Schulden der Bauern an jüdische Viehhändler während der Nazi-Zeit

Little_Tiger

Mitglied
Ich komme aus einem kleinen Dorf irgendwo aus Bayern.
In diesem Dorf gab es zwei jüdische Familien, die als Viehhändler tätig waren.

Nach Erzählungen von meiner verstorbenen Mutter, war das 'halbe' Dorf bei den jüdischen Viehhändler verschuldet und dass dies der (Haupt) Grund war für die Wahl Hitlers in diesem Dorf.

Meine Frage:
Verloren die Schuldscheine bei der Machtergreifung von Hitler sofort ihre Gültigkeit, so dass die Bauern schuldenfrei waren oder war dies erst später der Fall?
 
Gab es denn einen Schuldenerlass überhaupt?

Ich würde eher denken, dass im Rahmen der Arisierung von Unternehmen die Verbindlichkeiten auf den neuen Besitzer übergehen. Die Schulden bleiben also bestehen.
 
Mir klingt das eher nach dem alten antisemitischen Standardvorurteil. Letztendlich steht dahinter "ja wenn die Juden nicht immer so mit Geld wären, dann wäre Hitler nicht gewählt worden" - ergo eine Täter-Opfer-Umkehr/blaming the victim.
Ich weiß, dass in manchen Regionen Bauern jüdischen Viehhändler geholfen haben, prominent ist der Fall von Marga Spiegel und ihrem Mann, die sich bei Kunden ihres Mannes, eines Pferdehändlers verstecken konnten und dadurch den Krieg überlebten.
 
Die große Zeit des Landjudentums, zu denen vor allem jüdische Viehhändler und Metzger zu zählen sind, war in den 1930ern schon vorbei. (Aus praktischen Gründen waren Metzgerei und Viehhandel oft verknüpft.)

Mit der Reichsgründung 1871 bekamen auch jüdischer Bürger eine uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb des Deutschen Reiches und sie verließen vielfach die Dörfer und Kleinstädte, in denen ihre Familien oft seit Jahrhunderten festsaßen, und zogen in die wachsenden Großstädte.
In den Dörfern war durch den genossenschaftlich organisierten Viehhandel von Raiffeisen zusätzlich eine Konkurrenz entstanden.

So gesehen ist das Schimpfen auf gierige jüdische Viehhändler zur der Zeit schon ein Anchronismus.
 
Jüdische Geldverleiher hatten vor den Nazis auf dem Land durchaus noch Bedeutung. Die Stimmen für die Nazis mögen im Dorf von Little Tiger damit zu tun gehabt haben, aber verallgemeinern lässt sich das keinesfalls. Mir ist bekannt, dass nach der Machtübernahme der Nazis ein jüdischer Geldverleiher in einer , Landgemeinde sich bemüht hat, das verliehene Geld, soweit die Gläubiger dazu bereit und in der Lage waren, zurückzuerhalten und dann auszuwandern. Die Restschulden erließ er - was allerdings eher deklaratorische Wirkung hatte. Die "Schuldscheine" wurden zwar weder für ungültig erklärt, noch fielen sie (in der Regel) der Arisierung zum Opfer, die Rückzahlungsansprüche waren aber unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht mehr juristisch durchzusetzen.

Die Viehhändler waren gesellschaftlich etwas ähnliches wie heute die Gebrauchtwagenhändler. Bei den jüdischen Vertretern der Branche hatte zweifellos auch Antisemitismus erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Ansehen, aber, wie auch bei den "arischen", auch die Branche an sich.

Zwar gab es auch Spar- und Raiffeisenkassen. Es gab aber Gründe, trotzdem nicht Darlehen von denen, sondern von Geldverleihern zu nehmen. ZB:
Vom Verleiher gab es uU auch noch Geld, wenn es das formalisierte Verfahren der Kreditinstitute nicht mehr zuließ.
Der "Datenschutz" war dürftig. Man musste seine finanziellen Verhältnisse zumindest dem Kreditausschuss offenbaren. Der tagte uU in der Gastwirtschaft und, wenn man Pech hatte, nicht einmal im Nebenzimmer, sondern im Gastraum Da konnte man auch gleich einen öffentlichen Aushang machen.
 
