterschiede feststellen lassen.
Man kommt dann oft zu der Schlussfolgerung, eine Vermischung bringt nichts, sie verkompliziert höchstens nur.

Sicher gibt es Parallelen, aber es gibt auch keine Parallelen, also, es schafft nur ein durcheinander und ein wirrwahr.
Das zu den parallelen Stalinismus und Hitlerdiktatur (Beitrag Nr. 8).

Ja warum arbeiten die Russen diese unselige Vergangenheit nicht auf?

Da gibt es sicher etliche russische Historiker die das nur allzu gern machen würden.
Wenn ich nicht schon 71. wäre, würde ich mich da sogar als deutscher Assistent anbieten :).

Geht aber nur, wenn die staatlichen Archive (gesamte Archive der riesigen Sowjetunion), die Archive der KPdSU und des KGB (incl. aller ihrer Vorläufer!) komplett den Staat entzogen werden und unter demokratischer Verwaltung gestellt werden.
Weil, es zeigt sich doch sehr deutlich, der Staat hatte bis 90. daran kein Interesse und auch der neue Staat hat offensichtlich daran auch kein/wenig Interesse.

Irgendwann werden sie es aber tun müssen.
Da bin ich bei Isaak Babel (Isaak Babel -> siehe wiki) der 1939 verhaftet wurde und 1940 Opfer des stalinschen Terrors erschossen wurde.
Er sagte:

„Ohne Kenntnis der Vergangenheit gibt es keinen Weg in die Zukunft“.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mir sagte mal ein Geschäftspartner in Litauen beim Rundgang in „Stalins Welt“ – Grutas Park bei Druskininkai (an der Grenze zu Weißrussland) –, man wird wohl nie ermitteln können, wie viel Opfer der Rote Terror gekostet hat.

Ich glaube und befürchte, da wird er wohl Recht haben.

Das ist natürlich wieder so eine ausgesprochen problematische Aussage. Weder Deine Kumpels, noch irgendjemand Anderes, den Du irgendwo getroffen hast, bilden ein Kriterium für die intersubjektive Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehalten von wissenschaftlichen Aussagen.

Demgegenüber werden Dir seriöse Forschungsergebnisse angeboten, die Du "locker" ablehnst. Jedem seine eigene Meinung.

Sicher gibt es Leute die das könnten, aber...
Aber will man’s von russischer Seite aus aufklären?

Und welche Unterlagen würden diesen Leuten zur Verfügung stehen, wie glaubwürdig sind diese und wie vollständig!!!???

Ja warum arbeiten die Russen diese unselige Vergangenheit nicht auf?

Da gibt es sicher etliche russische Historiker die das nur allzu gern machen würden.

Geht aber nur, wenn die staatlichen Archive (gesamte Archive der riesigen Sowjetunion), die Archive der KPdSU und des KGB (incl. aller ihrer Vorläufer!) komplett den Staat entzogen werden und unter demokratischer Verwaltung gestellt werden.

Weil, es zeigt sich doch sehr deutlich, der Staat hatte bis 90. daran kein Interesse und auch der neue Staat hat offensichtlich daran auch kein/wenig Interesse.

Und in diesen Feststellungen spricht 1. eine weitgehende Unkenntnis und 2. sind diese Aussagen hochgradig politisch kontaminiert; und 3. hat sich die Szene der Historiker zum Stalinismus deutlich verändert, eher glücklicherweise entpolitisiert. Mit ein paar Ausnahmen.

Der Standardeinstieg in das Thema bildet der Reader von Fitzpatrick. Und sie hat die ausgewiesensten Experten für die historische Erforschung des Stalinismus um sich versammelt.

A Researcher's guide to sources on Soviet social history in the 1930s - Google Books

Ansonsten findest Du mittlerweile fast keine einigermaßen seriöse Forschung zu dem Thema, die die Quellenlage refelktiert.

Ein relativ frühes Beispiel bietet Besymenski.

