Recht und Gerechtigkeit

Mercy

unvergessen
Es war zwar ein Monstervortrag, aber diese Passage blieb mir Jahre lang in Erinnerung:

Recht und Gerechtigkeit

Der Prophet Mohammed sitzt in einer einsamen Gegend auf einem Hügel. Am Fußende des Hügels befindet sich eine Quelle. Ein Reiter kommt. Während der Reiter sein Pferd tränkt, fällt ihm ein Geldbeutel aus dem Sattel. Der Reiter entfernt sich, ohne den Verlust des Geldbeutels zu bemerken. Ein zweiter Reiter kommt, findet den Geldbeutel und reitet damit davon. Ein dritter Reiter kommt und tränkt sein Pferd an der Quelle. Der erste Reiter hat inzwischen den Verlust seines Geldbeutels bemerkt und kehrt zurück. Er glaubt, der dritte Reiter habe ihm das Geld gestohlen, es kommt zum Streit. Der erste Reiter tötet den dritten Reiter, stutzt, wie er keinen Geldbeutel findet, und macht sich aus dem Staube. Der Prophet auf dem Hügel ist verzweifelt. "Allah", ruft er aus, "die Welt ist ungerecht. Ein Dieb kommt ungestraft davon, und ein Unschuldiger wird erschlagen!". Allah, sonst schweigend, antwortet: "Du Narr! Was verstehst du von meiner Gerechtigkeit!


Der erste Reiter hatte das Geld, das er verlor, dem Vater des zweiten Reiters gestohlen. Der zweite Reiter nahm zu sich, was ihm schon gehörte. Der dritte Reiter hatte die Frau des ersten Reiters vergewaltigt. Der erste Reiter, indem er den dritten Reiter erschlug, rächte seine Frau." Dann schweigt Allah wieder. Der Prophet, nachdem er die Stimme Allahs vernommen hatte, lobt dessen Gerechtigkeit.


Friedrich Dürrenmatt, aus: Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel, 1969
 
Und wie würde die bundesdeutsche Strafjustiz diese Sachverhalte bewerten?

Mercy schrieb:
Es war zwar ein Monstervortrag, aber diese Passage blieb mir Jahre lang in Erinnerung:

Recht und Gerechtigkeit

Der Prophet Mohammed sitzt in einer einsamen Gegend auf einem Hügel. Am Fußende des Hügels befindet sich eine Quelle. Ein Reiter kommt. Während der Reiter sein Pferd tränkt, fällt ihm ein Geldbeutel aus dem Sattel. Der Reiter entfernt sich, ohne den Verlust des Geldbeutels zu bemerken. Ein zweiter Reiter kommt, findet den Geldbeutel und reitet damit davon. Ein dritter Reiter kommt und tränkt sein Pferd an der Quelle. Der erste Reiter hat inzwischen den Verlust seines Geldbeutels bemerkt und kehrt zurück. Er glaubt, der dritte Reiter habe ihm das Geld gestohlen, es kommt zum Streit. Der erste Reiter tötet den dritten Reiter, stutzt, wie er keinen Geldbeutel findet, und macht sich aus dem Staube. Der Prophet auf dem Hügel ist verzweifelt. "Allah", ruft er aus, "die Welt ist ungerecht. Ein Dieb kommt ungestraft davon, und ein Unschuldiger wird erschlagen!". Allah, sonst schweigend, antwortet: "Du Narr! Was verstehst du von meiner Gerechtigkeit!


Der erste Reiter hatte das Geld, das er verlor, dem Vater des zweiten Reiters gestohlen. Der zweite Reiter nahm zu sich, was ihm schon gehörte. Der dritte Reiter hatte die Frau des ersten Reiters vergewaltigt. Der erste Reiter, indem er den dritten Reiter erschlug, rächte seine Frau." Dann schweigt Allah wieder. Der Prophet, nachdem er die Stimme Allahs vernommen hatte, lobt dessen Gerechtigkeit.

