Topografie des Freidenkertums und Atheismus

iamNex

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Liebes Forum,

letztes Jahr habe ich in Rom auf dem Campo de' Fiori das beeindruckende Denkmal des Giordano Bruno besucht. Die Statue wurde in den 1880er Jahren, unweit vom Vatikan, von einer internationalen Gruppe von Freidenkern, Atheisten und Religionskritikern initiirt, errichtet und eingeweiht.

Das Statuen-Projekt sollte als Provokation an den Vatikan dienen, mit allen politischen Implikationen, die Debatten um das Verhältnis von Wissenschaft, Religion und Moderne im 19. Jahrhundert immer wieder prägten.

Befindet man sich heute auf dem Campo de' Fiori, so kann man gewissermaßen ein steinernes Stück Gegengeschichte -- einer Geschichte der Freidenker und Atheisten -- erleben. Ich bin nun auf der Suche nach weiteren solchen (topografischen/architektonischen) Überbleibseln dieser oft vergessenen Geschichte Europas. Habt ihr da Ideen?

Ein weiteres Beispiel, von dem ich weiß, ist der Landsitz Energie in Sachsen, dem früheren Wohnsitz des Chemikers und Präsidenten des Monistenbundes Wilhelm Ostwald.

Ich hoffe, ich konnte verständlich machen, worum es mir geht. Das Thema interessiert mich derzeit sehr...

Liebe Grüße & Danke,
nex.
 
Sicherlich kein Symbol des Freidenkertums aber gegen die Katholische Kirche gerichtet befindet sich in Münster, an der Außenfassade des Altbaus des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kultur (1908) ein Reiter (ich denke, es handelt sich um den Kaiser, bin mir aber nicht sicher), der vom Dom wegreitet. In eine Sackgasse! Also das rückwärtige Ende des Pferdes schaut zum Dom und dieser Umstand wird als Statement der preußischen Bauherrn zur kath. Kirche gesehen.
 
Da gibt es viele Ort zu nennen, z.B. diesen:

Café Procope – Wikipedia

Zusätzlich zum Künstlertreff entwickelte sich das Café als Stätte des politischen Austauschs. Es wurde gerne von Philosophen der Zeit aufgesucht, so entwickelte sich hier im 18. Jahrhundert die aufklärerische Philosophie Frankreichs. Von Voltaire über Rousseau und seinen Freund Diderot, Beaumarchais, Balzac, Victor Hugo und Verlaine bis hin zu Anatole France und weitere wichtige und weniger wichtige Philosophen der Pariser Szene – sie alle frequentierten das Café ebenso wie Napoléon Bonaparte. Das Café wird sogar mit der Entstehung der Grundgedanken der Französischen Revolution in Verbindung gebracht.

cafe procope enlightenment caricature - Google Search :
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe die Frage so verstanden, dass nach Monumenten bzw. Bauwerken gesucht wird, die mit einem vorzugsweise religiösen Bauwerk ablehnend "kommunizieren".
 
Ich vermute, er meint neben "Denkmälern" auch Orte (Bauwerke, Wohnungen, Lokale usw.), die mit dem Freidenkertum historisch eng verbunden sind. Was "Wohnungen" angeht, kommen z.B. die aufklärerischen Pariser Salons bzw. die entsprechenden Häuser in Betracht. Das Haus in Paris ("59, rue d'Auteuil"), in dem der bekannte Salon von Madame Helvetius geführt wurde, scheint aber nicht mehr zu existieren (Neubau).

Anne-Catherine de Ligniville Helvétius – Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
Ha, wusst ichs doch, dass ich mich kompliziert ausgedrückt habe.
Danke euch allen für die tollen Beispiele.

Mir geht es generell um heute noch sichtbare Orte, Tafeln, Monumente, Denkmäler, Bauten, etc. die in Zusammenhang mit der Geschichte des Freidenkertums und Atheismus stehen. Insofern Danke für alle diese Beispiele!

Um ein außereuropäisches Beispiel zu nennen: in Brasilien gibt es die sogenannten Positivsten-Tempel, eine Art Kirche, die sich an den Comte'schen Positivsmus anlehnt.

