Parlamentarisierung des Kaiserreiches?

Cliomara

Aktives Mitglied
Angeregt durch den thread über das "deutsche Übel" möchte ich hier eine Frage zur Diskussion stellen, die mich immer schon interessiert hat: War das Kaiserreich auf dem Weg in eine parlamentarische Monarchie?

Unter Historikern hat vor allem der Nipperdey-Schüler Manfred Rauh die These vertreten, dass das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Weg in eine parlamentarische Monarchie war. Diese Ansicht stieß natürlich bei der Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler auf Ablehnung.

Beide Seiten können Argumente ins Feld führen. In der Debatte über den Zwischenfall in Zabern 1913 beispielsweise missbilligte der Reichstag die Politik der Reichsregierung - eine Möglichkeit, die die Geschäftsordnung des Parlaments seit 1912 eröffnete. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Einflussmöglichkeiten der Volksvertretung begrenzt waren: Die Reichsregierung trat nicht zurück, denn der Reichskanzler hing nur vom Vertrauen des Kaisers ab.

Natürlich sind Fragen nach dem Motto: "Was wäre wenn?" nicht ungefährlich. Die Diskussion über mögliche Alternativen darf nur Optionen berücksichtigen, die schon damals eine Rolle spielten.

Wilhelm II. war nicht bereit, sich in die Rolle eines parlamentarischen Monarchen zu fügen. Erst angesichts der militärischen Niederlage zwang ihn die OHL im Herbst 1918 zu einer Verfassungsänderung - der Verlust des Krieges sollte den Politikern in die Schuhe geschoben werden.

Fraglich ist auch, ob das Parteiensystem des Kaiserreiches schon so weit gewesen wäre. In der konstitutionellen Monarchie müssen Parteien keine direkte Regierungsverantwortung tragen. Der Zwang zu Kompromissen und Zugeständnissen ist nicht so groß wie in einem parlamentarischen Regierungssystem. Ansätze zu einer regierungstragenden Mehrheit gab es beim so genannten "Bülow-Block", einer losen Koalition aus Linksliberalen, Nationalliberalen und Konservativen zwischen 1907 und 1908.

Eine andere Reichstagsmehrheit wäre wohl nur zwischen Sozialdemokraten und Liberalen möglich gewesen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Sozialdemokraten und Nationalliberalen waren sehr groß. Zwischen der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der SPD hatte es bei den Reichstagswahlen 1912 ein Stichwahlabkommen gegeben, aber Teile der freisinnigen Wähler folgten nicht der Empfehlung der linksliberalen Parteiführung.

Innerhalb der SPD hatte zumindest der linke Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Vorbehalte; lediglich die Revisionisten begrüßten eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien, die in einigen süddeutschen Landtagen wohl schon praktiziert wurde.

Ob das Zentrum vor 1914 zu einem Bündnis mit der SPD und den beiden liberalen Parteien bereit gewesen wäre, ist für mich ebenfalls fraglich.

Wie sieht man hier im Forum die Situation? Kann der wachsende Einfluss des Reichstages als Parlamentarisierungsprozess bezeichnet werden? Und hätten die deutschen Eliten einer Entmachtung freiwillig zugestimmt wie 1910 das englische Oberhaus?
 
Für eine Veränderung des politischen Systems ist nach Einflussgrößen zu fragen, die die notwendige Dynamik hätten initiieren können.

1. Außenpolitische Situation
In der Regel wird eine angespannte außenpolitische Situation genutzt, um das Lager-Denken zu befördern und innenpolitische Opposition mundtot zu machen.

Unter dieser Sichtweise hätte eine relative entspannte außenpolitische Situation vorhanden sein müssen, um innenpolitische Reformen zu initieren und durchzusetzen.

2. Politisches Subjekt
Wer hätte die Dynamik als historisches Subjekt initieren sollen?
- Kapital: Sofern es durch eine verkrustete politische Struktur zu einer massiven Beeinträchtigung der Reallokation des Kapitals und der damit verbundenen Fähigkeit, Gewinn zu erzeugen, gekommen wäre, hätte sich der Druck z.B. der chemischen Industrie, der aufstrebenden Elektroindustire oder der Schwerindustrie etc. in Richtung Reformen verstärkt. Das hätte aber durchaus nicht auf politischen, sondern lediglich auf wirtschaftlichen Gebiet sein können.