Die große Zeit des Landjudentums, zu denen vor allem jüdische Viehhändler und Metzger zu zählen sind, war in den 1930ern schon vorbei. (Aus praktischen Gründen waren Metzgerei und Viehhandel oft verknüpft.)

Mit der Reichsgründung 1871 bekamen auch jüdischer Bürger eine uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb des Deutschen Reiches und sie verließen vielfach die Dörfer und Kleinstädte, in denen ihre Familien oft seit Jahrhunderten festsaßen, und zogen in die wachsenden Großstädte.
In den Dörfern war durch den genossenschaftlich organisierten Viehhandel von Raiffeisen zusätzlich eine Konkurrenz entstanden.

So gesehen ist das Schimpfen auf gierige jüdische Viehhändler zur der Zeit schon ein Anchronismus.
 
Jüdische Geldverleiher hatten vor den Nazis auf dem Land durchaus noch Bedeutung. Die Stimmen für die Nazis mögen im Dorf von Little Tiger damit zu tun gehabt haben, aber verallgemeinern lässt sich das keinesfalls. Mir ist bekannt, dass nach der Machtübernahme der Nazis ein jüdischer Geldverleiher in einer , Landgemeinde sich bemüht hat, das verliehene Geld, soweit die Gläubiger dazu bereit und in der Lage waren, zurückzuerhalten und dann auszuwandern. Die Restschulden erließ er - was allerdings eher deklaratorische Wirkung hatte. Die "Schuldscheine" wurden zwar weder für ungültig erklärt, noch fielen sie (in der Regel) der Arisierung zum Opfer, die Rückzahlungsansprüche waren aber unter den gegebenen politischen Verhältnissen nicht mehr juristisch durchzusetzen.

Die Viehhändler waren gesellschaftlich etwas ähnliches wie heute die Gebrauchtwagenhändler. Bei den jüdischen Vertretern der Branche hatte zweifellos auch Antisemitismus erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Ansehen, aber, wie auch bei den "arischen", auch die Branche an sich.

Zwar gab es auch Spar- und Raiffeisenkassen. Es gab aber Gründe, trotzdem nicht Darlehen von denen, sondern von Geldverleihern zu nehmen. ZB:
Vom Verleiher gab es uU auch noch Geld, wenn es das formalisierte Verfahren der Kreditinstitute nicht mehr zuließ.
Der "Datenschutz" war dürftig. Man musste seine finanziellen Verhältnisse zumindest dem Kreditausschuss offenbaren. Der tagte uU in der Gastwirtschaft und, wenn man Pech hatte, nicht einmal im Nebenzimmer, sondern im Gastraum Da konnte man auch gleich einen öffentlichen Aushang machen.
 
DANKE!

Ihre Erklärung deckt sich auch mit meinem Weltbild vom dörflichen Leben in Bayern (vermutl. auch in anderen ländlichen Regionen Deutschlands)

By the way, was wäre eigentlich konkret passiert,wenn wirklich ein jüdischer Schuldner (hier: Viehhändler) in den Jahren von 1933 bis 1938 versucht hätte, seine Forderungen einzuklagen.

Gab es in der "Frühzeit" der NS-Diktat schon einen vorauseilenden Gehorsam der Justiz?
 
Mir klingt das eher nach dem alten antisemitischen Standardvorurteil. Letztendlich steht dahinter "ja wenn die Juden nicht immer so mit Geld wären, dann wäre Hitler nicht gewählt worden" - ergo eine Täter-Opfer-Umkehr/blaming the victim.
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Damit zumindest über meine Motivation keine Zweifel entstehen, sollte ich wohl darauf hinweisen, dass ich diese Gefahr durchaus auch gesehen habe - allgemein und im konkreten Fall. Aber dieses Vorurteil wurde auch von den Nazis (wieder) genutzt und zumindest der Geldverleiher, den ich erwähnte, war sich dessen offenbar auch früh bewusst, ohne dass die Wahlergebnisse in der Gegend dies nahegelegt hätten - allerdings ein frühes Pogrom in der näheren Umgebung. (noch) unter Beteiligung "importierter Unterstützung", schon eher.

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By the way, was wäre eigentlich konkret passiert,wenn wirklich ein jüdischer Schuldner (hier: Viehhändler) in den Jahren von 1933 bis 1938 versucht hätte, seine Forderungen einzuklagen.

Gab es in der "Frühzeit" der NS-Diktat schon einen vorauseilenden Gehorsam der Justiz?

