W. Putin und der 75. Jahrestag des Großen Sieges...

Ralf.M

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Auf der Homepage der Botschaft Russlands in Berlin heute gefunden einen Artikel von Herrn Putin zum „75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“.

Artikel wurde in Deutsch am 19.06.d.J. veröffentlicht mit z.Zt. 4 Kommentaren.

Sehr langer Text und wie ich höre, schickte die Botschaft diesen Artikel per E-Mail an Dutzende deutscher Osteuropa-Historiker, begleitet von dem Vorschlag, den Text, der sicher auf „erhebliches Interesse“ stoßen werde, „künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen, selbstverständlich mit Link zur „Webseite des Präsidenten der Russischen Föderation“.

https://russische-botschaft.ru/de/2...ame-verantwortung-vor-geschichte-und-zukunft/

Bei mir entsteht der Eindruck, dies ist offensichtlich die bekannte einseitige Sicht – bei allen Respekt vor den Opfern der Sowjetunion im II. WK – der Historie.

Nun bin ich ja wie hier bekannt nur ein Hobbyhistoriker, hätte deshalb hier gern mal die Meinungen der Profis gelesen.
 
Wie es scheint beinhaltet die neue Verfassung auch das:
"Und es gibt noch einen ganzen großen weiteren Block. Der dreht sich um Identitätspolitik und Geschichtspolitik. Der Staat will die sogenannte historische Wahrheit definieren, also das, was Inhalt historischer Erinnerungen bleiben und sein soll."
Russische Verfassungsreform - Auf der Zielgeraden

Weiß jemand was da genau gesagt wird, welches Geschichtsverständnis da Verfassungsrang hat?
Gibt es vergleichbare andere Bestimmungen in den Verfassungen anderer Staaten?
 
Weiß jemand was da genau gesagt wird, welches Geschichtsverständnis da Verfassungsrang hat?
Michael Thumann fasst es in der Zeit so zusammen:
"Putin lastet dem Westen und Polen Kollaboration mit Hitler und erhebliche Mitschuld am Kriegsausbruch an. Polnischen Diplomaten wirft er Antisemitismus vor. Den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, in dem Deutsche und Sowjets damals Polen und Ostmitteleuropa eiskalt unter sich aufteilten, beschreibt Putin als defensive Maßnahme der Sowjetunion und 'alternativlos'. Der darauffolgende sowjetische Einmarsch in Ostpolen und den baltischen Staaten sei ebenfalls 'defensiv und im Einklang mit dem Völkerrecht' gewesen."

Wo sich dieses Weltbild nun genau in welchen Artikeln der Verfassungsreform niederschlägt, weiß ich nicht. Ich kann kein russisch und habe keine deutsche oder englische Version des genauen Reformtextes gefunden. Die Passagen lassen sich aber in der von Ralf verlinkten Rede Putins zum 75. Jahrestages des Endes des 2.WK wiederfinden, bspw. zur Annexion der baltischen Länder: "Ihr Beitritt zur UdSSR erfolgte auf vertraglicher Basis, mit Zustimmung der gewählten Behörden. Dies entsprach den Normen des Völker – und Staatsrechts der damaligen Zeit."
 
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Michael Thumann fasst es in der Zeit so zusammen:
"Putin lastet dem Westen und Polen Kollaboration mit Hitler und erhebliche Mitschuld am Kriegsausbruch an. Polnischen Diplomaten wirft er Antisemitismus vor. Den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, in dem Deutsche und Sowjets damals Polen und Ostmitteleuropa eiskalt unter sich aufteilten, beschreibt Putin als defensive Maßnahme der Sowjetunion und 'alternativlos'. Der darauffolgende sowjetische Einmarsch in Ostpolen und den baltischen Staaten sei ebenfalls 'defensiv und im Einklang mit dem Völkerrecht' gewesen."
Letzteres ist dann auch keine akzeptierbare Lesart mehr, sondern faktenbefreite Propaganda.
Immerhin war die Sowjetunion anno 1929 dem Briand-Kellogg-Pakt beigetreten und hatte damit die Ächtung von Angriffskriegen auf völkerrechtlicher Basis anerkannt.