Insofern fällt diese Gruppe als dynamisierendes Element um 1914 vermutlich aus. Von der überwiegenden "alldeutschen Haltung" dieser Gruppe ganz zu schweigen.

- Mittelschicht: Die aufstrebende Schicht der Intelligenz und der Techniker, die über eine hervorragende Ausbildung und relativ begrenzte Möglichkiten zu politischen Partizipation besaß, wäre sicherlich eine Ressource gewesen, aus der sich ein historisches Subjekt hätte speisen können.

Es ist nicht unwahrscheinlich, m.E. dass die aufstrebende Mittelschicht auf eine Reform der poltischen Verhältnissse hin gearbeitet hätte. Immer unter der Voraussetzung, dass es keine Möglichkeiten gab, Patriotismus zu instrumentalisieren.

- Arbeiterschaft: Die mobilisierte Arbeiterschaft verfügte über die Organisationen, über die entsprechende Ideologie und hatte das Gefühl, der "Zeitgeist" sei auf ihrer Seite.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Gruppe als historisches Subjekt einen aktiven Druck in Richtung einer erhöhten politischen Teilhabe vorgenommen hätte.

Unklar ist in diesem Szenario, in welchem Umfang die zweifellos vorhandenen reaktionären Tendenzen im Umfeld von KW2, eine evolutionäre Umgestaltung akzeptiert hätten. Die parteipolitisch organsierte Arbeiterschaft ist sicherlich nicht als angemessene politische Größe betrachtet worden, der man eine erweiterte politische Teilhabe hätte zugestehen wollen.

Die Dokumente, die die Bereitschaft indizieren während des WW1 eine quasi Militärdiktatur zu etablieren, deuten zumindest an, dass die politische Agenda auf die Erhaltung des politischen Status quos ausgerichtet war und politische Reformen nicht intendiert waren.

Insofern tendiere ich prsönlich eher zur Auffassung von Wehler, was ich eh tue:grübel:
 
Zuletzt bearbeitet:
Wilhelm II. war nicht bereit, sich in die Rolle eines parlamentarischen Monarchen zu fügen. Erst angesichts der militärischen Niederlage zwang ihn die OHL im Herbst 1918 zu einer Verfassungsänderung - der Verlust des Krieges sollte den Politikern in die Schuhe geschoben werden....
Und hätten die deutschen Eliten einer Entmachtung freiwillig zugestimmt wie 1910 das englische Oberhaus?

Eine Überlegung dazu am Rande, thanepowers innenpolitischer Darstellung schließe ich mich ansonsten an:

Die Frage wäre, ob es Indizien für den Widerstandswillen "der deutschen Eliten" gegen die Parlamentarisierung gegeben hat.

Hierzu könnte man auf das Ringen um die diversen Heeresvermehrungs-Vorlagen abstellen. Dabei möchte ich nicht auf die Kostenstreitereien zielen. In der "Verwässerung" des Heeres, einerseits durch Aufstockung der Mannschaften aus breiten Schichten, andererseits durch den Zugang der bürgerlichen Schichten zum Offizierskorps, umgekehrt die schwächere Bedeutung des adligen Offizierskorps, wurde eine Gefahr für den Charakter des Heeres als Eventual-"Bürgerkriegsarmee" gesehen.

Ein Teil der Führungseliten - auch der Armee - hatte demnach die Sichtweise, dass diese nach innen gerichtete Sicherungsfunktion der Armee nicht geschwächt werden durfte. Das spricht aber nicht gerade für eine Bereitschaft, die Entwicklung des Parlamentarismus hinzunehmen.

Von dieser Basis aus kann man natürlich wieder den Bogen zur Militärdiktatur schlagen, wie oben von thanepower ausgeführt.
 
Zu Illustration von Thanepowers Überlegungen und silesias Kommentar.

Wie erfolgreich die politischen Eliten eine Parlamentarisierung verhinderten, kann man z.B. im größten deutschen Bundesstaat ablesen.

Von dem Mecklenburger Anachronismus mal ganz abgesehen.

Außerdem hätte eine Parlamentarisierung zwangsläufig auch den Einfluß des/der Bundesrates/Bundesstaaten zumindest "schleichend" verringert.

M.
 
Zuletzt bearbeitet:
Vor kurzem ist mir zufällig die in interessante Einschätzung Ludwig Thomas (der von den Filser-Briefen) untergekommen.
Er ist der Meinung insbesondere das Bildungsbürgertum hätte sich die Ausgrenzung aus den politischen Entscheidungen nur deshalb noch gefallen lassen, weil ständig der Wohlstand wuchs.
 