Stalin und Hitler: das Pokerspiel der Diktatoren - Lev A. Bezymenskij - Google Books

Aber auch neuere Forschungsergebnisse reflektieren fast immer die Quellenlage und die bietet seit Perestroika viel Licht und auch - noch zuviele - Schatten. Es ist nicht zu erwarten, dass es Quellen gibt, die eine grundsätzlich Neubewertung nach sich ziehen würden.

In diesem Sinne ist vieles, auch kritisch, bereits aufgearbeitet worden!!!!!!!!!!!!

Die entsprechende Literatur zu den neuesten und teils auch spektakulärsten Sammlungen von Quellen (Politbüro-Protokolle, Briefe von Stalin an Molotow oder die Korrespondenz von Stalin und Kaganovich) wurde bereits vorgestellt und von Dir u.a. en passant ignoriert.

The Stalin-Kaganovich Correspondence, 1931-36 - Joseph V. Stalin, L. M. Kaganovich - Google Books

Eine sehr gute Voraussetzung für Deine "virtuelle Bewerbung", die allerdings 30 Jahre zu spät kommt und eher in den Kalten Krieg gepasst hätte.

Zusätzlich ist die Behauptung, dass es keine ausreichende Motivation und keine ausreichenden Projekte zu empirisch basierten Aufarbeitung des Stalinismus geben würde, verkehrt. So wurden von Alexander Yakovlev die wichtige Dokumentensammlung "Rossia XX Vek" durch den Mezhdunarodnyi Fond "Demokratiia" herausgegeben.

Und ebenfalls ist beispielsweise die Sammlung von Viktor P. Danilov "Tragediia soverskoi" zu nennen.

Es ist vielmehr richtig, dass neue Ergebnis zum Stalinismus einfach nicht zur Kenntnis genommen werden, auch hier im Forum, weil sie nicht in das "liebgewordene" Geschichtsbild passen.

_____________________________________
PS: Die Aussagen zur Ermittling von Opferzahlen sind so, wie sie formuliert wurden ebenfalls nicht korrekt.

Es ist fraglich, ob es überhaupt möglich ist, die Opfer unterschiedlicher Ereignisse aufzuaddieren. Die Zwangsumsiedlungen und die Verfolgung von 30/31 und die Säuberungen in den 30er Jahren folgen unterschiedlichen politischen Motiven.

Zumindest für die "Säuberungen" im Kontext des Gulags lassen sich relativ präzise Zahlen benennen. Das entsprechende Referenzwerk dazu stammt von Klevniuk.

The History Of The Gulag: From Collectivization To The Great Terror - Олег Витальевич Хлевнюк - Google Books
 
Zuletzt bearbeitet:
Jedes Opfer zählt! Eines ist nicht weniger als Tausend. Tausend sind nicht weniger als eine Million. Eine Million sind nicht weniger als eine Milliarden ...
Ich nehme mal die Spanische Grippe. Diese zählte nach dem Ersten Weltkrieg mehr Opfer als dieser. Wer kennt die Spanische Grippe, wer den ersten Weltkrieg?
Wer kann mehr erzählen? Die Überlebenden oder die Toten?

Nein, nein, ich wollte nicht sagen: "Bringt sie alle um!"
 
Jedes Opfer zählt! Eines ist nicht weniger als Tausend. Tausend sind nicht weniger als eine Million. Eine Million sind nicht weniger als eine Milliarden ...

Das ist absolut richtig! Und deswegen ist es notwendig, gerade wenn man den stalinistischen Terror ernsthaft behandeln möchte, sich auch ernsthaft und kenntnisreich mit ihm auseinanderzusetzen.

Der Stalinismus und auch das NS-System / Hitler haben einen Anspruch auf eine historisch korrekte, immanente und auch kritische Rekonstruktion. Der Fetischismus von irgendwelchen Zahlen hilft da absolut nicht weiter, um die Ursachen oder das Zusammenwirken von Faktoren, die wichtig waren für das Funktionieren des System, zu verstehen.

Eine andere Sichtweise auf diese Themen st m.E. entweder eine unkritische Apologie oder bildet eine sonstige Form von politischem Syndrom, wie bei Gleason zutreffend beschrieben. Beides sind politsch zu akzeptierende Meinungen, helfen aber beide nicht, eine kritische Geschichtsschreibung zu entwickeln.