Damit ließe sich vielleicht durch den Ablauf im Hinblick auf die Baltischen Staaten, die wenn auch erzwungener Maßen, der sowjetischen Oberhoheit ja vertraglich zustimmten, in Abseitiger Weise in völkerrechtlichen Grauzonen argumentieren (wenn man es seeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeehr sowjetfreundlich auslegen wollte).
Die Besetzung Ostpolens, die einen eindeutigen kriegerischen Akt darstellte, definitiv nicht mehr und auch der "Winnterkrieg" gegen Finnland (die Deutsch-Sowjetischen Vereinbarungen beinhalteten immerhin auch das Thema welcher Interessensphäre das Land zuzurechnen sei, womit der "Winterkrieg" als direkte Folge verstanden werden kann, wenn nicht muss), der sich dann nicht einmal mehr mit Schutz irgendwelcher slawischen Bevölkerungsanteile (die bei der Überlassung Polens an das 12-Jährige Reich ja auch kaum eine Rolle spielten), wie das hier in Sachen Ostpolen vorgebracht wird, rechtfertigen lässt, nicht.

Das waren eindeutige Brüche von Verpflichtungen aus dem Briand-Kellogg-Pakt, die die UdSSR 1929 übernommen hatte.

Auf der Homepage der Botschaft Russlands in Berlin heute
Bei mir entsteht der Eindruck, dies ist offensichtlich die bekannte einseitige Sicht – bei allen Respekt vor den Opfern der Sowjetunion im II. WK – der Historie.

Nein, dass ist keine einseitige Sicht mehr. Das ist Geschichtsfälschung in Reinkultur zum eigenen Zweck.
Argumentationen, die darauf zielten, dass die UdSSR das Völkerrecht zwar mit Füßen trat, dies aber lediglich tat um sich vor deutscher Aggression zu schützen, könnte man möglicherweise als abseitige, einseitig ausgelegte Darstellung mit reichlich prekärer Argumentationsgrundlage, möglicherweise noch hinnehmen.
Die Behauptung, dass das damalige Handeln der Sowjetunion im Einklang mit den eigenen völkerrechtlichen Bindungen gestanden hätte, ist eine sehr einfach nachzuweisende glatte Fehldarstellung.

Um das Vorrantreiben der Ächtung militärischer Gewalt auf internationaler Ebene hatte sich einige Jahre zuvor Litwinow, in seiner Funktion als Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, noch sehr bemüht:

Briand-Kellogg-Pakt – Wikipedia
Litwinow-Protokoll – Wikipedia
 
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Putins Argumentation baut im wesentlichen auf dem sowjetischen Geschichtsbild auf. Demnach war die Müncher Abkomen ein Komplott imperalistischer Staaten, das die Sowjet-Union isolierte.
Allerdings liegt bei Putin der Fokus nochmal besonders auf der Politik Polens, was sicherlich die besonderte Zutat der Tagespolitik ist.

Die wichtigste These ist meines Erachtens diese hier.
Putin schrieb:
Heute möchten europäische Politiker, vor allem polnische Spitzenpolitiker, München „verschweigen“. Warum? Nicht nur deswegen, weil ihre Länder damals ihre Verpflichtungen verraten haben und das Münchner Komplott unterstützten, wobei einige sogar an der Teilung der Beute teilnahmen, sondern auch weil es unangenehm ist, sich daran zu erinnern, dass sich nur die UdSSR an jenen dramatischen Tagen für die Tschechoslowakei eingesetzt hat.
Hier wird sugeriert, dass in Europa aus dem Münchner Abkommen ein Geheimnis gemachte würde. Ich kenne die polnische Erinnerungskultur nicht im Detail, halte aber die Ansicht, dass das Münchner Abkommen und insbesondere die Britische Appeasement-Politik ein Fehler war, der direkt in den 2. Weltkrieg führte, für allgemein bekannt.

Als nächstens fragt Putin nach den "geheimen Protokollen", die immer noch geheim gehalten würden. Es gäbe also eine Art Verschwörung, die von den europäischen Historikern aufgedeckt werden müsste.
Die entscheidenden Aussagen liegen wie bei jeder Verschwörungstheorie zwischen den Zeilen.
Meiner Ansicht nach wird hier sugeriert, es habe ein geheimes Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und anderen beteiligten Staaten gegeben. Die Details fehlen natürlich, da sie angeblich streng geheim sind. Anders funktioniert eine Verschwörungstheorie auch nicht.

