Tshangyang Gyatso, der 6. Dalai Lama (1683-1706)

SRuehlow

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Ostwärts, von den Berggipfeln
Weiß und klar der Mond erscheint:
Das Antlitz einer schönen Jungfrau
Nahm immer und immer wieder Form an in meinem Geist.


Dieses berühmte Gedicht stammt aus der Feder des 6. Dalai Lama, Tshangyang Gyatso, dem Ozean der göttlichen Stimme. Er ist nicht so sehr als religiöser Führer seines Volkes eingegangen, sondern als Kenner und Schöpfer schöner Verse und Lieder. Besonders den Frauen widmete der 6. Dalai Lama mehrere betörende Versepen. Er wird in einem Atemzug mit dem großen tibetischen Dichter Milarepa genannt.

Tshangyang Gyatso wurde 1683 in Mön geboren, einer Region, die heute zur Autonomen Region Tibet und zum indischen Bundesstaat Arunchal gehört. Drei Jahre vor seiner Geburt war diese Region mit Hilfe der Mongolen ins Tibetische Reich einverleibt worden. Der große 5. Dalai Lama hatte es mit Waffengewalt erobert. Doch kurze Zeit später starb der Große Fünfte und der Regent in Lhasa befürchtete ein Machtvakuum, denn inzwischen war auch der eigentliche Herrscher Gushri Khan gestorben und noch war keine Wiedergeburt des Dalai Lamas erkannt worden. Also verkündete Sangye Gyatso, dass sich der 5. Dalai Lama in ein großes Retread zurückgezogen habe, dass mehrere Jahre dauern könne. Fieberhaft wurde nach einer neuen Inkarnation gesucht. Nachdem zwei Jahre verstrichen waren und Sangye Gyatso sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, um eine Wiedergeburt zu finden, sandte er eine Mönchsdelegation gen Südtibet aus, die andere Inkarationen suchen sollten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, denn das Volk glaubte immer noch daran, dass der 5. Dalai Lama in Meditation zurückgezogen lebte.
In Urgyenling wurden die Mönche fündig: Die Eltern des gefunden Kindes zweifelten daran, dass ihr Kind eine Wiedergeburt eines großen Lehrers sei und wollten den Sohn nicht zeigen. Nach langem Zureden sollte der Junge schließlich einer Prüfung unterzogen werden, die er das erste Mal nicht bestand. Nachdem die Delegation schon abgereist war, kamen sie nochmals auf Anraten eines Klosters zurück und das Kind konnte die gezeigten Gegenstände ohne Mühe als die seines Vorgängers identifizieren. Inzwischen waren Gerüchte über den Tod des 5. Dalai Lamas in Umlauf gekommen und das Volk glaubte, dass die Regierung in Bhutan einen militärischen Eroberungsfeldzug nach Tibet plante. Sangye Gyatso musste die Legitimation Tshangyang Gyatso so schnell wie möglich vorantreiben. Im Winter 1685 wurde er offiziell als 6. Dalai Lama anerkannt, jedoch unter Bewachung in einer Festung in Tsona behalten, damit ihm kein Unglück geschehen konnte. Er war zum politischen Spielball eines jungen Regenten geworden, der keinerlei Einfluss auf das kommende Geschehen hatte – er war ein Kind von zwei Jahren. 1696 wurde seinen Eltern, die man von ihm fernhielt, erst eröffnet, dass ihr Kind die Wiedergeburt des 5. Dalai Lamas sei. 1686 hatten zwei Mönche seine Erziehung übernommen, bei denen er lesen und schreiben lernte. Mit acht Jahren sollte er die Listen mit Erlässen seiner Vorgänger studieren und deren geheimen Biographien, damit er sich erinnern sollte, wer er einmal gewesen war und wer er sein sollte.