Denjenigen, der eine Forderung hat, nennt man nicht Schuldner, sondern Gläubiger. Hoffentlich keine "Freudsche Fehlleistung" deinerseits, wegen des etymologischen Zusammenhangs von Schuld und Schulden.

Das Einklagen von Ansprüchen aus Viehhandel machte eher weniger Probleme, weil der "per Handschlag" und "Ware gegen Geld" erfolgte. Anders sah es ua beim Geldverleih aus. Da hatten selbstverständlich die Nazi-Maßnahmen zum Ausschluss von Juden aus der Justiz einschließlich der Anwaltschaft ihre Wirkungen und auch ihren erst nachträglich formal legalisierten Vorlauf in der "Rechts"-Praxis.
 
Leider sehe ich das jetzt erst, daher die späte Antwort (naja, das Jahr ist ja noch nicht ganz rum):

Damit zumindest über meine Motivation keine Zweifel entstehen,
Die bestanden nie. Auch gegenübr Little_Tiger nicht. Es ging um den Narrativ, den Little_Tiger als solchen - also als Narrativ, nicht als Wahrheit - wiedergab.

Nach Erzählungen von meiner verstorbenen Mutter, war das 'halbe' Dorf bei den jüdischen Viehhändler verschuldet und dass dies der (Haupt) Grund war für die Wahl Hitlers in diesem Dorf.​
 
Vor einigen Jahren
Ich komme aus einem kleinen Dorf irgendwo aus Bayern.
In diesem Dorf gab es zwei jüdische Familien, die als Viehhändler tätig waren.

Nach Erzählungen von meiner verstorbenen Mutter, war das 'halbe' Dorf bei den jüdischen Viehhändler verschuldet und dass dies der (Haupt) Grund war für die Wahl Hitlers in diesem Dorf.

Meine Frage:
Verloren die Schuldscheine bei der Machtergreifung von Hitler sofort ihre Gültigkeit, so dass die Bauern schuldenfrei waren oder war dies erst später der Fall?

Vor einigen Jahren wurde ein Buch veröffentlicht, dass sich mit dem NS in einer ländlichen Region Nordhessens beschäftigt:

Katherina Stengel Nationalsozialismus in der Schwalm.

Das Gebiet des heutigen südlichen Schwalm-Eder Kreises war schon vor der Machtergreifung eine NS-Hochburg. Im Altkreis Ziegenhain war die NSDAP schon vor 1933 stärkste Fraktion. Ländliche protestantische Millieus erwiesen sich als sehr anfällig für den NS.

Es gab viele Bauern oder Handwerker, die privat verschuldet waren. Diese Zahlungsverpflichtungen waren natürlich auch nach 1933 gültig. Ein Großteil der verschuldeten Zeitgenossen schienen aber fest davon überzeugt zu sein, dass alle Schulden bei Juden jetzt null und nichtig waren. Juden hatten kaum eine Chance, solche Schulden einzutreiben.

Im Jahre 1933 stahlen zwei SA-Männer einem jüdischen Metzger und Viehhändler mehrere Schächtmesser. Der Viehhändler klagte, und 1933 gab es noch einen Richter, der die SA-Männer zu einer Geldstrafe verurteilte und zur Herausgabe der Messer zwang. Das Gericht wurde daraufhin von einem Nazi-Mob belagert, und der Richter wurde bald darauf in den Ruhestand geschickt. Bereits ein Jahr später war die Schwalm gleichgeschaltet- ein solches Urteil wäre 1934 nicht mehr möglich gewesen.

Obwohl antisemitische Vorurteile verbreitet waren, obwohl ein Großteil der Bauernschaft und der Handwerker mit der NSDAP sympathisierten, stellte sich bald heraus, dass sie sich in ihren Viehhandel nicht reinreden lassen wollten. Es gab Klagen, dass der Viehhandel nicht mehr so recht funktionierte. Viele der jüdischen Viehhändler waren seit Generationen in der Region verwurzelt, man kannte sich. Auch war der Usus der jüdischen Viehhändler, die Bauern auf ihren Höfen aufzusuchen, für die Landwirte attraktiver. Nachdem die Region arisiert wurde, musste Vieh zu einer weit entlegenen Sammelstelle getrieben werden.