Putin suggeriert, es habe zu Konferenz in München geheime Zusatzprotokolle gegeben - ähnlich denen des Hitler-Stalin-Paktes, irgendwas was auf die Aufteilung Europas hinausläuft. Wollte Frankreich Polen an die Nazis verraten? Wollte Polen zusammen mit den Deutschen die Sowjet-Union überfallen? Oder beides gleichzeitig? Das Ausmaß der Verschwörung bleibt natürlich der Phantasie des Lesers überlassen, so begibt sich Putin auch nicht in die Gefahr sich in den Details möglicher Verschwörungs zu verirren.

Als Kontrast zur angeblichen Politik der Geheimhaltung verweist Putin darauf, dass Russland seine Archive geöffnet habe. Tatsächlich wurde die geheimen Zusatzprotokolle Hitler-Stalin-Pakt 1992 auf Betreiben Jelzins veröffentlicht. Jetzt müssten die anderen europäischen Staaten nachziehen und ihre geheimen Machenschaften mit Hitler aufzudecken.
Tatsächlich kann diese Argumentation allerdings nicht funktionieren, da direkt nach dem Krieg zahllose Akten aus Deutschland und Osteuropa nach Moskau verschleppt wurden und es liegt allein in Moskaus Hand diese zugänglich zu machen oder weiter unter Verschluss zu halten.
 
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Weiß jemand was da genau gesagt wird, welches Geschichtsverständnis da Verfassungsrang hat?
Ich kann kein russisch und habe keine deutsche oder englische Version des genauen Reformtextes gefunden.

Guten Tag! Ich kann euch damit helfen.
Die neue Verfassungsversion ist noch in Kraft nicht getreten, aber das ist nur eine Sache der wenigen Wochen, nehm ich an.

"Российская Федерация чтит память защитников Отечества, обеспечивает защиту исторической правды. Умаление значения подвига народа при защите Отечества не допускается." // Die Russische Föderation hält das Gedenken an die Vaterlandsverteidiger in Ehren, gewährleistet den Schutz von historischer Wahrheit. Die Verminderung der Rolle des Volkes bei der Vaterlandsverteidigung wird nicht zugelassen.
Das ist der neue Text des Artikels 67/1 Absatz 3 (tut mir Leid, wenn ich Fehler gemacht habe. Deutsch ist nicht meine Muttersprache).

Und die wichtigste Frage ist - was kan mann für "historische Wahrheit" halten und was - nicht. Putins Vision vom zweiten Weltkrieg basiert eigentlich auf sowjetischen Mythen, Büchern, Fehlern. Es ist schwer zu sagen, wozu das alles führen kann.

Mit freundlichen Grüßen, Ilja.
 
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"Die Russische Föderation hält das Gedenken an die Vaterlandsverteidiger in Ehren, gewährleistet den Schutz von historische Wahrheit. Die Verminderung der Rolle des Volkes bei der Vaterlandsverteidigung wird nicht zugelassen."
Hallo Ilja, danke für deinen Beitrag. Der von dir genannte Artikel zur Änderung der russische Verfassung klingt für mich ziemlich unpräzise. "Schutz der historischen Wahrheit" kann alles mögliche beinhalten. Wir wissen auch nicht, in wie fern Kritik an Einzelmaßnahmen (Katyn als Beispiel) schon als "Verminderung der Rolle des Volkes bei der Vaterlandsverteidigung" gewertet werden könnte. Man muss sehen, was man versuchen wird, als "Verminderung der Rolle des Volkes bei der Vaterlandsverteidigung" oder als " historische Wahrheit" darzustellen. Da gebe ich dir recht.

Einen Einblick, was Putin darunter versteht, konnten wir in der Rede zum 75. Jahrestag des Kriegsendes lesen.
 
Putins Argumentation baut im wesentlichen auf dem sowjetischen Geschichtsbild auf. Demnach war die Müncher Abkomen ein Komplott imperalistischer Staaten, das die Sowjet-Union isolierte.
Allerdings liegt bei Putin der Fokus nochmal besonders auf der Politik Polens, was sicherlich die besonderte Zutat der Tagespolitik ist.

Die wichtigste These ist meines Erachtens diese hier.