Kaiser Kangxi lies den Tod des 5. Dalai Lamas verkünden und erkannte ihn offiziell von chinesischer Seite aus an. Der Panchen Lama weite Tshangyang Gyatso zum Mönchsnovizen und am 8. Dezember 1697 bestieg er den Thron im Potala-Palast in Lhasa. Von jetzt an war er voll ins Staatsgeschäft eingebunden. Er empfing Abgesandte aus ganz Asien, gab Audienzen, nahm an rituellen Zeremonien teil. Diese Aufgaben überforderten den jungen Dalai Lama. Schon während seiner Novizeneinführung war er in Tränen ausgebrochen, weil er die lange Isolation von seinem Vater nicht ertragen konnte. Die persönliche Erziehung wurde nun vom Regenten Sangye Gyatso übernommen, die religiöse vom Panchen Lama. Seine Erziehung war vielfältig: Bogenschießen, Reiten, schöne Künste – er fand nach und nach Geschmack daran, weigerte sich immer öfter, im Potala seinen religiösen Pflichten nachzukommen. Er zog sich immer mehr mit seinen Freunden zum Bogenschießen und anschließendem Feiern, oft mit Frauen, zurück. Diese Einstellung verwirrte und verärgerte seine Erzieher. Es kam zu einem Briefwechsel zwischen ihm und dem Panchen Lama, der durch den Regenten den Druck erhielt, Tshangyang so bald wie möglich in die Mönchsweihen einzuweisen, um seinem weltlichen Leben ein Ende zu machen. Tshangyang Gyatso stimmte einem Treffen im Hauptkloster des Panchen Lamas – Taschilümpo – zu, aber als er dort weit nach der vereinbarten Zeit eintraf, weigerte er sich, im Kloster Quartier zu nehmen. Der Panchen Lama versuchte ihn mit allen erdenklichen Mitteln davon zu überzeugen, dass er zum Wohle seines Volkes den Thron besteigen solle. Nach einer schlimmen Auseinandersetzung zwischen dem 6. Dalai Lama und dem Panchen Lama, drohte der Dalai Lama öffentlich mit Suizid, wenn man ihn zwingen sollte, die vollständigen Mönchsweihen anzunehmen oder ihn zu irgendetwas zwingen sollte, was er ablehne.
Er kehre nach Lhasa zurück, legte die Mönchsrobe ab, weigerte sich eine Tonsur scheren zu lassen, trug von nun ab Aristokratenkleidung und Schmuck. Er machte jungen Damen den Hof, frönte dem Trinken und Bogenschießen und erlag der Versdichtung. Aus dieser Zeit stammten seine schönsten Gedichte, für die ihn das Volk noch heute verehrt.

