Phantasie in der Geschichtswissenschaft - "erlaubt"? Und wenn ja, wie viel?

El Quijote

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Wie steht es eigentlich mit der Phantasie in der Geschichtswissenschaft? Ist sie "erlaubt"? Oder gar notwendig? Wie viel Phantasie ist notwendig und wann wird's "gefährlich"?
 
Zunächst wäre festzustellen, daß Phantasie sicherlich erst einmal unabdingbares Medium ist, wenigstens im Sinne der allgemeinen Vorstellungskraft. Ich denke dabei an den Prozeß beim Lesen beispielsweise von Romanen, der gewissermaßen auf diese Gabe im Rezipienten angewiesen ist und sich zum Teil auch unwillkürlich einstellt.
Je mehr man sich mit historischen Gestalten beschäftigt, macht man sich auch eigene Vorstellungen, das auf dem einen oder anderen Detail, das man besonders gemerkt hat aufbaut, z. B.
Bezieht man diesen Gedanken dann auf bekannte Historiker, die gar versucht haben, Charakterbilder zu "zeichnen" - teils vielleicht auf Quellen gestützt, aber ebenso wohl anhand ihnen möglicherweise bekannten Zeitgenossen, könnte man eventuell argumentieren, daß sich durch die Rezeption (beispielsweise durch Einsatz in der schulischen Lehre) gar kollektive Phantasien entwickelten.
Ein solches Ergebnis wieder rückgängig zu machen, ist dann freilich auch wieder Aufgabe der Geschichtswissenschaft.
Die Gefahr des Phantaisegebrauchs läge also darin, das konstruierte historische Bild absolut zu setzen und nicht nicht mehr zu reflektieren, daß die eigenen und kollektive Vorstellungen die historischen Bilder prägen.
Die Frage nach der Erlaubnis erübrigt sich, insofern ihre Unterdrückung eher kontrapruktiv wirken muß, weil sie ggf. den Reflexionsprozeß vereitelt.

Strenger ließe sich die Frage vielleicht aber unter dem Blickwinkel des Paradigmas (im Sinne Kuhns) beantworten. Dann ließe sich argumentieren, daß gerade in Umbruchszeiten der historischen Forschung besonders Phantasie gefragt wäre, während innerhalb eines etablierten Paradigmas die Phatasie insofern eingeschränkt wird, als daß bestimmte Fragestellung eher schematisch verfolgt werden und autormatisiert beantwortet werden.

Provokant formuliert könnte man sogar sagen: Geschichte ist sogar nichts anderes als kollektive Phantasie - allerdings klingt mir das zu relativistisch.
 
Ich musste die Theorie von Hayden White für eine Prüfung an der Uni lernen der meint.

Das in Fakten keine Geschichte erhalten ist und wir Historiker entscheiden wie wir die Geschichte interpretieren.
 
Wie steht es eigentlich mit der Phantasie in der Geschichtswissenschaft? Ist sie "erlaubt"? Oder gar notwendig? Wie viel Phantasie ist notwendig und wann wird's "gefährlich"?

Bei dieser Frage wäre zunächst zu klären, was du in diesem Zusammenhang unter "Fantasie" verstehst?

Dazu fallen mir zunächst historische Romane ein, die einen realen historischen Sachverhalt mehr oder weniger korrekt wiedergeben und ihn mit einer erdachten Handlung verbinden.

Ferner fallen mir besonders in Verbindung mit der Geschichtswissenschaft noch Hypothesen ein, die zumindest reale Bedingungen voraussetzen, und schließlich Spekulationen, die Behauptungen aufstellen, die realer Voraussetzungen entbehren. Beide Formen sind zulässig und werden in der Geschichtswissenschaft auch vielfältig angewendet.

Was man sonst noch unter "Fantasie" in der Forschung verstehen könnte, entzieht sich momentan meiner Vorstellung.
 
Historische Romane kannst bzw. solltest du mit Blick auf die ÜS (Phantasie in der Geschichtswissenschaft) getrost ausblenden.
 