Zur Aufklärung: ich spiele mit dem Gedanken, eine Art blog o.Ä. zu diesem Thema zu entwerfen. Eine Art Freidenker-Reiseführer. Aber mal sehen. Ich finde das ganze Thema einfach sehr spannend. Bisher habe ich mich nur wenig damit beschäftigt, wie sich Geschichte konkret in Topographie einer Stadt einschreiben kann.
 
Das Problem, welches ich sehe, ist, dass Atheismus nur bedingt etwas mit Freidenkertum zu tun hat. Atheismus ist mit vielen Ideologien teilkompatibel, sowohl sympathischen als auch unsympathischen Ideologien. Und willst du dich auf Konterkultur beschränken? Dann könnten wir alle faschistischen und alle realsozialistischen Bauwerke und Monumente a priori ausschließen.
 
Da gebe ich dir natürlich Recht. Deshalb habe ich auch "Freidenker und Atheisten" geschrieben. Aber deine Einschränkung hinsichtlich counter culture finde ich sehr passend. Ja, genau darum geht es mir. Ich forsche hauptsächlich zum 19. Jahrhundert und da implizieren Freidenkertum und Atheismus stets die counter culture. Ich hätte dies aber selbstverständlich erwähnen sollen.

Deshalb: ja, keine faschistischen und realsozialistischen Überbleibsel, sondern jene, die von distinkten Aktivisten und Gruppierungen ins Leben gerufen wurden.

Tausend Dank!
 
Deshalb habe ich auch "Freidenker und Atheisten" geschrieben.

Natürlich sind die Begriffe "Freidenker" und "Atheist" nicht deckungsgleich, sie überlagern sich aber, da jeder Freidenker, sofern man den Begriff des Freidenkens "stark" definiert, ein Atheist bzw. Nicht-Theist ist, nicht jeder Atheist bzw. Nicht-Theist aber ein Freidenker. Unter Nicht-Theist verstehe ich hier Agnostiker, die nicht wie die Atheisten sagen, es gibt keinen Gott, sondern lediglich die Unerkennbarkeit eines solchen betonen und aus diesem Grund eine auf Gottesglauben basierende Lebenshaltung ablehnen, wobei der Gottes"glaube" allerdings selbst schon die Unerkennbarkeit impliziert, was in Joh 1,18 denn auch freimütig zugegeben wird.

Eine "schwache" Definition des Freidenkens beschränkt die Freiheit auf die individuelle Gestaltung, die ein Subjekt seinem Gottesglauben gibt. Das Subjekt lässt sich nach dieser Definition vom Papst oder der Kirche oder der Theologie nicht vorschreiben, welche Form sein Gottesglaube hat und in welcher Weise es ihn lebt. Aus Sicht der Atheisten ist diese Haltung allerdings inkonsequent, da das sozialisierte Subjekt seinen Glauben doch genau den Institutionen verdankt, gegen die es "freidenkerisch" rebelliert.

Im 18. Jahrhundert implizierte das Freidenkertum neben dem Atheismus einen gemäßigten Theismus, den Deismus, also den Glauben an einen Schöpfergott, der sich mit der Erschaffung der Welt und der Menschen begnügt, ohne sich weiter in das von ihm in Gang gesetzte Geschehen einzumischen. Diese Kompromisshaltung kann nicht überraschen, da der Schritt vom Theismus zum Atheismus den meisten "Freidenkern" denn doch zu radikal erschien.

Einige gingen ihn aber doch, wie z.B. der bekannteste Atheist der Aufklärung, der deutsche Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach. Seine Bedeutung für die Aufklärung und die französische Revolution ist kaum zu überschätzen.

Paul Henri Thiry d’Holbach – Wikipedia

Thread-thematisch ist auf den Salon hinzuweisen, den er in Paris in der damaligen Rue Royale Saint Roch 8 (heute Rue des Moulins 10) geführt hat. Bilder des Hauses habe ich unten verlinkt (unter dem Eindruck der Upload-Debatte verzichte ich darauf, sie hier in das Textfenster zu importieren, weil die Fotos evt. ein Copyright haben).