Wie erfolgreich die politischen Eliten eine Parlamentarisierung verhinderten, kann man z.B. im größten deutschen Bundesstaat ablesen.

Es gibt ja eine Reihe Studien, die ua. "Flucht in den Nationalismus", "massiven Durchbruch völkischer Deutungsmuster" (vgl. auch den stark aufgeheizten Antisemitismus im Zuge der so genannten Depression, die als "Gründer- und Börsenkrisis" erschütterte, und für die in damaligen Standardwerken der "zu 90% Juden" verantwortlich gemacht wurden) zum Gegenstand haben, weiterhin den "Doppelte Militarismus" von unten und oben sowie die "Volksgemeinschaft" aufgrund der außenpolitischen Bedrohungen und des nationalen Zieles, vom kolonialen Kuchen etwas abzubekommen.

zB
SEHEPUNKTE - Rezension von: Die Verteidigung der bürgerlichen Nation - Ausgabe 4 (2004), Nr. 3

Und dann gab es noch die Auseinandersetzungen innerhalb der Schichten der Republik, womit man bei den Unternehmern und Industriellen und Agrariern angekommen ist, die sich ihrerseits der Arbeitnehmerschaft bzw. permanenten Finanzproblemen und drohendem Verlust der eigenen Stellung gegenüber stehen sahen (wie bei allen gab es Ausnahmen).

Aus den Zutaten bildeten sich dann unterschiedliche Koalitionen, eben auch durchaus systemtragende.
 
Vor kurzem ist mir zufällig die in interessante Einschätzung Ludwig Thomas (der von den Filser-Briefen) untergekommen.
Er ist der Meinung insbesondere das Bildungsbürgertum hätte sich die Ausgrenzung aus den politischen Entscheidungen nur deshalb noch gefallen lassen, weil ständig der Wohlstand wuchs.
Wie in vielen anderen Ländern verzögert wachsender Wohlstand die Erzwingung grundlegender Reformen.

Das Deutsche Reich funktionierte gut, sehr viele hatten im Vergleich zu den Vorjahren ein "besseres" Leben, der technologische und wirtschaftliche Fortschritt ließ Ideen von mehr Demokratie als theoretisch erscheinen. Nur wenige wollten die materielle Situation durch eine Änderung des politischen Systems riskieren bzw. das Argument, die Art der Regierungsbildung wäre verbesserungswürdig, wog nicht sehr schwer.

Eine Parlamentarisierung wäre wohl daher erst dann in Frage gekommen, wenn die Entwicklung der ländlichen Gegend deutlich weiter voran gekommen wäre (die Eisenbahn und später auch der Kraftverkehr waren die Träger). Im 19. Jahrhundert musste eine Regierung noch nicht so komplexe Entscheidungen wie heute treffen. Ein Wechsel änderte zwar den Kreis derer, die besonders profitierten, es fiel aber noch genug für fast alle ab. Die Verlierer der industrielle Revolution waren im Gegenzug auch nicht gut organisiert und hatten keine echten Alternativen. Dies ermöglichte "dem System" eine Reaktion auf die offenkundigen Missstände (Sozialversicherungen, Mindestnormen für Gesundheit, Mietshäuser usw.). Auch wenn diese Reaktionen immer hinter den Bedürfnissen her liefen, so waren sie doch im Alltag sehr deutlich zu spüren.

Daher sehe ich eine Änderung der Verfassung erst so im Jahr 1930 (von 1910 aus gesehen), also locker 20 Jahre nach der Entwicklung in England.

Solwac
 
Wie in vielen anderen Ländern verzögert wachsender Wohlstand die Erzwingung grundlegender Reformen.

...

Eine Parlamentarisierung wäre wohl daher erst dann in Frage gekommen, wenn die Entwicklung der ländlichen Gegend deutlich weiter voran gekommen wäre (die Eisenbahn und später auch der Kraftverkehr waren die Träger). Im 19. Jahrhundert musste eine Regierung noch nicht so komplexe Entscheidungen wie heute treffen. Ein Wechsel änderte zwar den Kreis derer, die besonders profitierten, es fiel aber noch genug für fast alle ab. Die Verlierer der industrielle Revolution waren im Gegenzug auch nicht gut organisiert und hatten keine echten Alternativen. Dies ermöglichte "dem System" eine Reaktion auf die offenkundigen Missstände (Sozialversicherungen, Mindestnormen für Gesundheit, Mietshäuser usw.). Auch wenn diese Reaktionen immer hinter den Bedürfnissen her liefen, so waren sie doch im Alltag sehr deutlich zu spüren.