Dieter, Fantasie ist in der Wissenschaft der Kitt der Fakten. Man kann meist ja nur Anfang und Ende von Vorgängen direkt zeigen, die Zwischenschritte/Vorgänge dazwischen entziehen sich ja der Beobachtung/Dokumentierung, da bleibt nur die Fantasie des Leser durch Beschreibung/eigene Fantasie anzuregen.
Auch die Extrapolierung von Fakten ist ja Fantasie .

Was nutzt mir der Fundort, die Herstellungszeit, ja die Analyse eines Werkstücks, wenn ich mir nicht vorstellen kann/darf wie und woraus es entstanden ist und wie es dahin kam, wo es gefunden wurde? Nur durch fantasievolle Verknüpfung anderer mir bekannter Faktoren/Kenntnisse "erzählt" der Fund eine Geschichte, das Werkstück "spricht". Im Idealfall führt dann meine Fantasie dazu, das eine Replik/Rekonstruktion entsteht, die dem Original so gleicht, das beide in ein paar Jahrhunderten nicht zu unterscheiden sind ;-).
 
Ich halte die Fantasie, bzw. die Vorstellungskraft in der Geschichtsschreibung für äußerst wichtig. Ohne sie gibt es nur ein Auflisten, aber keine Interpretation - also wie eine Datensammlung ohne Auswertung. Das Ausmalen einer geschichtlichen Figur erweckt nicht nur mehr Interesse (inkl. Forschungsdrang), sondern beflügelt auch Ideen, um nach Fakten an zuvor unvermuteten Orten zu suchen. Die Fantasie durchbricht also den gewohnten Rahmen, den die traditionelle Selektion einer Geschichtsschreibung vorgibt.

Ohne Fantasie bleibt man ein Sklave bestehender Ansichten, bestenfalls ein Sammler. Das kreative Hinterfragen ist sogar oft die einzige Methode, eine traditionell als wahr empfundene Fantasie-Geschichtsschreibung zu entlarven. Fantasie ist also nicht selten unbequem, deshalb oft auch unerwünscht.
 
Wie steht es eigentlich mit der Phantasie in der Geschichtswissenschaft? Ist sie "erlaubt"? Oder gar notwendig? Wie viel Phantasie ist notwendig und wann wird's "gefährlich"?

@ElQ

Gute Frage, schwere Frage.

Da Du historische Romane explizit ausschließt, bliebe der Spagat zwischen geschichtsphilosophischer Spekulation, der Phantasie des Historikers bei der Quellenfindung und bei der Verknüpfung der Quellen, die durchaus phantasievolle Ansätze zulässt. Dabei sind m.E. die verschiedenen historischen Arbeitsgebiete zu unterscheiden; Kunstgeschichte läßt wohl mehr Phantasie zu, als Wirtschaftsgeschichte oder Technikgeschichte.

Wahrscheinlich ist Deine Fragestellung gar nicht so sehr ein Thema von Historikern sondern von Erkenntnistheoretikern.

Alleine schon geschichtsphilosophische Kategorien enthalten bereits soviel Phantasie, in diesem Fall Phantasie der Abstraktion, daß sie mit dem Prinzip "ad fontes" nur sehr schwer vereinbar sind.

M. :winke:
 
Wenn ich mal etwas aus meiner Sicht dazu schreiben darf...

Kommt darauf an wer ich bin und was ich will.

Will ich als Historiker Geschichte erklären oder will sie interpretieren.
Manche wollen bzw. machen beides.

Wenn ich Geschichte erklären will, bin ich sicher gut beraten, wenn ich dies ohne Liebe und Hass mache, sozusagen an Hand trockener und unumstößlicher Fakten.
Damit wäre eigentlich die Aufgabe eines Historikers erledigt, nämlich Fakt an Fakt in seiner zeitlichen Reihenfolge und seinen Nebeneinander.

