Repressalien in Ostdeutschland

HildegardOberulla

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Frage zu einem Zitat aus einem Zeitartikel: "Im Osten liege die jüngste Diktatur nicht mal 35 Jahre zurück – in der viele Ostdeutsche lebten, ohne die Repressalien täglich bewusst gespürt zu haben." - Wieso hat man die Repressalien dort damals weniger gespürt? Kann das jemand systematisch konkreter erklären?
 
Wenn du nicht gerade in Grenznähe wohntest, konntest du dich relativ unbehelligt innerhalb des Staatsgebiets bewegen. Auch konntest du reisen, wenn deine Reisen auch stark auf das verbündete Ausland beschränkt waren (Sowjetunion, Ungarn, Tschechien, Polen, Rumänien, Bulgarien).

Die DDR hat ihren Bürgern mittels Stasi (MfS) teilweise (natürlich nicht jedem) bis in die intimsten Winkel ihres Lebens hinterherspioniert - im Zweifel mit Wanzen selbst auf Toilette oder im Schlafzimmer - häufiger aber durch IMs*, die angeworben wurden. Die IMs hatten sich oft erpressbar gemacht und die Stasi hat diese Leute gezwungen, Dossiers über bestimmte Leute anzufertigen. Da blieb nichts vor dem Staat geheim. Und dabei ging es nicht um Staatsfeinde, sondern um Leute, die sich mal unzufrieden geäußert hatten. Da haben enge Familienangehörige und Freunde dem MfS Informationen über die intimsten Geheimnisse der überwachten Personen geliefert und die Anlässe für die Überwachung konnten nichtig sein.



*inoffizielle Mitarbeiter
 
Stell dir vor, du hattest deinen Schulabschluss und wolltest studieren: Den Zungang zum Studium hat der Staat nicht über die Noten gesteuert oder über ein neutrales Studienplatzvergabesystem, sondern über deine Herkunft (Akademikerkinder hatten oft Schwierigkeiten einen Studienplatz zu bekommen, was die Etablierung eines neues Klassenbewusstseins verhindern sollte, Klasse war sehr wichtig, man wa ja der Staat der Arbeiterklasse), dein Engagement bei den Institutionen der Sozialistischen Einheitspartei und bei Männern über Verpflichtung bei der Volksarmee. Wenn du dich in der Schule zu oft zu kritisch geäußert hast (was ja bei Pubertierenden zur Entwicklung gehört) konnte es passieren, dass du nicht mehr studieren durftest.
 
Frage zu einem Zitat aus einem Zeitartikel: "Im Osten liege die jüngste Diktatur nicht mal 35 Jahre zurück – in der viele Ostdeutsche lebten, ohne die Repressalien täglich bewusst gespürt zu haben." - Wieso hat man die Repressalien dort damals weniger gespürt? Kann das jemand systematisch konkreter erklären?
Um konkret darauf einzugehen, müsstest du uns zunächst den Zusammenhang mitteilen, in dem diese These geäußert wird. Der Artikel liegt leider hinter einer Bezahlschranke. Generell würde ich erst einmal sagen, dass es in der Natur des Menschen als Gewohnheitstier liegt, dass man sich Repressalien im Alltag nicht ständig bewusst gemacht hat. Das heißt aber nicht, dass man sie nicht gespürt hätte.
 
Repressalien spürt vor allem, wer sich nicht anpasst. Zur Erzeugung angepassten Verhaltens dienen die Repressalien ja gerade. Doch hätte ein System wie das der DDR nie und nimmer so lange Bestand gehabt, wenn Anpassung die Ausnahme gewesen wäre.
 
Über diese Bezahlschranke des Artikels bei „Zeit-Online“ bin ich auch gestolpert.

Habe mich darauf hin im Netz weiter umgesehen und bin da auf einen recht interessanten, sprich zutreffen Artikel der „NZZ“ vom 02.10.2020 gestoßen.

Deutsche Einheit: Jeder zweite Ostdeutsche ist unzufrieden (nzz.ch)

Die Aussage am Schluss des Artikels:
„Deutschland ist ein vereinigtes Land, dessen innere Einheit auf sich warten lässt. Und zwar in beiden Landesteilen.“

Hoffen wir das auf den weiteren steinigen Weg dahin uns eine Erosion erspart bleibt.
 