Die Gruppe, die sich dort über Jahre zu "freidenkerischen" Gesprächen traf, wurde "Coterie holbachique" genannt, und bestand aus Köpfen wie Diderot, d´Alembert, Rousseau, Abbe Galiani, Helvetius (der Gatte von Madame Helvetius) und vielen mehr. Gelegentliche Gäste waren Benjamin Franklin, David Hume, Adam Smith, Horace Walpole und Laurence Sterne. Also jede Menge Who´s who der geistigen Elite jener Tage.

Der Landsitz von d´Holbach, das Schloss Grandval, das gleichfalls ein Treffpunkt der "Freidenker" war, ist in den 1940ern zerstört worden.

"Rue des moulins 10" - Google Search :

d´holbach "Rue de Moulins N°10" - Google Search :
 
Natürlich sind die Begriffe "Freidenker" und "Atheist" nicht deckungsgleich, sie überlagern sich aber, da jeder Freidenker, sofern man den Begriff des Freidenkens "stark" definiert, ein Atheist bzw. Nicht-Theist ist, nicht jeder Atheist bzw. Nicht-Theist aber ein Freidenker. Unter Nicht-Theist verstehe ich hier Agnostiker, die nicht wie die Atheisten sagen, es gibt keinen Gott, sondern lediglich die Unerkennbarkeit eines solchen betonen und aus diesem Grund eine auf Gottesglauben basierende Lebenshaltung ablehnen, wobei der Gottes"glaube" allerdings selbst schon die Unerkennbarkeit impliziert, was in Joh 1,18 denn auch freimütig zugegeben wird.

Eine "schwache" Definition des Freidenkens beschränkt die Freiheit auf die individuelle Gestaltung, die ein Subjekt seinem Gottesglauben gibt. Das Subjekt lässt sich nach dieser Definition vom Papst oder der Kirche oder der Theologie nicht vorschreiben, welche Form sein Gottesglaube hat und in welcher Weise es ihn lebt. Aus Sicht der Atheisten ist diese Haltung allerdings inkonsequent, da das sozialisierte Subjekt seinen Glauben doch genau den Institutionen verdankt, gegen die es "freidenkerisch" rebelliert.
Ich denke, da wäre auch zu Zeiten des von Dir angeführten Holbach keiner mitgegangen. Man kann sehrwohl Freidenker und Theist sein. Voltaire z.B..

Konkret fiele mir einfach das Schloss Sanssouci ein. Auch wenn man im Preußen Friedrich II. vielleicht nicht frei war, würde ich schon postulieren, dass Friedrich für sich in Anspruch nahm ein Freidenker zu sein. Typisch für ihn auch, dass es z.B. keine Schlosskapelle gibt.
 
Wir feiern doch gerade nicht nur 100 Jahre Weimarer Republik sondern auch 100 Jahre Bauhaus. Wie seiht es denn mit Bauhaus aus, Nex, ist das deiner Meinung nach freidenkertümlich oder nicht?
 
Zur Aufklärung: ich spiele mit dem Gedanken, eine Art blog o.Ä. zu diesem Thema zu entwerfen. Eine Art Freidenker-Reiseführer. Aber mal sehen. Ich finde das ganze Thema einfach sehr spannend. Bisher habe ich mich nur wenig damit beschäftigt, wie sich Geschichte konkret in Topographie einer Stadt einschreiben kann.

Das Haus von Garibaldi auf der Insel Caprera (Sardinien) wäre erwähnenswert. Es ist ein bescheidenes Haus das zum Museum umfunktioniert wurde. Sein Grab befindet sich ebefnalls dort. Ansonsten ist die Insel unbewohnt.
 