Nun gibt es aber die Psychologie.
Wenn man das vor Zuhörer macht, sollte man vielleicht die Weisheit von Goethe in Person des Schülers (Faust: „Studierzimmer“ nach „Vor dem Tore“) etwas mit einbeziehen bzw. beachten :):

„Aufrichtig, möchte schon wieder fort:
In diesen Mauern, diesen Hallen
Will es mir keineswegs gefallen.
Ein gar beschränkter Raum,
Man sieht nichts Grünes, keinen Baum,
Und auf den Sälen, auf den Bänken,
Vergeht mir Hören, Sehen und Denken.“

Aber, bevor ich missverstanden werde, ohne Fakten, die zweifelsohne der Historiker ergründet, funktioniert nun mal nichts, auch wenn diese immer so eine trockene Angelegenheit sind, und für den Zuhörer/Schüler nach auswendig lernen riecht.

Anders ist es, wenn man Geschichte interpretieren will.
Ohne Faktenwissen geht dies natürlich überhaupt nicht, aber hier kommt Phantasie hinzu und je reichlicher, desto interessanter für die Zuhörer :).

Fakt ist, es hat einen Faust gegeben.
Der war sogar in Erfurt, ist in einer Gasstätte verkehrt wo auch ich ein paar Jahrhunderte später des öfteren verkehrt bin.
Ob der allerdings so in seinem Studierzimmer philosophiert hat wie es bei Goethe nachlesbar ist, bleibt sicher offen.

Und ich bin dem Wagner nicht böse über seine Art der Geschichtsdarstellung.
Jedenfalls der Ring wäre nicht der Ring, hätte er Fakten über die Nibelungen nicht frei interpretiert, passend für seine und zu seiner Musik.
Also, für mich wäre die Welt ärmer, wenn es zum Beispiel nicht „Wotans Abschied und Feuerzauber“ gäbe (Walküre 3. Aufzug, 3. Szene – Schluss).
 
Wie steht es eigentlich mit der Phantasie in der Geschichtswissenschaft? Ist sie "erlaubt"? Oder gar notwendig? Wie viel Phantasie ist notwendig und wann wird's "gefährlich"?

Ist die Fähigkeit zum Phantasieren nicht möglicherweise der eigentliche Beweggrund des Menschen, sich mit Geschichte zu beschäftigen? Das Hineinimaginieren in andere gesellschaftliche und historische Verhältnisse scheint mir zur menschlichen Natur zu gehören.

Deswegen kann es auch keine wirklich objektive Geschichtsschreibung geben, nur Geschichtsschreibung, die möglichst objektiv auf jeweils subjektiv entstandene Fragestellungen einer aktuelle Gesellschaft antwortet.

Für die praktische Arbeit des Historikers spielt Phantasie natürlich auch eine große Rolle. Er muss sich den Kontext der Quellen, mit denen er arbeitet, möglichst genau ausmalen können. Dabei gilt wohl, dass er umso mehr Phantasie einsetzen muss, je weniger Ahnung er hat und er Themen, von denen er Ahnung hat, um so stärker ausschmücken kann, je mehr Phantasie er besitzt.
 
zur Eingangsfrage:
welcher Wissenschaftler und damit welche Wissenschaft kam jemals ganz ohne Intuition und Fantasie aus?
 
zur Eingangsfrage:
welcher Wissenschaftler und damit welche Wissenschaft kam jemals ganz ohne Intuition und Fantasie aus?

Also mir fällt da keiner ein.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Mathematiker.
Der Mathematiker der sich mit der exaktesten aller Wissenschaften beschäftigt.
Aber meines wissen stellen manches mal Mathematiker auch Hypothesen auf und suchen für diese eine Bestätigung.
Und da wären wir sicher bei der Intuition und ggf. auch bei der Phantasie.

Jedenfalls, da wo ich fast mein ganzes Leben tätig war (Technik und Ökonomie), geht’s überhaupt nicht ohne Intuition und Phantasie.
 