Um konkret darauf einzugehen, müsstest du uns zunächst den Zusammenhang mitteilen, in dem diese These geäußert wird. Der Artikel liegt leider hinter einer Bezahlschranke. Generell würde ich erst einmal sagen, dass es in der Natur des Menschen als Gewohnheitstier liegt, dass man sich Repressalien im Alltag nicht ständig bewusst gemacht hat. Das heißt aber nicht, dass man sie nicht gespürt hätte.

Also es wird in dem Zusammenhang mit Wahlverhalten/Gefahreneinschätzung geäußert. Das ganze Zitat lautet:

"Die Grenze gibt es noch
Hey lenkt das Gespräch auf die deutsch-deutsche Geschichte. Im Osten liege die jüngste Diktatur nicht mal 35 Jahre zurück – in der viele Ostdeutsche lebten, ohne die Repressalien täglich bewusst gespürt zu haben. Das lasse, mutmaßt Hey, die AfD dort weniger gefährlich erscheinen. Die Demokratieforschung deckt, was Hey sagt: Ostdeutschland hat weniger ein Problem mit antidemokratischen Sichtweisen: Im Osten befürworten fast dreimal so viele Menschen wie im Westen eine rechtsautoritäre Diktatur oder haben ein rechtsextremes Weltbild, wie 2023 eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte – so ist das Verhältnis seit Jahren. Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus sind in der Bevölkerung im Osten doppelt so weit verbreitet..." usw. usw.

Den Artikel habe ich verstanden, aber der geschichtliche Hintergrund hat mich an der Stelle der Repressalienaussage doch genauer interessiert, was hat man nicht so gespürt/als besser empfunden und warum.
 
Wie freilich passt die friedliche Revolution von 1989 in dieses Bild?

Es gibt im Übrigen auch manchen Politologen, der die in der ehemaligen DDR größere Ablehnung von verpflichtenden Impfungen damit erklärte, dass die Menschen dort staatlichen Zwangsmaßnahmen gegenüber noch sensibler seien als die Westdeutschen.
 
Wieso hat man die Repressalien dort damals weniger gespürt? Kann das jemand systematisch konkreter erklären?

Wenn man sich anpasste und in politischen Dingen den Mund hielt (oder den Herrschenden nach demselben redete), musste man eigentlich kaum befürchten, verfolgt zu werden oder andere Probleme zu bekommen. Viele zogen sich ins Privatleben zurück, und arrangierten sich mit den Verhältnissen; manche nennen die DDR daher auch eine "Nischenkultur".

Ein Grund dafür ist mE die Tatsache, dass den Menschen in der DDR klar war, dass die Herrschaft der SED zu guten Teilen auf den sowjetischen Truppen beruhte, die eigene Regierung also letztendlich der falsche Addressat für Kritik und Widerstand war; bewiesen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der Tschechoslowakei. Erst als diese Rückendeckung durch die UdSSR unter Gorbatschow wegfiel war eine Änderung der Verhältnisse möglich und erfolgversprechend; und allzu lange hats das System danach ja auch nicht mehr gemacht...

Für viele spürbarer als die politische Repression war die Mangelwirtschaft. Die leeren Regale im Supermarkt, Schlange stehen, wenn es mal was gab, die fünfzehn Jahre, die man auf ein Auto einen Trabbi warten musste, und das alles, während im Fernsehen Westwerbung lief... Das betraf das Leben der meisten viel direkter als die fehlenden politischen Freiheiten. Nicht umsonst wurden die mangelnden Bananen zu sowas wie einem Sinnbild der friedlichen Revolution 1989; etwas überspitzt, sicherlich, aber nicht ganz ohne Hintergrund...

Den Zungang zum Studium hat der Staat nicht über die Noten gesteuert oder über ein neutrales Studienplatzvergabesystem, sondern über deine Herkunft (Akademikerkinder hatten oft Schwierigkeiten einen Studienplatz zu bekommen, was die Etablierung eines neues Klassenbewusstseins verhindern sollte, Klasse war sehr wichtig, man wa ja der Staat der Arbeiterklasse)

In den USA nennt man das affirmative action; gut, ist auch heftig politisch umstritten, derzeit... ;)
 
"Im Osten liege die jüngste Diktatur nicht mal 35 Jahre zurück – in der viele Ostdeutsche lebten, ohne die Repressalien täglich bewusst gespürt zu haben."