Daher sehe ich eine Änderung der Verfassung erst so im Jahr 1930 (von 1910 aus gesehen), also locker 20 Jahre nach der Entwicklung in England.

Solwac

@Solwac

An Deinem Posting verstehe ich einiges nicht, mag an mir liegen.

"Wie in vielen anderen Ländern verzögert wachsender Wohlstand die Erzwingung grundlegender Reformen."

Wieso sollte wachsender Wohlstand politische Reformen "ausbremsen"? Hier fehlt mir der soziologische und historische Zugang. Klar, kann eine Regierung mit sozialen "Segnungen" das systemstabilisierende Wohlverhalten seiner Bürger/Untertanen gleichsam erkaufen, aber m.E. war das DR und die Bundesstaaten davon weit entfernt. Vielmehr identifizierten sich die meisten Bürger/Untertanen mit dem System des DR (Sonderrolle SPD und organisierte Arbeiterbewegung sowie einige Ausnahmen).

"Eine Parlamentarisierung wäre wohl daher erst dann in Frage gekommen, wenn die Entwicklung der ländlichen Gegend deutlich weiter voran gekommen wäre (die Eisenbahn und später auch der Kraftverkehr waren die Träger)."

Du stellst auf den ländlichen Raum ab, vermutest Du in der agrarischen Bevölkerung einen "Träger des Parlamentarismus"?

Die einzige Konstante bei den Wahlergebnissen zum Reichstag bis 1912 war die stetige Zunahme des Stimmenanteils der SPD.

Vergl.:

Reichstag 1867-1918

Diese These würde ich verneinen wollen.

"...(die Eisenbahn und später auch der Kraftverkehr waren die Träger)..."

Ehrlich, bester Mitdiskutant, das verstehe ich im Zusammenhang mit der Parlamentarisierung überhaupt nicht. Vllt. hast Du etwas verkürzt geschrieben.

"Daher sehe ich eine Änderung der Verfassung erst so im Jahr 1930 (von 1910 aus gesehen), also locker 20 Jahre nach der Entwicklung in England."

Meinst Du damit eine hypothetische Extrapolierung der Verfassung von 1871 und der Verfassungswirklichkeit vor 1914 bis 1930?


M. :winke:
 
Wieso sollte wachsender Wohlstand politische Reformen "ausbremsen"? Hier fehlt mir der soziologische und historische Zugang. Klar, kann eine Regierung mit sozialen "Segnungen" das systemstabilisierende Wohlverhalten seiner Bürger/Untertanen gleichsam erkaufen, aber m.E. war das DR und die Bundesstaaten davon weit entfernt. Vielmehr identifizierten sich die meisten Bürger/Untertanen mit dem System des DR (Sonderrolle SPD und organisierte Arbeiterbewegung sowie einige Ausnahmen).
Identifikation mit dem Reich bedeutet ja nicht, dass nicht trotzdem mehr Mitbestimmung gefordert werden kann.

Aber in Zeiten wirtschaftlicher Verbesserung will man den Wohlstand nicht so riskieren und geht daher weniger "radikal" an die Veränderungen. Zulauf bekommt eine solche Bewegung, wenn die Regierung Entscheidungen gegen die eigenen Interessen (sprich Wohlstand) trifft. Vorher ist mehr Parlamentarismus leicht eine Sache des Prinzips. Ich meine, dies sieht man gut an der Unterstützung 1848 durch die Bevölkerung.

Du stellst auf den ländlichen Raum ab, vermutest Du in der agrarischen Bevölkerung einen "Träger des Parlamentarismus"?
Nicht so sehr in der Bevölkerung als ganzes, eher die wirtschaftliche und politische Oberschicht. Ein Beispiel ist der Ausbau der Eisenbahnen nach dem Preußischen Kleinbahngesetz. Hier wurden Interessen der ländlichen Regionen in einer Art und Weise berücksichtigt, die eine Parlamentarisierung weniger dringlich machte. Politische Ambitionen wurden in die Wirtschaft umgeleitet.

Die einzige Konstante bei den Wahlergebnissen zum Reichstag bis 1912 war die stetige Zunahme des Stimmenanteils der SPD.
Die Arbeiter hatten keine traditionelle Vertretung ihrer Interessen, die Patronage durch Großindustrielle konnte dies nicht leisten.