In Málaga gibt es einen Obelisken, der sich auf der Plaza de la Merced befindet (wobei die meisten, die zur Plaza de la Merced gehen, den Obelisken links liegen lassen und sich in Richtung des Geburtshauses von Picasso zu begeben, um sich davor, akazienbeschirmt, neben einen Bronze-Picasso auf eine Bank setzen und ablichten lassen). Unter dem Obelisken befindet sich das Grab des Generals Torrijos und 47 seiner Mitstreiter, nachdem man die Knochen aus dem Massengrab von 1831 geborgen hat. Nur drei Personen hatten Individualgräber bekommen, Torrijos, dessen Schwester in Málaga lebte, ein weiterer Ortsansässiger und Robert Boyd. Torrijos war mit anderen nach dem Trienio Liberal (dem Liberalen Jahrdritt 1820 - 1823) nach England geflohen und wartete dort auf die Gelegenheit, nach Spanien zurückzukehren. 1830 verlegte er seinen Sitz nach Gibraltar, 1831 wurde ihm dann eine falsche Nachricht zugespielt und er solle in Málaga landen, was er mit 70 Mann auch tat. Dort wurde er von den königlichen Truppen in Empfang genommen und es gelang ihm und seinem Gefolge zunächst in die Berge zu fliehen, aber nach eingen Tagen mussten sie auf- und sich ergeben. 49 Mann - darunter der General - wurden ohne Gerichtsverfahren an einem Strand von Málaga erschossen. Anderhalb Jahre später war Fernando VII. tot....

Einge Jahre nach Fernandos Tod (1833), 1842, errichtete man dann das Monumento a Torrijos.

Von dem Monument - der Obelisk wurde als Symbol der Ewigkeit gewählt - geht die Legende, die sich allerdings mittlerweile als wahrscheinlich falsch herausgestellt hat, nämlich, dass die paar Quadratmeter Land, auf dem das Torrijos-Monument stehen, dem französischen Staat gehörten (Konjunktiv, nicht Imperfekt). Zumindest kann bisher niemand den Beweis vorlegen, dass der Grund dem frz. Staat gehört. Und zwar habe, so die Legende, Isabel II., ihreszeichens Tochter und Nachfolgerin Fernandos VII., aber politisch völlig anders auf- und eingestellt, den umgitterten Bereich dem frz. Staat vermacht, damit nie ein spanischer Herrscher dieses Monument des Liberalismus wieder abreißen würde. Und in der Tat überlebte es ja die beiden spanischen Diktaturen des 20. Jhdts.

Der Ire Robert Boyd befindet sich auf einem britischen Soldatenfriedhof und ein Soldat ist unter falschen Namen bestattet. Bei ihrer Gefangenname hatten die meisten der 49 Mann falsche Namen angegeben, um Repressionen gegenüber ihren Familien zu vermeiden, aber bei ihrer Exekution haben sie diese dann doch angegeben, damit ihre Familien wenigstens erführen, dass und wie sie gestorben sind. Lediglich einer der Liberalen gab seinen Namen nicht preis, vermutlich, um seinen Vater zu schützen, der als General im absolutistischen Heer diente. Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Manuel Real, der unter dem Pseudonym Joaquín Cantalupi dort bestattet liegt.

Die Symbolik des Monuments ist umstritten, enige meinen, es sei voll von Freimaurersymbolik (masonería), andere dagegen sagen, dass es die Symbolik hat, die allgemein im Klassizismus verwendet wurde, sowohl der Obeliks für die Ewigkeit als auch die Lorbeerkränze für Heldentum und seine hier keine masonischen Elemente.

Waren Torrijos und seine Mitstreiter nun Freidenker? Atheisten waren sie wahrscheinlich nicht.
 
Alles tolle Beispiele, vielen Dank! Ich würde auch alle davon mehr oder weniger gelten lassen.
Der Historiker Todd Weir definiert den Säkularismus des 19. Jahrhunderts durch 3 zentrale Elemente: immanente Weltanschauung, Antiklerikalismus, und praktische Ethik. In abgeschwächter Weise würde ich das auch für "Freidenker" gelten lassen. Ich persönlich würde unter dem Oberbegriff Freidenker eigentlich sehr viel fassen: säkulare Aktivisten, Monisten, Materialisten, Freireligiöse (Deutschkatholiken/Lichtfreunde), usw. Bei allen diesen Spielarten gibt es atheistische, theistische und pantheistische Versionen. Ich würde das alles mitnehmen.

1933 hat ein amerikanischer Journalist über die Geschichte des Freidenkertums in den USA nachgedacht. Eines der Zitate dieses Journalisten verdeutlicht die Heterogenität des Spektrums, das ich meine:

"They could never even agree on what to call themselves. Freethinker, Rationalist, Agnostic, Atheist, Liberal, Secularist, Monist, Materialist -- take your choice."
 
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