So, nun mal langsam:
Der Strafprozess des Mittelalters ging keineswegs grundsätzlich von der Schuld des Angeklagten aus; das hätte ja auch zu Massendenunziationen geführt (wer jetzt Hexenverfolgung sagt: die begann erst später und unter anderen Vorzeichen).
Generell ist zu unterscheiden zwischen Akkusationsprozess und Inquisitionsprozess.
Der Akkusationsprozess war bis zum 13. Jahrhundert in allen Bereichen und noch danach in der weltlichen Gerichtsbarkeit verbreitet.
Beim Akkusationsprozess wurde eine Person von einer anderen verklagt; Ankläger und Richter durften dabei generell nicht dieselben sein.
Der Akkusationsprozess gestaltete sich in der Praxis als eine Art Diskussion zwischen den Klageparteien, bei der man versuchte, die Schöffen bzw. den Richter, die das Urteil zu fällen hatten, sowie die eigenen Zeugen von der Richtigkeit seiner eigenen Ansicht zu überzeugen; außerdem die gegnerischen Zeugen zu verunsichern. Dazu versuchte man sicherlich auch, "Beweise" anzuführen, allerdings nicht als primäres Mittel zur Urteilsfindung. Die wichtigsten Waffen der Kontrahenten waren die Zeugen, die unter Eid die Aussagen des Klägers/Beklagten unterstützen sollten (dies war sehr effektiv, da man im Mittelalter große Angst vor der Hölle hatte :devil: und möglichst keinen Meineid begehen wollte). Mit Beweisen der Schuld bzw. Unschuld konnte man sicher die Zeugen auf seine Seite ziehen, aber für die Entscheidung waren sie weniger bedeutsam; da kam es dann doch eher auf die Zahl der aufrichtigen Zeugen an. Beweisgründe waren eher ein indirektes Mittel zum Gewinn des Prozesses.
Den Prozess gewann also im Zweifelsfall nicht der Angeklagte, sondern, der, dem man eher glaubte. Ich gehe aber davon aus, dass wenn der Kläger gar keine oder nur unsinnige Argumente bringt der Angeklagte nicht einfach "auf Verdacht" bestraft wurde. Solch einem Ankläger mangelt es auch an der Glaubwürdigkeit, und normalerweise waren seine Zeugen dann schon vor der Urteilsfindung zu unsicher, um auf die falsche Anklage zu schwören.
Der Akkusationsprozess hatte zwei entscheidende Nachteile: Dass der Angeklagte sich schon durch ein paar Zeugen von jeglicher Schuld befreien konnte; gleichzeitig aber auch, dass schlecht angesehene Personen eher verurteilt wurden als beliebte, da sich für sie weniger Eidhelfer fanden. Es kam also vor, dass viele Kläger gar nicht erst vor Gericht zogen und zur Selbstjustiz griffen.
Das Inquisitionsverfahren, nach dem auch die päpstliche "Geheimpolizei" benannt wurde, entwickelte sich im 13. Jahrhundert und wurde im Laufe des Spätmittelalters auf allen Rechtsgebieten die standardmäßige Prozessform. Es basiert auf der Identität von Kläger und Richter; ein Beamter der Obrigkeit (Inquisitor) verklagt eine Person im öffentlichen Interesse und befragt Zeugen aus der gesamten Bevölkerung zu dem Fall. Sachbeweise waren zwar keine offiziellen Beweismittel, allerdings konsultierte sie der Richter in seinen Überlegungen. Befand der Inquisitor, dass die beklagte Person wahrscheinlich schuldig war, versuchte man, dem Angeklagten ein Geständnis abzupressen, wenn's nicht anders ging auch unter Folter. Man nahm an, dass Gott dem Gefolterten bei Unschuld die nötige Standhaftigkeit zuerkennen würde, um die Qualen zu ertragen.
Der Inquisitionsprozess war insofern eine Verbesserung, als dass nun versierte Richter an die Stelle von dahergelaufenen Zeugen traten. Andererseits verlieh seine Personalunion von Kläger und Richter dem Inquisitor unglaubliche Macht, und das führte natürlich nicht selten zu Willkür.