Das halte ich für eine Tatsachenbehauptung. Absurd. Jedem Bürger der damaligen DDR war bewusst die eigene Zunge im Zaum zu halten. Jeden Tag, jederzeit.
Es gab das Neusprech im Leben außerhalb der Familie, und das eigene Denken in den eigenen vier Wänden.
 
Wenn man sich anpasste und in politischen Dingen den Mund hielt (oder den Herrschenden nach demselben redete), musste man eigentlich kaum befürchten, verfolgt zu werden oder andere Probleme zu bekommen.
Eben.

Wenn man in der DDR studieren wollte, musste man in der FDJ sein. Wie zuvor in Nazideutschland in HJ.

Beide Staaten waren Diktaturen, nur dass die Menschen die DDR nicht damit identifizieren, weil es nach dem Ende der DDR nicht einen verlorenen Krieg und das Aufwachen danach gab, sondern einen weichen Übergang, der in einer harte Landung im Kapitalismus endete, der sich zudem auch noch herausstellte, wie zuvor in der DDR-Propaganda jahrzehntelang gesagt: Glitzerwelt und Armut.

Außerdem will niemand daran erinnert werden, die Diktatur durch Schweigen ermöglicht zu haben. Auf die Indifferenz der sogenannten schweigenden Mehrheit setzen vor allem Politiker, die nach uneingeschränkter Macht streben. Das Gegenteil davon sind Politiker, wie es z.B. Willi Brandt einer war, indem er Menschen aufforderte, mehr Demokratie zu wagen.
 
Wenn man in der DDR studieren wollte, musste man in der FDJ sein. Wie zuvor in Nazideutschland in HJ.
Das ist so nicht korrekt. Eine Zwangsmitgliedschaft in der HJ galt für alle, außer diejenigen, die sowieso ausgeschlossen waren (etwa jüdische Kinder) ab 1936, offiziell sogar erst ab 1939. Die Zulassung zum Studium war davon unabhängig. Aber da ab 1936 jeder, beinahe jeder, der die Chance hatte, zum Studium zugelassen zu werden, fast automatisch in der HJ gewesen war, war praktisch jeder Student, der sich ab 1937 einschrieb, zuvor in der HJ bzw. im BdM gewesen. Aber das Studium war nicht an die vorherige HJ/BdM-MItgliedschaft gekoppelt.
 
Liebe Hildegard,

Zu dem, was dir möglicherweise - ich kann ja nicht in deinen Kopf sehen - am zuerst zitierten Kernsatz aufstößt/auffällt, ein paar Hinweise:
Staaten verwenden um ihre eigene Existenz aufrechtzuerhalten gegenüber ihren Bürgern immer zwei Methoden: Unterdrückung von (oft auch nur vermuteten) Widerstand durch Repression und Herstellung von Legitimität durch Überzeugung/Propaganda etc. Beide Elemente sind eigentlich in allen Staaten - wenn auch in deutlich unterschiedlicher Proportion - anzutreffen.

Im demokratischen Idealfall beschränkt sich "Repression" auf das, was im Strafrecht codifiziert ist und geht in der Praxis nur selten darüber hinaus. Ausgesprochene Diktaturen setzen natürlich häufiger auf repressive Methoden, allerdings sind auch sie darauf angewiesen, zumindest eine gewisse Grundstimmung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, dass das/die derzeitige Regime/Regierung rechtmäßig und alles (wenn schon nicht in guter aber immerhin halbwegs) in Ordnung ist. Dazu ist es eben notwendig, nicht immer alle Menschen täglich gewaltsam zu drangsalieren, sondern eigentlich nur so wenige wie nötig so selten wie möglich.