Totalitarianism: the inner history of the Cold War - Abbott Gleason - Google Books

In diesem Sinne, wenn man denn die Opfer der stalinistischen Verfolgung ernst nehmen möchte, sollte man sich auch um die Perspektive der Opfer bemühen. Und da reicht es nicht aus, lediglich Solschenizyn oder Ginsburg zu betrachten, sondern sollte sich auch das tägliche Leben der Millionen "normalen" Opfer anzusehen und die massiven Probleme, die der stalinistische Terror für die sowjetische Gesellschaft insgesamt gebracht hat.

Wie beispielsweise die Integration von Opfern während des Stalinismus, nachdem sie aus dem Gulag zurück geommen sind.
Keeping Faith With the Party: Communist Believers Return from the Gulag - Nanci Adler - Google Books

Surviving freedom: after the Gulag - Janusz Bardach, Kathleen Gleeson - Google Books

Zudem: Da die stalinistische Verfolgung das Prinzip der "Sippenhaftung" praktizierte, traf es auch zu einem nicht geringen Prozentsatz die Ehepartner und somit auch nicht selten die Kinder der Betroffenen. Ein Thema, das ebenfalls gerne in der Diskussion über die Gulags ausgeblendet wird, vor lauter Zahlen.

Die Generation der Gulag-Kinder
Children of the Gulag - Cathy A Frierson, Semen Samuilovich Vilenskiĭ - Google Books

Und entgegen der Meinung von Ralf M. gab es während der Periode von Chruschtschow bereits ernsthafte Versuche zur Aufarbeitung des stalinistischen Terrors und dem Versuch einer Rehabilitierung der Opfer.

Nicht selten von Betroffenen des Terrors als Verantwortliche durchgeführt. Um diese Sichtweise der "ersten Perestroika" hat sich u.a. Cohen verdient gemacht.

Opfer des Gulags in der post-stalinistischen Periode und ihre Rehabilitierung
Soviet Fates and Lost Alternatives: From Stalinism to the New Cold War - Google Books

The Victims Return: Survivors of the Gulag After Stalin - Stephen F. Cohen - Google Books
 
Mir sagte mal ein Geschäftspartner in Litauen beim Rundgang in „Stalins Welt“ – Grutas Park bei Druskininkai (an der Grenze zu Weißrussland) –, man wird wohl nie ermitteln können, wie viel Opfer der Rote Terror gekostet hat.

Ich glaube und befürchte, da wird er wohl Recht haben.

Sicher gibt es Leute die das könnten, aber...
Aber will man’s von russischer Seite aus aufklären?
Immerhin, seit dem XX. Parteitag der KPdSU sind inzwischen 57. Jahre vergangen.

Und welche Unterlagen würden diesen Leuten zur Verfügung stehen, wie glaubwürdig sind diese und wie vollständig!!!???

Leider will man das im heutigen Russland nicht, Journalisten die gegen russische Missstände recherchieren riskieren ihr Leben wie zahlreiche tote Enthüllungsjournalisten in Russland beweisen, das Land ist weit weit entfernt von einer Demokratie. Stalin wurde von einem renommierten russischen Magazin in einer großen Wahl "Der größten Russen aller Zeiten" unter die Top 10 gewählt. Er unterlag einem Zaren, vermutlich Alexander I. (der Napoleon besiegte) sowie Lenin, ergo Platz 3 bis 10 möglich. Die Menschen sehen also Leute die irgendwelche Zahlen ermitteln gegen Stalin als "Beleidigung" dieses großen Russen, der den großen vaterländischen Krieg gewonnen hat und die Welt vor dem Faschismus rettete. Die bis Heute jährlichen Siegesparaden am 8./9. Mai in jeder Großstadt halten diese Erinnerung wach!

Dies zeigt, dass auch die jungen Russen (zum Zeitpunkt der Befragung lebte kaum noch jemand der unter Stalin eingeschult wurde) noch ein ganz anderes Bild von Stalin haben. Die Sowjetunion ist da ein wichtiger Grund. Was die Opfer angeht würde ich definitiv die Hungersnot mit einbeziehen da ich der Meinung bin es gab Vorzeichen und Möglichkeiten diese Abzuwenden (Kauf von Getreide), das nötige Geld wäre Stalin jedoch zu Schade da er bei zahlreichen Gelegenheiten sagte "Menschen, davon haben wir ja genug."

