Ich habe schon von dieser Theorie gehört. Meiner Meinung nach ufert die immer weiter aus - anfangs ging es nur darum, ob das römische Heer 43 nach Christus andere Landeplätze und damit eine andere Marschroute genommen hat als ursprünglich angenommen, jetzt sind einige, wie du schreibst, sogar so weit, dass es gar keine Invasion gab.
Das wäre aber zu weit gedacht und ist m.E. nicht belegbar. Ich gliedere das mal in Punkte auf.
1.) Es gab eine claudische Invasion. Ich mache das vor allem an den vier britannischen Legionen fest, die eben just in den Jahren nach 43 in der Provinz belegt sind und im Umkehrschluss anderswo (z.B. am Rhein) fehlen. Vorher fehlen solche Hinweise. Daneben gibt es mehrere wichtige archäologische Spuren - die Kampfspuren an keltischen Forts wie Maiden Hill, ein sehr frühes Lager bei Richborough (einem der möglichen Landeplätze), weitere datierte oder vermutete frühe Lager (vor allem Verulamium/St. Albans und Longthorpe, aber auch Hod Hill). Und schließlich ist bei Sueton und Cassius Dio die Teilnahme sehr vieler bedeutender Offiziere und Personen aus dieser Zeit am Feldzug bekannt.
2.) Der Britannien-Feldzug als Propaganda: Dass der Feldzug in erster Linie dem Image von Kaiser Claudius dienen sollte, ist sehr wahrscheinlich. Den strategischen und wirtschaftlichen Nutzen dieses Unternehmens kann man nämlich stark in Frage stellen. Das Ereignis wurde propagandistisch stark gefeiert und mit mindestens drei Triumphbögen, auf Münzserien und in Huldigungsgedichten verewigt. Allerdings heißt es noch lange nicht, dass Claudius sich auch den Feldzug ausdachte.
3.) Anwesenheit der Römer vor 43: Dazu gibt es in den vergangenen Jahren mehrere Hinweise, die sich wohl nicht einfach vom Tisch fegen lassen. Ich weiß darüber nicht viel - nachdem, was ich gehört habe, sind diese frühen Funde äußerst spärlich und schwer zu deuten. Es gab auf jeden Fall schon vor der Invasion enge Beziehung zwischen Rom und Britannien, und es sieht so aus, als seien mindestens zwei Stämme (die Atrebaten und Cantiacen) bereits verbündet gewesen mit den Römern. Nun könnten die Funde in Chichester alles mögliche darstellen, zum Beispiel zu einem mit Soldaten besetzten Handelsposten gehört haben.
4.) Kontrolle der Insel vor 43 durch die Römer: Da spricht aus meiner Sicht auch nicht viel dafür. Das einzige Indiz, dass es so gewesen sein könnte, sind die Res gestae des Augustus, in denen er erwähnt, dass er Britannien tributpflichtig gemacht habe. Diese Stelle wird in der heutigen Forschung als Übertreibung und Propaganda gewertet.
Dagegen spricht auch, dass Caesar mitnichten als glänzender Sieger nach Gallien zurückkehrte, Augustus mehrfach erfolglos versuchte, Expeditionen nach Britannien in die Wege zu leiten, ebenso wie Caligula. Außerdem gibt es Münzserien einheimischer Herrscher bis zur Invasion. Dies zeigt zwar eine enge Nähe zu Rom (die Münzen sind lateinisch beschriftet), aber eben auch das Britannien noch keine Provinz war. Und schließlich hätte Claudius nicht vier, eventuell sogar fünf Legionen bereit stellen müssen, für die er zum Teil von der gefährdeten Rheingrenze abzog, wenn die Insel längst befriedet war.
5.) Allgemeine Problematik: Es gibt in der antiken Literatur eigentlich nur einen ausführlichen Bericht über die Britannien-Invasion von Cassius Dio, der fast 200 Jahre später schreibt. Sueton berichtet ebenfalls einiges, weiteres lässt sich aus den Werken des Tacitus entnehmen, dessen "Annalen" über die Jahre 43 - 47 jedoch leider nicht erhalten sind. Die Quellenbasis ist also äußerst schmal. Gleiches gilt für die archäologischen Nachweise: es gibt zwar etliche römische Marschlager in Britannien, die wegen ihrer generellen Fundarmut schwer zu datieren sind und aus einem Zeitraum von 25 Jahren (bis nach dem Boudicca-Aufstand) stammen könnten. Um die Wege des römischen Heeres bei der Invasion nachzuvollziehen, müssen oft Einzelfunde wie ein einziger Helm herhalten, die oft ausreichen, um eine Theorie zu bilden oder umzustürzen. Unter diesem Lichte sind auch die neuen Theorien zur Invasion zu sehen, die eben unter dem Eindruck neuer Funde wie in Fishbourne oder Chichester entstanden sind. Will sagen: Das ist und bleibt ein von Spekulationen abhängiges Gebiet. Es besteht fast keine Hoffnung, nochmal neue literarische Quellen zur Invasion aufzutreiben oder, was von ähnlichem Wert wäre, archäologisch einen der Häfen zu finden (die vermutlich alle ins Meer erodiert sind). Daher wird die Erforschung der frühen Provinz Britannien auch in den nächsten Jahren langsam vorangetriebenes Stückwerk bleiben.