Friedrich Dürrenmatt, aus: Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, nebst einem helvetischen Zwischenspiel, 1969
Strafbarkeit des ersten Reiters:<?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:eek:ffice:eek:ffice" /><o:p></o:p>
  • Diebstahl des Geldes zu Lasten des Vaters des zweiten Reiters, strafbar nach § 242 Strafgesetzbuch (StGB)<o:p></o:p>
  • Totschlag zu Lasten des dritten Reiters, strafbar nach § 212 StGB.<o:p></o:p>
    • Der Umstand, dass er sich eingebildet hat, der dritte Reiter habe ihm das Geld gestohlen, führt weder zur Rechtfertigung, noch zur Entschuldigung seiner Tat.<o:p></o:p>
    • Gleiches gilt für den Umstand, dass der dritte Reiter die Frau des ersten Reiters zuvor vergewaltigt hatte, was dem ersten Reiter ohnehin nicht bekannt war.
Strafbarkeit des zweiten Reiters:

Fundunterschlagung zu Lasten seines Vaters, strafbar nach § 246 StGB, oder handelte dieser etwa in der Absicht, seinem Vater das gefundene Geld zurück zu geben?
Wenn ja, wäre es versuchte Unterschlagung, strafbar nach § 246 Abs. 3 StGB. Er weiss ja nicht, dass das gefundene Geld seinem Vater gehört.

Strafbarkeit des dritten Reiters:
Vergewaltigung der Frau des ersten Reiters, strafbar nach § 177 Abs. 2 StGB. Da er aber vom ersten Reiter erschlagen wurde, erübrigt sich eine Sachentscheidung. Gegen Tote wird nicht ermittelt (§ 206a Strafprozessordnung).
 
Zuletzt bearbeitet:
Gandolf, deine juristischen Lösungen der einzelnen Straftatbestände sind sicher richtig, nur sind sie nicht das, was Dürrenmatt zeigen wollte. Er wollte doch ganz einfach aufzeigen, dass das, was auf den ersten BLick ungerecht erscheint, (vielleicht) einer höheren Gerechtigkeit angehören kann, wo eben die einzelnen Unrechte gesühnt werden und so das Ganze einen SInn ergibt. Das ist sicherlich eine sehr einfache Sicht der Dinge, denn schliesslich und endlich müsste man in das Ganze noch die Verhältnismässigkeit und andere Kriterien mehr einfliessen lassen.

Was Dürrenmatt ganz einfach zeigen wollte ist: Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe. Das war seine grosse Überzeugung.
 
Joelina schrieb:
Gandolf, deine juristischen Lösungen der einzelnen Straftatbestände sind sicher richtig, nur sind sie nicht das, was Dürrenmatt zeigen wollte. Er wollte doch ganz einfach aufzeigen, dass das, was auf den ersten BLick ungerecht erscheint, (vielleicht) einer höheren Gerechtigkeit angehören kann, wo eben die einzelnen Unrechte gesühnt werden und so das Ganze einen SInn ergibt. Das ist sicherlich eine sehr einfache Sicht der Dinge, denn schliesslich und endlich müsste man in das Ganze noch die Verhältnismässigkeit und andere Kriterien mehr einfliessen lassen.

Was Dürrenmatt ganz einfach zeigen wollte ist: Recht und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe. Das war seine grosse Überzeugung.
Recht und Gerechtigkeit sind wirklich zwei Paar Schuhe. Allerdings muss sich auch die Gerechtigkeit vom Chaos und von der Willkür abgrenzen. Auch sie bedarf einer ORDNUNG, die aus Prinzipien und Regeln besteht, nach der sich die Menschen verhalten SOLLEN. An diese Ordnung mögen idealisierte Anforderungen zu stellen sein. Aber als Sollensordnung kann sie nur im Rahmen des (möglichen) Rechts existieren. Der Kampf um die Gerechtigkeit ist nichts anderes als der Kampf um das ideale, vollkommene Recht.