Meine Oma (*1923, gerade 90 geworden) die selbst als Polin 1940 im sowjetisch-besetztem Teil Polens deportiert wurde weil sie als 17-jährige Gymnasiastin bereits zu gebildet war. Sie wurde gemeinsam mit Schulkameraden, Studenten und der "Oberschicht" deportiert. Erst nach über 5 und halb Jahren kam sie zurück ins "neue" Polen. Sie berichtete mir, dass in Grünberg wo sie sich nun ansiedelte da ihre alte Heimat von der SU annektiert wurde, sie 3 Bekannte fand (Kleinstadt) die sie aus der Lagerzeit kannte. 2 von ihnen hatten nichts mehr und begingen Suizid. Alleine bei den Polen kehrten mind. Zehntausende nie wieder heim.

Ich bin mir sicher, dass von "Überlebenden" Häftlingen zehntausende wenn nicht hunderttausende Suizid begingen. Dies wurde natürlich im kommunistischem Nachkriegspolen so gut es ging geheim gehalten, meine Oma durfte nicht öffentlich über ihre Erlebnisse sprechen. Forschungen 80 Jahre später gestalten sich natürlich als sehr schwierig gerade in einem Land wie der Sowjetunion.
 
Zuletzt bearbeitet:
Leider will man das im heutigen Russland nicht, Journalisten die gegen russische Missstände recherchieren riskieren ihr Leben wie zahlreiche tote Enthüllungsjournalisten in Russland beweisen, das Land ist weit weit entfernt von einer Demokratie. Stalin wurde von einem renommierten russischen Magazin in einer großen Wahl "Der größten Russen aller Zeiten" unter die Top 10 gewählt. Er unterlag einem Zaren, vermutlich Alexander I. (der Napoleon besiegte) sowie Lenin, ergo Platz 3 bis 10 möglich. Die Menschen sehen also Leute die irgendwelche Zahlen ermitteln gegen Stalin als "Beleidigung" dieses großen Russen, der den großen vaterländischen Krieg gewonnen hat und die Welt vor dem Faschismus rettete. Die bis heute jährlichen Siegesparaden am 8./9. Mai in jeder Großstadt halten diese Erinnerung wach!
Stutzig gemacht hat mich der (von mir hervorgehobene) Titel, war doch Stalin Georgier.
Auf der Wikiseite zu Stalin findet sich dies:
"2008 wurde Stalin in einer Umfrage des russischen Staats-Fernsehens Rossija 1 nach der wichtigsten Figur der russischen Geschichte mit knappem Abstand, mit leichten Manipulationen gegen Stalin, hinter Alexander Newski und Pjotr Stolypin auf den dritten Platz gewählt."
Josef Stalin ? Wikipedia
Betrachtet man Alexander Newski, den von dir genannten Alexander I. und Stalin, dann stehen die Namen in Zusammenhang mit der Abwehr von Aggressoren, und damit auch für eine russische Identität. Das kann man wohl nicht negieren.
Zu Stalin selbst:
"Die positive Sicht auf Stalin erfährt in Russland derzeit einen Aufschwung. Er steht dabei als Symbol für ein starkes Russland. Der Sieg über den Nationalsozialismus wird wieder verstärkt zelebriert, steht jedoch nicht immer direkt mit einer Verehrung Stalins in Zusammenhang."
Und diese positive Sicht wundert mich nicht. Vor ein paar Jahren habe ich eine Reportage über Gebiete Rußlands gesehen, die nach dem Niedergang der Sowjetunion verloren haben. Da hingen Stalinbilder in den kargen Häusern und es herrschte die Meinung: "Stalin stand für Ordnung und wir hatten Arbeit!"

Ein Taler hat immer zwei Seiten.