Das Verhalten weiter Teile der Arbeiterschaft im ersten Weltkrieg sind ein gutes Beispiel für die Kombination Unterstützung des Reiches und Wunsch nach mehr Mitbestimmung (s.o).

"...(die Eisenbahn und später auch der Kraftverkehr waren die Träger)..."

Ehrlich, bester Mitdiskutant, das verstehe ich im Zusammenhang mit der Parlamentarisierung überhaupt nicht. Vllt. hast Du etwas verkürzt geschrieben.

"Daher sehe ich eine Änderung der Verfassung erst so im Jahr 1930 (von 1910 aus gesehen), also locker 20 Jahre nach der Entwicklung in England."

Meinst Du damit eine hypothetische Extrapolierung der Verfassung von 1871 und der Verfassungswirklichkeit vor 1914 bis 1930?
Ja, ich meine einen hypothetischen Rückstand zur Entwicklung in Großbritannien (Beispiel 1910, "Entmachtung" des Oberhauses).
Im Vergleich zu Großbritannien (mit Frankreich kenne ich mich nicht so gut aus) fällt die Rückständigkeit der ländlichen Regionen auf, die dann durch verbesserte Verkehrsträger aufgeholt wurde. Dadurch gab es neben der Binnenwanderung (in Richtung der Ballungsräume) eine zweite Möglichkeit der Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist die Gründung vieler Zuckerfabriken.

Solwac

P.S. Aber Du hast recht, es ist schwer hier in einem Forumsbeitrag mein persönliches Bild der damaligen Entwicklung darzustellen. Und eine wissenschaftliche Arbeit will ich auch nicht schreiben. ;)
Ich hoffe aber trotzdem, dass meine Gedanken wenigstens etwas klarer geworden sind. Es ist halt ein komplexes und interessantes Thema...
 
@solwac

Deinem P.S. kann ich nur beipflichten, aber es gibt halt Grenzen des Mediums "Forum".

"Ja, ich meine einen hypothetischen Rückstand zur Entwicklung in Großbritannien (Beispiel 1910, "Entmachtung" des Oberhauses)."

Der von Dir postulierte Rückstand zu UK ist relativ. Bis 1918 gab es in UK ein Zensuswahlrecht, im DR ein allgemeines, geheimes und freies Wahlrecht (freilich nur für Männer).

"...während in England noch sehr viel länger (bis zum Ersten Weltkrieg) große Teile der Bevölkerung ihrer finanziellen Situation wegen ausgeschlossen wurden. Bis 1918 durften etwa 52 Prozent der Männer wählen."

Wahlrecht ? Wikipedia

Vergl. 3.2.:
http://www.gespol.jku.at/Portale/In...e15064/e15067/files15076/229068_Zopf_SS09.pdf

Ein "Oberhaus", "Herrenhaus" etc. gab es im DR nicht. Der Bundesrat ist schwerlich mit dem "Oberhaus" UK vor 1910 zu vergleichen.

Will sagen, ein "Demokratiedefizit" gab es zwischen UK und dem DR im UZ nicht, zumindest nicht beim Wahlrecht (one man, one vote im DR, nicht in UK).

Vergl.: Artikel 20, Absatz I

documentArchiv.de - Verfassung des Deutschen Reichs ["Bismarcksche Reichsverfassung"] (16.04.1871)

Natürlich gab es ein "Demokratiedefizit" hinsichtlich der Verantwortlichkeit der "Reichsregierung" in Bezug auf den Reichstag. Aber da sind wir dann bei dem Rubrum des Threads "Parlamentarisierung".

Deine sozioökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Argumente kann ich schon antizipieren, allerdings, und da hast Du recht, dafür ist das Medium "Forum" nicht geeignet.

M.
 
Mein Vorredner hat sich da schon korrigiert, aber ein wichtiger Unterschied zu England scheint mir darin zu bestehen, dass es in England seit dem 18. Jahrhundert eine Kultur des Parlamentarismus gab, wenn es auch kein demokratisches Parlament in unserem Sinne war.

Doch die britischen Eliten waren bereit, auf Dauer Zugeständnisse zu akzeptieren, auch wenn man sie ihnen mühsam abringen musste, wie die Wahlreformen im 19. Jahrhundert.