Insofern ist die zitierte Behauptung, ein erheblicher Anteil der Ostdeutschen hätte die Repressionen tagtäglich und bewußt nicht gespürt, sehr wahrscheinlich richtig: Ein Teil der Bevölkerung hat die ideologische Ausrichtung der Staatsführung wahrscheinlich befürwortet, ein Teil zumindest teilweise akzeptiert und ein weiterer Teil hat sich so angepasst, daß die Verhältnisse als irgendwie "normal" empfunden wurden.
 
Hallo

@hacege
tagtäglich und bewußt nicht gespürt, sehr wahrscheinlich richtig:

halte ich für sehr unwahrscheinlich.Schließlich wußte jeder, wer von seinem Umfeld ein SED-Funktionär war und wer andere verpfeifen würde (also quasi ein IM ist).

Zum anderen kann ich aus persönlicher Erfahrung aus den 70/80ger Jahren sagen, das ich mich in keinem Ostblockland so beobachtet,bespitzelt gefühlt habe wie in der ehemaligen DDR. Das war ein regelrechtes physisches Unbehagen und ich habe 3 Kreuze gemacht,als ich nach 3 Tagen da raus war.

mfg
schwedenmann
 
Schließlich wußte jeder, wer von seinem Umfeld ein SED-Funktionär war und wer andere verpfeifen würde (also quasi ein IM ist).
Nein, nur wenige wussten, wer in ihrem Umfeld ein IM war. Das sagen unzählige Menschen, die nach der Öffnung des Stasiarchivs ihre Akten einsehen konnten: Die IMs waren zum Teil die Ehepartner, andere Familienangehörige oder engsten Freunde, von denen man dachte, sie wären, wie man selbst, gegen das Regime eingestellt. Nach solchen Entdeckungen gab es Dramen ohne Ende, weil früheres Vertrauen irreparabel zerstört worden ist. Und es gibt viele, die gerade deswegen ihre Akte nicht einsehen, also gar nicht wissen wollen, wer sie damals bespitzelt hatte.
 
Bei manchen wusste man es, bei manchen vermutete man es und bei manchen hätte man es nicht gedacht, dass sie IMs waren. Das war aber egal, weil man wusste, was man in der Öffentlichkeit sagen konnte und was nicht. Die Fälle, bei denen nach der Wende bekannt wurde, dass im Familienkreis oder bei ähnlichem Näheverhältnis bespitzelt wurde, sind tragische Einzelfälle. Wie gesagt, grundsätzlich wusste man, wo man was sagen konnte. Das änderte sich über die Jahre. In der ersten Hälfte der 80er Jahre wurde mir noch eingebläut, dass ich keinesfalls davon reden durfte, dass wir Westfernsehen sahen. Ab ca. 1987/88 hatten wir offiziell Satellitenfernsehen und Honecker- und DDR-Witze ("Der letzte macht das Licht aus") wurden relativ offen erzählt.
 
Alter Schwede (ich hoffe Sie verzeihen mir den naheliegenden Billigschmäh),

"tagtäglich und bewußt "- die Textteile wurden nicht unabsichtlich hervorgehoben - heißt in etwa, ich leg mich abends ins Bett und resumier nochmal die Repressalien des Tages. Ich bezweifle stark, dass das der normale Einschlafzustand der meisten DDR-Bürger war.

Nicht jedeR, aber viele arrangierten sich mit den herrschenden Verhältnissen und passten sich soweit an, daß sie selbst und persönlich keinen Repressionen ausgesetzt waren und hielten diese - im Laufe der Zeit - auch nur für ein "Problem anderer Leute" (Douglas Adams, schau oba). Den repressiven Charakter des Systems vergaßen oder verdrängten sie die meiste Zeit über - wenn nicht sie oder ein Familienmitglied direkt betroffen waren - wahrscheinlich überwiegend.

On a personal note:
Meine Oma, die einen Gutteil ihrer Jugend im nationalsozialistischen Wien verbrachte, konnte (oder wollte?) sich - neben alltäglichen Arbeitserfahrungen - partout nur an Tanzveranstaltungen, Kinobesuche, gutes Leben und die Verliebtheit in meinen Opa erinnern - obwohl sie wahrlich nicht zu den Nutznießern dieses Systems zählte (mein Opa etwa hat nur ein One-Way-Ticket in die Steppe bekommen).

Glauben Sie, DDR-Bürger waren da soo anders?
 
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