Doch um dieses Recht streiten Prophet und Allah eigentlich nicht. Der Prophet bewertet mit seinem Halbwissen die von ihm beobachteten Ereignisse anders als Allah, der alle Hintergründe und die Vorgeschichte kennt. Mir scheint deshalb die Geschichte nur zu erzählen, dass man dieselben Ereignisse bei unterschiedlicher Informationslage verschieden bewerten kann: bei geringer Kenntnis der Vorgeschichte und Hintergründe als ungerecht und bei allwissender Kenntnis als gerecht. Das führt zu der Frage, ob die Menschen mit ihren Fehlern, Irrtümern und Halbwissen im Gegensatz zum allwissenden Allah überhaupt eine gerechte Ordnung errichten können, da dieses Unternehmen von vorneherein mit dem Problem behaftet ist, dass der fehlende und irrende Mensch die Sachverhalte falsch bewertet und sich an den falschen Lösungen orientiert.

Mir erscheint jedoch in Dürrenmatts Geschichte bereits die "göttliche Ordnung" als ungerecht. Weshalb sollte der dritte Reiter vom ersten Reiter getötet werden dürfen? Die tödliche Sühneleistung für die von ihm begangene Vergewaltigung erscheint mir nicht nur unangemessen hoch. Seine Ermordung stand auch in keinem Zusammenhang mit der Vergewaltigung (keine Nothilfe zu Gunsten der Ehefrau). Doch wenn jeder, der einmal eine Straftat begangen hat, erschlagen werden darf, herrscht dann nicht Chaos, Anarchie und Willkür? Eine solche "Ordnung" würde das Gerechtigkeitsideal in sein Gegenteil verkehren.
 
Gandolf, du sprichts viele Punkte an. Was ist Gerechtigkeit? Darüber wurden bereits ganze Bibliotheken geschrieben, die Geister scheiden. Eine gerechte Ordnung mit HIlfe von Gesetzen herzustellen scheint fast unmöglich, schon Aristoteles sagte, Gesetze sind zu allgemein, als dass sie der Gerechtigkeit dienen können. Er führte dazu die BIllgikeit ein, die Einzelfallgerechtigkeit. Durch die bIlligkeit sollten Gesetze auf den besonderen Fall angepasst werden können. In der Schweiz kennen wir noch heute das Rechtsmissbrauchsverbot und den Grundsatz, bei krasser Ungerechtigkeit darf von der Gesetzesnorm abgewichen werden. In Deutschland gibt es das meines Wissens auch.

DIe Frage bei der Gerechtigkeit ist, von welcher Gerechtigkeit sprechen wir? Von politischer, sozialer? Von Tauschgerechtigkeit oder ausgleichender Gerechtigkeit? Von Verteilungsgerechtikgiet? Alle sind sie schon bei Aristoteles aufgetaucht und haben sich von Philosoph zu Philosoph weiter gezogen und verändert. Halten die einen Gleichheit als Grundkriterium der Gerechtikeit, bestreiten andere gerade dieses.

Dürrenmatts Geschichte greift in der Tat zu wenig weit, sie stellt wohl, schaut man genau hin, nicht mal eine Gerechtigkeit her, wenn man das allwissende System anschaut und die eine für die andere Tat als Strafe nimmt. Ich gebe dir recht, dass die Verhältnismässigkeit nicht gegeben ist.
 