Was den demokratischen Parlamentarismus angeht: Selbst in der Daily-Telegraph-Affäre wollten die Nationalliberalen, die Linksliberalen und das Zentrum kein parlamentarisches Regime erzwingen. Ich glaube, das deutsche Bürgertum strebte 1908 keine parlamentarische Monarchie an.
 
Angeregt durch den thread über das "deutsche Übel" möchte ich hier eine Frage zur Diskussion stellen, die mich immer schon interessiert hat: War das Kaiserreich auf dem Weg in eine parlamentarische Monarchie?

Unter Historikern hat vor allem der Nipperdey-Schüler Manfred Rauh die These vertreten, dass das Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Weg in eine parlamentarische Monarchie war. Diese Ansicht stieß natürlich bei der Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler auf Ablehnung.

Beide Seiten können Argumente ins Feld führen. In der Debatte über den Zwischenfall in Zabern 1913 beispielsweise missbilligte der Reichstag die Politik der Reichsregierung - eine Möglichkeit, die die Geschäftsordnung des Parlaments seit 1912 eröffnete. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Einflussmöglichkeiten der Volksvertretung begrenzt waren: Die Reichsregierung trat nicht zurück, denn der Reichskanzler hing nur vom Vertrauen des Kaisers ab.

Natürlich sind Fragen nach dem Motto: "Was wäre wenn?" nicht ungefährlich. Die Diskussion über mögliche Alternativen darf nur Optionen berücksichtigen, die schon damals eine Rolle spielten.

Wilhelm II. war nicht bereit, sich in die Rolle eines parlamentarischen Monarchen zu fügen. Erst angesichts der militärischen Niederlage zwang ihn die OHL im Herbst 1918 zu einer Verfassungsänderung - der Verlust des Krieges sollte den Politikern in die Schuhe geschoben werden.

Fraglich ist auch, ob das Parteiensystem des Kaiserreiches schon so weit gewesen wäre. In der konstitutionellen Monarchie müssen Parteien keine direkte Regierungsverantwortung tragen. Der Zwang zu Kompromissen und Zugeständnissen ist nicht so groß wie in einem parlamentarischen Regierungssystem. Ansätze zu einer regierungstragenden Mehrheit gab es beim so genannten "Bülow-Block", einer losen Koalition aus Linksliberalen, Nationalliberalen und Konservativen zwischen 1907 und 1908.

Eine andere Reichstagsmehrheit wäre wohl nur zwischen Sozialdemokraten und Liberalen möglich gewesen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Sozialdemokraten und Nationalliberalen waren sehr groß. Zwischen der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei und der SPD hatte es bei den Reichstagswahlen 1912 ein Stichwahlabkommen gegeben, aber Teile der freisinnigen Wähler folgten nicht der Empfehlung der linksliberalen Parteiführung.

Innerhalb der SPD hatte zumindest der linke Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Vorbehalte; lediglich die Revisionisten begrüßten eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien, die in einigen süddeutschen Landtagen wohl schon praktiziert wurde.

Ob das Zentrum vor 1914 zu einem Bündnis mit der SPD und den beiden liberalen Parteien bereit gewesen wäre, ist für mich ebenfalls fraglich.

Wie sieht man hier im Forum die Situation? Kann der wachsende Einfluss des Reichstages als Parlamentarisierungsprozess bezeichnet werden? Und hätten die deutschen Eliten einer Entmachtung freiwillig zugestimmt wie 1910 das englische Oberhaus?


In dieser Darstellung fehlt mir die Osterbotschaft aus dem Jahre 1917 von Wilhelm, in der er, wenn auch nicht so umfänglich wie gewünscht, eine Reform des Dreiklassenwahlrechts Preußen angekündigt hatte. Und das etwas und dann auch noch während des Krieges und das auf Druck von seiten des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg.
 
Welcher wachsende Einfluss?:confused:

Ich mutmaße einmal, das Cliomara möglicherweise auf die Bildung des interfraktionellen Auschusses im Juli 1917 abhebt. Nur dessen Erfolge waren ja auch sehr begrenzt. Bei der Nachfolge des maßgeblich von Ludendorff gestürzten Reichskanzlers Bethmann hatten die Parlamentarier nichts zu bestellen. Okay, Michaelis war so schlau und hat ein paar Abgeordnete der Mehrheitsparteien zu Staats- und Unterstaatssekretären gemacht. Des Weiteren wurde die Friedensresolution angenommen. Das war es denn auch vorläufig schon. Mit der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Kanzlers war weiterhin Fehlanzeige.
 