Wie fängt ein Mathematiker einer Löwen?
˙uǝßnɐ slɐ ɥɔıs ʇɹǝıuıɟǝp pun ɯnɹǝɥ ɥɔıs ɯn unɐz uǝuıǝ ʇɥǝız ɹǝ

Dieser bekannte Mathematiker-Witz illustriert m.E. recht gut, dass die Exaktheit der Mathematik doch nur Illusion ist.
 
Nun, verglichen mit der Mathematik ist die Geschichtsschreibung totale Fiktion. Auch wenn sie unumstößliche Fakten beschreibt, bleibt die subjektive Selektion. floxx78 hat recht, dass die Fantasie die hauptsächliche Motivation für die Erkundung der Vergangenheit ist. Für Menschen ohne Fantasie bleibt immerhin der Sammeltrieb als Zugang zur Geschichte. Für Manche jedoch ist die Motivation lediglich der Geltungsdrang, schnell was Bleibendes zu sagen...

Geschichtler kann man also in drei Gruppen unterteilen:
1. Die Stars der Geschichtsschreibung, die mit viel Kreativität und Fantasie aus den Resourcen neue Erkenntnisse schöpfen;
2. Die Sammler, die die Resourcen für die Stars bereitstellen, und durch ihre Fantasielosigkeit die Fantasievollen ergänzen, indem sie skeptisch und missgönnend nachprüfen und kontrollieren;
3. Die Fantasten, die zwar viel Fantasie, aber wenig Wissen, bzw. wenig Ausdauer haben um zu recherchieren, und sich den schnellen Weg nach oben erhoffen.

Nicht ganz ernst gemeint natürlich, nur ein bisschen... ;)
 
Ich finde die Aufstellung ganz gut.
Dazu fällt mir dann auch das Einsteinzitat ein: "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt."
Tja, Einstein durfte das sagen, das war ihm sicherlich bewusst. Wenn es aber ein Neunjähriger gesagt hätte, hätte man ihn mit Hausarrest bestraft, anstatt seinen Satz aufzuscheiben. Ungerecht irgendwie!

Wollte vorher eigentlich nur sagen, dass eine fantasievolle Herangehensweise sowohl sehr gut, als auch sehr schlecht sein kann. Zuviel Fantasie ist bezeichnend für Hobbyforscher und Wichtigtuer, während die ‘Stars’ - wie in vielen Berufen - sehr selten bleiben. Persönlich sehe ich mich etwas hilflos unter dieser ganzen Pyramide, als einer aus der Menge, auf die alles herunterbröselt.
 
Tja, Einstein durfte das sagen, das war ihm sicherlich bewusst. Wenn es aber ein Neunjähriger gesagt hätte, hätte man ihn mit Hausarrest bestraft, anstatt seinen Satz aufzuscheiben. Ungerecht irgendwie!
Na ja, Lorbeeren muss man sich erst verdienen. Hätte sich Einstein nur an das damals zur Verfügung stehende Wissen gehalten, wäre er wahrscheinlich nie auf seine Relativitätstheorie gekommen.

Wollte vorher eigentlich nur sagen, dass eine fantasievolle Herangehensweise sowohl sehr gut, als auch sehr schlecht sein kann. Zuviel Fantasie ist bezeichnend für Hobbyforscher und Wichtigtuer, während die ‘Stars’ - wie in vielen Berufen - sehr selten bleiben. Persönlich sehe ich mich etwas hilflos unter dieser ganzen Pyramide, als einer aus der Menge, auf die alles herunterbröselt.
Die Fantasie sollte man als Motor sehen. Als Geschichtsinteressierten habe ich allerdings nicht den unbedingten Zwang, mich zügeln zu wollen und schieße auch gerne mal ins Kraut.
Aber, wie soll man sich, selbst als Sammler von Fakten, für etwas begeistern, wenn man keine Fantasien in diese Richtung entwickelt? Ich sehe die Fantasie als Seele jeder Wissenschaft, da ist die Geschichtswissenschaft sicher nicht auszuschließen.
 
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