Die Ursachen der Weltwirtschaftskrise waren für viele Landbewohner nicht durchschaubar, und es musste das Vorurteil der "mauschelnden Juden" als Erklärungsmodell dienen. Es war für Juden sehr schwer, wenn nicht unmöglich, verliehenes Geld oder Waren zurückzubekommen, und von Behörden, Gerichten und Polizei war spätestens ab 1934 nicht mehr zu rechnen.

Jüdische Viehhändler spielten aber noch bis in die Mitte der 1930er Jahre noch eine Rolle im heutigen Schwalm-Eder Kreis. Ein Tierarzt namens Thilo Höxter erfreute sich großen Ansehens. In den 1920er Jahren war es Höxter gelungen, eine gefährliche Maul- und Klauenseuche einzudämmen. Mehrere Viehhändler, die 1933 die Region verlassen hatten, kehrten wieder zurück. In der lokalen Presse wurde immer wieder beklagt, dass immer noch Juden im Viehhandel tätig waren und schlimmer noch, dass es Bauern gab, die immer noch mit Juden Handel trieben.
 
DANKE!

Ihre Erklärung deckt sich auch mit meinem Weltbild vom dörflichen Leben in Bayern (vermutl. auch in anderen ländlichen Regionen Deutschlands)

By the way, was wäre eigentlich konkret passiert,wenn wirklich ein jüdischer Schuldner (hier: Viehhändler) in den Jahren von 1933 bis 1938 versucht hätte, seine Forderungen einzuklagen.

Gab es in der "Frühzeit" der NS-Diktat schon einen vorauseilenden Gehorsam der Justiz?

Die meisten hatten jedenfalls schnell begriffen, wie der Hase lief und sie passten sich dem neuen Zeitgeist an.

Viele Juden konnten nicht begreifen, dass es in Deutschland kein Recht mehr gab. Ein Kaufmann Emanuel Strupp erstattete Anzeige, als er beschuldigt wurde, die Kommunistische Partei unterstützt zu haben. Die jüdische Gemeinde von Treysa (heute Ortsteil von Schwalmstadt) verwahrte sich gegen den Vorwurf von illegalen Parteispenden und kündigte strafrechtliche Maßnahmen gegenüber denen an, die so etwas behaupteten. Viele Juden hofften noch 1933 sich mittels Recht und Gesetz zur Wehr setzen zu können.

Ein Amtsgerichtsrat Steinmetz legte sich zweimal mit den Nazis an. 1933, als überall Hakenkreuzfahnen aufgezogen wurden, weigerte sich Steinmetz, SA-Leuten die Fahne der Weimarer Republik auszuhändigen. Ein Jahr später löste er einen Skandal aus. Eines der ersten Gesetze, die sich gegen Juden richteten, war das Verbot des Schächtens. Es trat im Mai 1933 in Kraft, und der Landrat Steinrück war vorausgeprescht und hatte schon im März ein Schächtverbot verhängt. Daraufhin hatten einige SA-Leute einem Salomon Plaut die Schächtmesser gestohlen. Amtsgerichtsrat Steinmetz hatte in einer Verhandlung im Mai 1934 gegen die SA-Leute entschieden. Der couragierte Richter wurde daraufhin von einem Mob bedrängt. "Schießt mich tot, aber in meinen Urteilen lasse ich mich nicht beeinflussen!" hatte Steinmetz gerufen. Der Fall sorgte für einiges Aufsehen in der Region.

Aus dem Jahr 1933 gab es immer wieder Meldungen über Widerstand und Selbstbehauptung. Ein Tagelöhner hatte einem SA-Trupp "Heil Moskau" entgegengerufen. "Er wurde handgreiflich darüber belehrt, dass solche Grüße im neuen Deutschland nicht mehr zulässig sind" schrieb spöttisch die Lokalzeitung. In einem Dorf unterbrach ein Bauer die Stromversorgung am 1. Mai und wurde in "Schutzhaft" genommen.

Die meisten Richter waren bereit den neuen "Anforderungen" Folge zu leisten. Richter Steinmetz wurde nicht in den Ruhestand, sondern auf Initiative des neuen Polizeipräsidenten v on Kassel, Fritz Pfeffer von Salomon nach Oberhausen strafversetzt. Damit wurde klar, dass die Hoffnung der jüdischen Bevölkerung, das Recht könne sie schützen illusorisch war.
 
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