Bis in das 18. Jahrhundert fußte das monarchische Prinzip auf dem "Gottesgnadentum". Dieses wurde jedoch im Zeitalter der Aufklärung und der sich anschliessenden Revolution in Frankreich als nicht mehr zeitgemäß abgelehnt. Die Beibehaltung der monarchistischen Staatsform gründe sich nunmehr auf das "Gewohnheitsrecht", mindestens aber auf das "Eigentum" des Monarchen am Staat. Allen Modellen ist gemein, dass die Macht vom Monarchen ausgeht, während im Parlamentarismus die Macht vom Volk ausgeht. Eine Parlamentarisierung des Kaiserreichs kann demzufolge nur durch erkennbare Machtverschiebung zwischen dem Monarchen zugunsten des Volkes aufgezeigt werden. Kleinere Machtverschiebungen sind vielleicht während des Weltkrieges aufgrund der militärischen (Zwangs-)lage erkennbar, aber vor 1914 gibt es dafür keine Belege. Eher im Gegenteil: Ließ der Großvater (Wilhelm I.) zumindest seinen Kanzler an der Macht teilhaben, sagte man dem Vater (Friedrich III.) eine Affinität England gegenüber zu (und dem parlamentarischen System), so muß man für den Sohn (Wilhelm II.) konstatieren, dass das monarchische Prinzip bis hin zum ehemaligen Gottesgnadentum Triumphe feierte. Als Beleg dafür sei das "persönliche Regiment" angeführt welches Wilhelm II. nach Bismarcks Abgang proklamierte. Auch die Anmaßung wie Wilhelm II. als Kaiser im In- und Ausland auftrat widerspricht eklatant dem föderativen Gedanken des Reichs - nämlich ein Zusammenschluß gleichberechtigter Fürsten zu sein!

Die Duldung seines Verhaltens durch das Volk und die Fürsten liegt begründet in der Tatsache, dass Wilhelm II. scheinbar Recht hatte: Er führte das Reich "sonnigen Zeiten" entgegen; die Wirtschaft boomte, er mühte sich um sozialen Ausgleich, deutsche Forschung war Spitzenklasse, "made in Germany" wurde ein weltweites Gütezeichen und -last but not least- galt er zu Recht bis 1914 als Friedenskaiser.

Erst als Wilhelm II. merkte, dass, so wie er die Früchte des Erfolgs erntete er auch die Verantwortung für Misserfolge zu schultern hatte, hätte sich eine Machtverschiebung vom Monarchen zum Parlament hin vollziehen können - entweder durch Verzicht des Monarchen und/oder durch gesteigerten Druck des Parlaments. Die Gelegenheit dafür ergaben sich, beispielsweise nach der Daily-Telegraph-Affaire, wurden jedoch nicht ergriffen. Auch im Verlauf des Weltkriegs hat Wilhelm II. nie aus Verstand heraus Machtbefugnisse abgegeben sondern lediglich durch mehr oder weniger "sanften Druck" seiner "leitenden Angestellten".
 
Franz Ferdinand schrieb:
Er führte das Reich "sonnigen Zeiten" entgegen; die Wirtschaft boomte, er mühte sich um sozialen Ausgleich, deutsche Forschung war Spitzenklasse, "made in Germany" wurde ein weltweites Gütezeichen und -last but not least- galt er zu Recht bis 1914 als Friedenskaiser

Unter der Herrschaft Wilhelm II. hat sich die außenpolitische Situation des Deutschen Reiches dramatisch verschlechtert. Im Juli 1914 galt "nur" noch Österreich-Ungarn als einziger zuverlässiger Bündnispartner. Das anvisierte Ziel Weltmacht zu werden, wurde nicht erreicht. Stattdessen hat man den Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich ohne Not nicht verlängert, geriet mit dem Bau der deutschen Hochseeflotte immer mehr in Gegensatz zu Großbritannien.

Italien galt zu recht als unzuverlässig. Rumänien war auf dem Wege zur Entente; Griechenland ebenfalls mit Hilfe französisches Kapitals. Bulgarien war nach dem 2.Balkankrieg geschwächt und hatte von Österreich-Ungarn keine entscheidene Unterstützung erfahren. Serbien frönte mit russischer Unterstützung seinen Expansionstreben. Die Türkei galt als kranker Mann.