Grüße
excideuil
 
"Die positive Sicht auf Stalin erfährt in Russland derzeit einen Aufschwung. Er steht dabei als Symbol für ein starkes Russland. Der Sieg über den Nationalsozialismus wird wieder verstärkt zelebriert, steht jedoch nicht immer direkt mit einer Verehrung Stalins in Zusammenhang."
Und diese positive Sicht wundert mich nicht. Vor ein paar Jahren habe ich eine Reportage über Gebiete Rußlands gesehen, die nach dem Niedergang der Sowjetunion verloren haben. Da hingen Stalinbilder in den kargen Häusern und es herrschte die Meinung: "Stalin stand für Ordnung und wir hatten Arbeit!"

Ein sehr wichtiger Hinweis, der auf die ausgesprochen komplizierte Situation in Russland verweist. Nach dem Zusammenbruch 89/90 waren die Nachfolgestaaten der UdSSR mit vielfältigen innen und außenpolitischen Problemen konfrontiert. In dem sehr guten Reader von Gill und Young werden sie systematisch dargestellt.

Routledge Handbook of Russian Politics and Society - Google Books

Einer der zentralen Aspekte, die den Zusammenbruch begünstigte und beschleunigte war der eigentlich immer vorhandene Nationalismus in der UdSSR und das eigentlich nicht ausdiskutierte Konzept zur Bildung der Förderation der Sowjetrepubliken. Und es verweist auf den massiven Konflikt zwischen Lenin & Trotzki auf der einen Seite, die für eine wesentlich "dezentraleres" Konzept standen und Stalin und Ordzhonikidze, die ein zentralistisches Konzept präferierten und es am Beispiel des "Anschlusses" von Georgien durchgefüht hatten (vgl. z.B. Lewin und zur Rolle von Trotzki Meißner)

Lenins letzter Kampf - Moshé Lewin - Google Books

Trotzki und Trotzkismus: gestern und heute ; eine marxistische Analyse - Herbert MeiBner - Google Books

Diese Problem der zentrifugaln Kräfte sieht vor allem Suny als den zentralen Faktor an, der das Auseinaderbrechen begünstigt hat und dieser Umstand verweist auf das eigentlich Problem, die nationale Identität bzw. das "Nationbuilding" innerhalb der einzelnen Republiken.

The Revenge of the Past: Nationalism, Revolution and the Collapse of the ... - Ronald Grigor Suny - Google Books

Daß dieses Problem nicht erst eine zunehmende Rolle im Rahmen von Glasnost/ Perestroika gespielt hat, belegen die Beiträge im Reader von Suny und Martin.

A State of Nations : Empire and Nation-Making in the Age of Lenin and Stalin ... - Google Books

Die Ursachen für dieses Phänomen des Nationalismus innerhalb der sowjetischen Republiken sind bereits im Zarismus angelegt und auch einer der Gründe für den Ausbruch des WW1. Bezogen auf das zaristische Russland und auch auf die zentralistische UdSSR war die politische Identität stark durch die Rückwirkung der außenpolitischen Zielsetzungen der Expansion auf die Innenpolitik geprägt.

Die Entwicklung für das zaristische Russland hat Geyer kenntnisreich beschrieben.

Der russische Imperialismus: Studien über d. Zusammenhang von innerer u ... - Dietrich Geyer - Google Books

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR stellte sich eine völlig neue Herausforderung für die führenden Politiker im Kreml. Sie mußten eine "Zivilgesellschaft" entwickeln und den "Roten Faden für die kollektive Identität der Russen neu finden bzw. neu erfinden.

Duch die extrem bruchhafte und problematische Entwicklung der UdSSR war es schwierig für den Kreml Traditionsbestände zu generieren, die einer gescheiterten Großmacht und ihrer Bevölkerung ein angemessenes kollektives Selbstbild sichern konnten.

Das Nationbuildung im post-sowjetischen Russland und die damit zusammenhängende Entwicklung einer "kollektiven Identität" war somit auf einen relativ geringen Vorrat an historischen Traditionsbeständen beschränkt.

Vor diesem Hintergrund ist die ambivalente Adaption von Stalin als Traditionsbestand auch zu erklären. Allerdings ist auch hier kritisch zu hinterfragen, welche Traditionsbstände mit Stalin konkret verknüpft werden.