Hier wird sugeriert, dass in Europa aus dem Münchner Abkommen ein Geheimnis gemachte würde. Ich kenne die polnische Erinnerungskultur nicht im Detail, halte aber die Ansicht, dass das Münchner Abkommen und insbesondere die Britische Appeasement-Politik ein Fehler war, der direkt in den 2. Weltkrieg führte, für allgemein bekannt.

In dem Punkt, bin ich der Meinung, hat der Möchtegern-Zar, meine ich aber nicht ganz unrecht, mindestens was die Rolle Polens in der öffentlichen Erinnerungskultur betrifft.
Wie oft wird denn etwa, wenn München hier medial Thema ist, dabei angesprochen, dass Polen durchaus an der Sudetenkrise durch die Besetzung und faktische Annexion von Cieszy/Teschen partizipierte?

Ist mir medial, abseits der Fachliteratur kaum untergekommen, wird sicherlich auch vermieden, um unsinnigen Aufrechnungen von deutschem und polnischen Handeln, seitens von Elementen, die gerne NS-Verbrechen entschudigt wissen, keine öffentliche Basis zu bieten.

Dabei spielte das polnische Handeln in der Sudetenkrise, meine ich durchaus eine Schlüsselrolle, für das, was dann unmittelbar folgte, da es eine erstzunehmende 2. Front gegen Hitler im Osten verhinderte und außerdem, weil es einer sowjetischen Intervention auf Basis der Beistandsverpflichtungen mit der CSR von 1935 im Wege stand.

Nun muss ich an dieser Stelle sagen, dass mir die interne Diskussion bei den Sowjets, wie ernst sie diese Verpflichtung denn zu nehmen hätten, nicht im Detail bekannt ist, was dann für die Bewertung vielleicht noch einmal eine Rolle spielte, allerdings:

- Entweder war es der Sowjetunion mit der Garantie der CSR ernst, in diesem Fall hätte die Weigerung Polens sich am Widerstand gegen Deutschland zu beteiligen, sondern lieber in dessen Fahrwasser mitzuschwimmen, was die Sudetenkrise angeht, ein sowjetisches Eingreifen mindestens massiv erschwert, wenn nicht verhindert.

- Oder aber, es war den Sowjets nicht besonders ernst damit, in dem Fall, lieferte die Haltung Polens, neben dem französischen Aussteigen aus den eigenen Beistandsverpflichtungen, den Sowjets eine weitere, willkommene Ausrede die eigenen Verpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei vergessen zu können.

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Sicherlich ist die Gesamtstoßrichtung der Auffassung eine rein opportunistische Angelegenheit, die mit dem Willen tatsächlicher Aufarbeitung und neutraler Betrachtung seitens des Offiziellen Russlands nichts zu tun hat, im Hinblick auf die Konstruktion des Verschwörungssermons gebe ich dir insofern völlig recht.

Nur zeigt es meine ich auch Schwachstellen in unserer Erinnerungskultur auf, die solche Ansätze überhaupt erst ermöglichen solche Konstrukte zu positionieren und damit möglicherweise noch Reichweite zu entwickeln.
Sicherlich nicht mit allem, möglicherweise aber mit Teilbehauptungen.
 
Mindestens seit 2009 gibt es diplomatische Dispute zwischen Russland und Polen, um die von Putin immer selbst formulierte These der polnischen Mitschuld am 2. Weltkrieg.

Putin geht es um die Relativierung und Rechtfertigkeit des Hitler-Stalin-Paktes, da die Leugnung der Zusatzprotokolle wie zu Sowjet-Zeiten nicht mehr möglich ist.
Die Relativierung gelingt durch den Vergleich den Vergleich mit anderen Nichtangriffsverträgen und natürlich durch den Vergleich mit der Aufteilung der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen.
Auch für die Rechtsfertigung muss wieder Polen herhalten, dass durch seine verfehlte Bündnispolitik das kurzzeitige Bündnis zwischen Deutschem Reich und Sowjet-Union unvermeidbar gemacht habe.

Lesenswerter Artikel zu den gegensätzlichen Geschichtsbilder in den eurpäischen Staaten:
Dietmar Müller (2015) Der Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der kurzlebigen Allianz zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion in den Erinnerungskulturen der Europäer. Bundeszentrale für politische Bildung
 
Gelingt die Relativierung tatsächlich? In Russland, wo das Régme die öffentliche Erinnerungskultur weitgehend kontrollieren oder mindestens stark beeinflussen kann, vielleicht.