Durch die Zurückweisung der öffentlichen Ämter des 6. Dalai Lamas spannte sich das Verhältnis zwischen Tibet und der Mongolei. Der Regent gab sein Amt an seinen ältesten Sohn ab, blieb aber weiter hinter der Bühne politisch aktiv. Er schmiedete ein Mordkomplott gegen den Dalai Lama, der bei einem seiner Liebesabenteuer innerhalb des Potala erstochen werden sollte. Der Dalai Lama hatte jedoch an diesem Abend mit einem befreundeten Diener die Kleidung vertauscht und entging so dem Attentat. Tshangyang lies die Attentäter zum Tode verurteilen und öffentlich hinrichten, äußerst seltnen Strafe.
Sangye Gyatso wurde 1705 in den Wirren des entstanden Kampfes um die Vorherrschaft in Tibet getötet. Der Nachfolger Gushri Khans, Lhasang Khan, lies eine Armee zusammen-trommeln und zog gen Lhasa. Tshangyang Gyatso, der 6. Dalai Lama, hatte durch sein Verhalten die großen politischen Führer der Mongolei und Chinas gegen sich aufgebracht. Sie waren davon überzeugt, dass der falsche Dalai Lama in Lhasa regierte. Tshangyang hatte zwar seine religiösen Weihen aufgegeben, aber er blieb trotzdem weltlicher und geistlicher Führer Tibets – ein Debakel für alle anderen.
Eine Sonderversammlung aller buddhistisch-tibetischen Würdenträger wurde einberufen. Auf diesem Konzil stellte man fest, dass Tshangyang Gyatso die richtige Reinkarnation des 5. Dalai Lamas sei, er aber vom Geist der buddhistischen Erleuchtung verlassen sei. Der mongolische Khan stimmte dem Plan zu, den Dalai Lama nach China in Haft zu setzen. Der 6. Dalai Lama wurde gefangen genommen und Richtung China deportiert. Mönche aus dem Kloster Drepung kamen ihm jedoch zu Hilfe, die ihn nicht an die Chinesen ausliefern lassen wollten. Nachdem Tshangyang Gyatso ihnen versprochen hatte, dass er ihnen in seinem nächsten Leben wieder begegnen würde, unterwies ihn der Abt ein letztes Mal, wobei der Dalai Lama um die religiöse Unterweisung gebeten hatte. Wahrscheinlich hatte er eine Vorahnung von seinem baldigen Tod.
Als die Strafdelegation am Kokonorsee halt machte, erkrankte der Dalai Lama plötzlich. In der Nacht des 14. auf den 15. November 1706 starb er überraschenderweise. Man nahm an, dass er sich auf der Reise eine Lungenentzündung zugezogen hatte. Sicher ist dies durchaus nicht, denn es könnte ebenso gut ein Mordkomplott der neuen Regierung in Lhasa gewesen sein, in Absprache mit den Chinesen und Mongolen. Das Volk rief offen zum Aufstand auf, verteilte Flugblätter gegen die Regierung und ging äußerst gewaltsam gegen die Besatzer aus China und der Mongolei vor. In diesem Zuge der Gewalt wurde der gesamte Besitz der Familie des 6. Dalai Lamas enteignet, die Mutter geblendet und seinen Brüdern die Hände abgehackt. Man wollte die gesamte Erinnerung an den 6. Dalai Lama auslöschen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Ein halbes Jahrhundert später brachte ein mongolischer Mönch eine Heiligenlegende seines Lehrers heraus, in der behauptet wurde, der 6. Dalai Lama hätte entkommen können und der Tod sei nur vorgetäuscht worden. Er sei geläutert worden durch verschiedenste Unterweisungen und habe sich seiner Reinkarnation besonnen. Fortan habe er ein religiöses, enthaltsames Leben geführt.

Fest steht, dass Tshangyang Gyatso seit seiner Kindheit ein Spielball zwischen machthungrigen Großpolitikern war, in deren Plänen der junge Dalai Lama nur eine Marionette sein hätte sollte. Nach den großen Entbehrungen seiner Kindheit hatte der 6. Dalai Lama den Mut, Nein zu sagen. Er ging seinen Weg und versuchte aus diesem Strudel der Macht und Gewalt herauszukommen. Sein Leben kann man von verschiedenen Seiten sehen: Er ist ein junger Mensch, der aus Isolation und Politik ausbrechen möchte, weil er leben will und stürzt damit sein Land in einen erbitterten Krieg dreier Großmächte.

All zu oft vergessen wir, dass die großen Lehrer und Meister auch nur Menschen mit einer empfindsamen Seele sind, die wie Du und ich einfach nur leben wollen… in diesem Sinne – Taschi Delek.
 
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Hier habe ich ein paar Bildchen des 6. Dalai Lamas. Sie zeigen ihn in Mönchsornat. Leider konnte ich kein Bildnis von ihm ausfindig machen, auf dem er mit langen Haaren und gewöhnlicher Aristokratenkleidung zu sehen ist, denn diese Bilder sind unter Tibetern sehr beliebt.
Das andere Bild stammt aus dem Potala-Palast in Lhasa. Es zeigt eine kaligraphische Darstellung eines Gedichtes von Tshangyang Gyatso. Man munkelt, dass er es angeblich selbst geschrieben haben soll. Auf jeden Fall ist dieses Wandgedicht sehr berühmt und wird auf dem Parkhor, der Marktstraße um die Heiligtümer, vervielfältigt und zu hunderten an die Gläubigen verkauft oder auch zu besonderen Anläßen verschenkt.
 

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