Und "excideuil" hat ja bereits darauf hingewiesen, dass er mit der Abwehr einer Aggression in Verbindung gebracht wird. Und in den entsprechenden Studien, die auf Umfragen in Russland basieren, wird auch die kritische Bewertung der Rolle von Stalin im Rahmen des totalitären sowjetischen Experiments gesehen.

In diesem Sinne ist dem Resümee von "excideuil" zuzustimmen, dass ein Taler, in diesem Fall, mindestens zwei Seiten hat.
 
Stutzig gemacht hat mich der (von mir hervorgehobene) Titel, war doch Stalin Georgier.
Auf der Wikiseite zu Stalin findet sich dies:
"2008 wurde Stalin in einer Umfrage des russischen Staats-Fernsehens Rossija 1 nach der wichtigsten Figur der russischen Geschichte mit knappem Abstand, mit leichten Manipulationen gegen Stalin, hinter Alexander Newski und Pjotr Stolypin auf den dritten Platz gewählt."
Josef Stalin ? Wikipedia
Betrachtet man Alexander Newski, den von dir genannten Alexander I. und Stalin, dann stehen die Namen in Zusammenhang mit der Abwehr von Aggressoren, und damit auch für eine russische Identität. Das kann man wohl nicht negieren.
Zu Stalin selbst:
"Die positive Sicht auf Stalin erfährt in Russland derzeit einen Aufschwung. Er steht dabei als Symbol für ein starkes Russland. Der Sieg über den Nationalsozialismus wird wieder verstärkt zelebriert, steht jedoch nicht immer direkt mit einer Verehrung Stalins in Zusammenhang."
Und diese positive Sicht wundert mich nicht. Vor ein paar Jahren habe ich eine Reportage über Gebiete Rußlands gesehen, die nach dem Niedergang der Sowjetunion verloren haben. Da hingen Stalinbilder in den kargen Häusern und es herrschte die Meinung: "Stalin stand für Ordnung und wir hatten Arbeit!"

Ein Taler hat immer zwei Seiten.

Grüße
excideuil


Ich halte ja nicht viel von solchen Umfragen, in Deutschland wurde neben Luther und Adenauer Dieter Bohlen genannt. Mich wundert allerdings dass ein zaristischer Minister vor einem Zaren rangiert und dass Alexander I. vor Peter I. rangiert, bzw. dass der es nicht unter die Top 3 geschafft hat.
 
Wozu dient der Body Count?

Was ich mich immer Frage, wozu benötigen wir Opferzahlen? Was soll damit bewertet werden? Je mehr Opfer, je niederträchtiger ein Regime?

Ist nicht schon ein Opfer, in einer politischen Auseinandersetzung eines zu viel?

Wem dient das Zählen von Opfern? Dem politischem Gegner?

PS: Eine Anmerkung, meine Gedanken zu der Bewertung oder Wertigkeit von Opfern bzw. Opferzahlen war in einer allgemeinen gedanklichen Anlehnung zu verstehen und nicht nur auf das Eingangsthema bezogen.

Vielleicht wäre hier mal ein separates Thema sinnvoll ....
 
Zuletzt bearbeitet:
Was ich mich immer Frage, wozu benötigen wir Opferzahlen? Was soll damit bewertet werden? Je mehr Opfer, je niederträchtiger ein Regime?

Ich denke, es gehört einfach zur Geschichte des 20. Jahrhundert dazu. Wir dürfen niemals die Opfer der NS Zeit vergessen oder verdrängen Ebenso . muß auch die "andere" Seite aufgearbeitet werden. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.
 
Hallo


hab mal gelesen, das allein durch Stalinis Befehl im jahr 32/33 in der Zeit des Golodomor, nur in der Ukraine Ca7 Millionen Menschen durch Hunger gestorben sind.....da kommen noch zahlen von Weißrussland, Baltischen Staaten hin zu, und wie viel Leute wurden erschossen weil sie nach der Pfeife von dem sowjetischen Regime nicht tanzen wollten...
ich würde sagen das geht schon weit über 10millionen raus...
 
Zurück
Oben