Aber außerhalb? Nur dann, wenn man innerhalb der eigenen Erinnerungskultur die Gesamtsituation um das Abkommen nicht beleuchtet, so dass der Eindruck entseht, dass Teile der Geschichte mindestens in der öffentlichen Erinnerung tabuisiert werden.
Entsteht dieser Eindruck, bildet er den Hebel auf dem die Putin'sche Relativierungspolitik ansetzen und verdrehen kann, deswegen sollte dem Möchtgern-Zaren diesen Gefallen nicht tun.

Die Rolle Polens, sie sicherlich nicht den Weg in den Weltkrieg ebnete, aber ganz erhebliche Aktien daran hatte den Nazis zu ermöglichen die Versailler Nachkriegs-Ordnung in Osteuropa umzuwerfen, ist so ein Thema, jedenfalls was die Erinnerungskultur hier betrifft.
Gleichzeitg verzerrt die Auslassung dieser Rolle auch das Bild der Appeasement-Politik der Westmächte, die durch den, durch die polnische Politik bedingten Ausfall einer größeren potentiellen zweiten Front im Osten durch den die Handlungsmöglichkeiten der Westmächte, neben dem Rückstand im Rüstungswettlauf faktisch eingeschränkt wurden.

Wenn dann anschließend in der Bewertung der Appeasement-Politik gebetsmühlenartig zu dem Schluss gekommen wird, dass die Briten und Franzosen halb Europa aus mehr oder minder opportunistischen Gründen geopfert hätten, ist das, meine ich, vor dem Hintergeund, dass Polen wiederrum, jedenfalls in der Sudetenkrise (danach sicherlich nicht mehr) alternative Reaktionsmöglichkeiten faktisch aushöhlte, so ein hübsches Zerrbild ergibt.

Das es mit Rücksicht auf die Beziehungen zum östlichen Nachbarn und Angesichts der Gräuel, die die Deutschen im Nachgang der Angelegenheit über Polen brachten, gerade in der öffentlichen Erinnerungskultur nicht ganz einfach fällt, diese Rolle anzusprechen, verstehe ich wohl.
Nur meine ich, sollte man das, gerade vor dem Hintergrund russischer Relativierungsversuche einmal überdenken. Arbeitet man da mit Zerrbildern, riskiert man Glaubwürdigkeitsverlust und erst wenn man den erlitten hat, dann kann Relativierung mit breiterer Wirkung gelingen.
 
Mindestens seit 2009 gibt es diplomatische Dispute zwischen Russland und Polen, um die von Putin immer selbst formulierte These der polnischen Mitschuld am 2. Weltkrieg.
Im Januar 2018 wurde in Polen ein "Gesetz über das Institut des nationalen Gedenkens" geändert: U.a. heißt es dort:

"Art. 55a. 1. Wer öffentlich und faktenwidrig der polnischen Nation oder dem polnischen Staat die Verantwortung oder Mitverantwortung zuschreibt für die durch das Dritte Reich begangenen nationalsozialistischen Verbrechen nach Art. 6 der Charta des Internationalen Militärtribunals, Annex zum Internationalen Gesetz über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Europäischen Achse, das am 8. August 1945 in London unterzeichnet wurde (Gesetzblatt von 1947 Artikel 367), oder für andere Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, oder wer auf andere Weise die Verantwortung der wirklichen Täter dieser Verbrechen massiv herabmindert, unterliegt einem Bußgeld oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren."

Damit hätte der polnisch-russische Geschichtsdisput nach der russischen Verfassungsänderung auch eine gesetzliche Ebene erreicht. Das polnische Gesetz hat zwar - anders als das russische - keinen Verfassungsrang, es führte jedoch auch zu Verwerfungen mit Israel, da anfangs wohl auch die Erwähnung von Judenverfolgungen durch Polen (Jedwabne, Kielce) gegen das Gesetz verstoßen hätten. Polen änderte Teile des Gesetzes und konnte sich mit Israel einigen. Es wäre ja begrüßenswert, wenn man eine ähnliche Einigung auch zwischen Russland, Polen und eventuell anderen beteiligten Staaten erzielen könnte. Ich bin da aber eher skeptisch.
 
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