Joelina:

In der Tat wurden über die "Gerechtigkeit" schon ganze Bibliotheken geschrieben. Wenn ich mich richtig erinnere, meinte einmal ein amerikanischer Jurist, der Begriff der Gerechtigkeit sei die schwarze Katze im Sack der Jurisprudenz. Wer sich schon einmal einer Katze, die sich in einer solchen Situation befand, angenähert hat, weiß welche Blessuren man sich bei deren Sichtung holen kann. Doch wie immer man sich diesem Begriff nähert, letztlich wird sich die Gerechtigkeit stets als ideales und vollkommenes Leitbild auf das "Recht" beziehen und somit im Rahmen des möglichen und anstrebenswerten Rechts bleiben. Die Vielzahl der zum Gerechtigkeitsbegriff geschriebenen Bücher erklärt sich ja gerade mit dem im Namen der Gerechtigkeit geführten "Kampf ums Recht".

Wir haben zwar in Deutschland das sogenannte abstrakte Recht, welches mit Hilfe der juristischen Methodik auf den Einzelfall angewendet wird. Dabei besteht die Vorstellung, dass das an sich gerechte abstrakte Recht durch seine gleichmäßige Anwendung auf den Einzelfall zu gerechten Lösungen der Einzelfälle führt. Aber das abstrakte Recht sowie die Methodik kennen Einfallstore für die Einzelfallgerechtigkeit. Unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln, Ausnahmen von Grundsätzen, einschränkende oder ausweitende Gesetzesauslegung, Analogien, Umkehrschlüsse, etc. dienen letztlich dazu den Einzelfall einer gerechten Lösung zuzuführen. Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland ein Verbot des Rechtsmißbrauchs. Auch in Deutschland kommt dem Sinn und Zweck des Gesetzes eine größere Bedeutung zu als dem bloßen Gesetzeswortlaut.

Mein größtes Problem mit der von Dürrenmatt beschriebenen "göttlichen Ordnung" besteht darin, dass dieser die archaische Vorstellung zu Grunde liegt, das erlittene Unrecht sühne das zuvor selbst verübte Unrecht. Von dieser Vorstellung ist es kein großer Schritt im Opfer von Unrechtshandlungen Täter zu sehen und auf den zivilisatorischen "Kampf ums Recht", der zur Verwirklichung der Gerechtigkeit notwendigerweise gehört, zu verzichten, da dieser aufgrund des göttlichen Mechanismus wechselseitiger Sühneleistungen überflüssig ist. Freilich mag der "Kampf ums Recht" infolge der prinzipiellen Fehlbarkeit des Menschen und dessen unvollkommenen Wissens mit der Gefahr behaftet sein, sich in einen "Kampf ums Unrecht" zu verkehren. Aber dieser Streit um Informationen und Orientierung gehört nun einmal zum menschlichen Wesen, das seine Lebensbedingungen verbessern will, in dem es zum Beispiel nach einer "gerechte(re)n" Ordnung strebt.
 
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Auch in der Juristerei ist man sich nicht wirklich einig, ob Gerechtigkeit ein Kriterium ist oder nicht. NImmst du Amerika, widersprechen sich die Richtersprüche völlig, die einen sagen, Gerechtigkeitsüberlegungen haben ncihts zu suchen in der Rechtsanwendung, andere meinen, sie seien zu berücksichtigen bei der Urteilsfindung. Gerade was die Rechtsanwendung und vor allem Rechtsfortbildung anbelangt, existiert in den Staaten eine aktuelle Diskussion über die Theorien der Rechtsanwendung. DIe Textualisten sagen, Gerechigkeitsüberlegungen seinem müssig, man müsse sich strikt an den Wortlaut halten, Purpousivisten suchen nach dem Zwck hinter dem WOrtlaut, Intentionalisten halten dem den Anspruch des Gesetzgebers entgegen und die Dynamisten vermischen alles ein wenig...um es mal knapp zu sagen. In allen ausser dem Textualismus kann Gerechtigkeit durchaus mit im SPiel sein und da sind wir beim Richter als Herrn über Recht und Gerechtigkeit, wirkliche Freiheit hat er nicht, aber einen recht grossen SPielraum, innerhalb dessen er sich bewegt.

Aber ich denke, ich weiche zu stark ab nun...
 
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