Dem Deutschen war es nicht gelungen, trotz intensiver Bemühungen Großbritannien eine Neutralitätserklärung für den Falle eines Krieges zu entlocken. Im Gegenteil, man musste geradezu ohnmächtig mitansehen, wie Großbritannien und Russland über eine Marinekonvention verhandelten.

Von sonnigen Zeiten würde ich da eher nicht sprechen.
 
Das hat man aber erst gemerkt nachdem es zu spät war. Und wenn am 28. kein Thronfolger erschossen worden wäre, vielleicht auch nie. Ein paar Jahre später hätte Niemand es mehr gewagt das Schlieffenplan durch zu führen. Die USA und Japan hätten Großbritannien zur aufgabe des Two-Power Standart gezwungen.

Das politische System des Kaiserreichs erscheint mir aber recht stabil, eine ziemlich gute Machtteilung zwischen Kaiser und Volksvertretung. Sogar nach Kriegsende waren es die Siegermächte, nicht die Deutschen selbst die den Kaiser zum Sturz brachten.
 
Von sonnigen Zeiten würde ich da eher nicht sprechen.

Gemäß Bill Clinton: " it´s the economy, stupid!" war es den Deutschen im Kaiserreich wohl lange Zeit egal was außenpolitisch passierte. Selbst anfängliche Eskapaden des Kaisers wurden eher belächelt als kritisiert. Erst mit der Daily-Telegraph-Affaire kam es zu einem erstmaligen negativen Gefühlsausbruch quer durch alle Schichten der Gesellschaft, der den Kaiser sichtlich erschreckte! Viele Deutsche fragten sich nun ernsthaft, ob eine moderne Industrienation und antiquirtes imperiales "Gehabe" noch zusammen passt, oder ob dies nicht dem weiteren wirtschaftlichen Aufstieg hinderlich ist. Wie sollte man Handel mit England treiben wenn selbst der Kaiser öffentlich die Überzeugung vertrat, dass - außer ihm - die Deutschen England nicht leiden können?
Bis dahin gab es wohl "sonnige Zeiten" und die dunklen Wolken sahen nur die, die sie wohl auch verursachten.
 
Gemäß Bill Clinton: " it´s the economy, stupid!" war es den Deutschen im Kaiserreich wohl lange Zeit egal was außenpolitisch passierte.

Ich weiß nicht, ob Bill Clintion nun die Referenz für die Geschichte des Kaiserreichs ist.

Ich meine mich zu erinnern, dass das persönlihe Regiment Wilhelm II. weder in der Öffentlichkeit noch in den Parteien ein sonderlich guten Ruf genoss. Nach der Entlassung von Caprivi gab es einige Unruhe. So galt Wilhelm II. eben nicht als populärer Herrscher. Ganz im Gegenteil. Es bestand der Eindruck, das der monarchische Gedanke durch das persönliche Regiment und das öffentliche Auftreten des Monarchen eher belastet als gefördert wurde. So war beispielsweise Friedrich von Holstein davon überzeugt, das die permanenten Übergriffe des Kaisers in die Regierungsgeschäfte auf Sich in die Katastrophe führen würden. (1)

Bernhard von Bülow äußerte sich über den Kaiser so, [.....] "Die vielfach vorhandene Unzufriedenheit, welche ich nicht leugnen will, richtet sich mehr gegen das "Wie" als gegen das "Was" in den Handlungen des Kaisers." (2)

Hohenlohe, der neue Kanzler und Platzhalter für Bülow, sah seine erste und wichtigste ufgabe erst einmal darin, dass Misstrauen der Öffentlichkeit, der Parteien, des Reichstages gegenüber der Regierung und Wilhelm II. abzubauen. Mit den Staatstreichsplänen die am Hofe Wilhelm II. gehandelt wurden, wollte Hohenlohe nichts wissen. Naj ja, die Umsturzvorlage aus dem Jahre 1894 erfreute sich auch nicht gerade großer Beliebtheit. Gleiches gilt für die spätere Zuchthausvorlage aus dem Jahre 1899, die beide abgelehnt wurden, aber gerade die letztere hat für Unruhe gesorgt. Es gab große Demonstrationen.
Das sind jetzt nur ein paar Beispiele. Der spätere Eulenburgskandal, hat wohl das ganze Kaiserreich in seinen Fundamenten erschüttert.


(1) Mommsen, Kaiser, S.74

(2) Krisen,Krieg und Katastrophen Bd.3, Brief Bülow an Eulenburg 15.12.1894, S.1714
 
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