Wallfahrtsort, ein Jahrtausende altes Kontinuum?

Dieses Thema im Forum "Religionsgeschichte" wurde erstellt von Dion, 17. April 2015.

  1. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    Im Jahr 100 hat Plinius der Jüngere einen Brief (Ep. 39 L. IX) an einen gewissen Mustio geschrieben mit diesem Inhalt:
    Hier die Übersetzung – ich habe leider nichts Besseres gefunden - https://books.google.de/books?id=91...age&q=übersetzung plinius briefe 9 39&f=false
    Mit dem Tempel der Ceres meinte Plinius das, was heute unter dem Namen Heiliger Berg von Ossuccio am Comer See firmiert. Interessant dabei ist, dass auch heute sich jedes Jahr „eine große Menge Volks“ an der Stelle versammelt: Am 8. September, jetzt allerdings nicht mehr zu Ehre der Ceres, sondern der Maria Die liebliche Muttergottes aus weißem Marmor.

    Ich war letztes Jahr an jenen Tagen dort. Die Feierlichkeiten dauerten insgesamt 3 Tage, beginnend jedes Mal morgens um 5:30 Uhr (Sommerzeit, d.h. noch in völliger Dunkelheit) mit einer Prozesssion zu der Kirche. Oben angekommen gab es eine Messe und als man aus der Kirche trat, ging gerade die Sonne auf, denn nach der Sonnenuhr war es erst kurz vor 6 Uhr.

    Nach der Messe habe ich mit einem Franziskaner gesprochen, der mit noch 2 Brüdern dieses Fest betreut hatte. Darauf angesprochen, warum man die Prozession zur nachtschlafenden Zeit veranstaltet, sagte er, das Volk will es so haben, weil das schon immer so war, Sommerzeit hin oder her. Er sagte auch, dass diese Wallfahrt eine der ältesten in der Gegend sei, möglicherweise noch aus der Römerzeit stammend. Auf meinen Hinweis, Maria Verehrung wäre damals unbekannt, sagte er ganz freimütig, vielleicht hätte man im Mittelalter Ceres durch Maria ersetzt, weil das Volk sich nach wie vor jedes Jahr dort versammelte.

    Ich weiß von noch einem ähnlichen Ort: Der Heilige Berg der Bayern in Andechs, der bereits im Altertum Kultstätte war und es bis heute ist. Interessant auch, dass beide, der heilige Berg von Ossuccio wie auch der von Andechs, sich unweit eines Sees befinden, nicht besonders hoch und trotzdem von weit her zu sehen sind. Sie sind auch beide die ältesten Wallfahrtsorte ihrer Gegend – Andechs sogar von ganz Bayern.

    Meine Frage dazu: Gibt es in Deutschland noch andere Orte, bei denen eine ähnliche Kontinuität festgestellt wurde oder zumindest als wahrscheinlich gelten dürfte?
     
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  2. Mashenka

    Mashenka Aktives Mitglied

    Das Bonner Münster hat übrigens ein kultisches Background (resp. Underground).
     
    Zuletzt von einem Moderator bearbeitet: 18. April 2015
  3. balkanese

    balkanese Aktives Mitglied

    für Österreich gibts ein Buch "Herrgottsitz und Teufelstein", Autor fällt mir jetzt nicht ein, wo viele Wallfahrtsorte und andere kirchliche Einrichtungen auf prähistorische Kultstätten zurückgeführt werden.
     
  4. schwedenmann

    schwedenmann Aktives Mitglied

    Wallfahrtsorte

    Hallo


    Bei Chartre, z.B. gehen einige Forscher durchaus von einem alten Quellenheiligtum (Brunnen und Muttergottheitskult) als Vorläufer der heutigen Kathedrale aus (Jan van der Meulen, Norte-Dame de Charte, Berlin,1975, S.24ff).

    mfg
    schwedenmann.
     
  5. Ugh Valencia

    Ugh Valencia Aktives Mitglied

    Eine Kontinuität zwischen der Donareiche und dem Fritzlarer Dom erscheint mir plausibel, auch wenn dabei Wallfahrten - zumindest heute - keine große Rolle spielen.
     
  6. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    Danke für den Hinweis, Mashenka. Kirchen, die an Stellen errichtet wurden, an denen keltische oder römische Tempel standen, gibt es überall, wo Kelten bzw. Römer mal waren. Aber nur an wenigen Orten ist die Erinnerung oder die Gewohnheit, dorthin alljährlich zu pilgern, erhalten geblieben.

    In Österreich scheint wirklich noch Einiges an uralten Bräuchen vorhanden, balkanese - danke. Wenn man nach "Herrgottsitz und Teufelstein" googelt, bekommt man zwar keinen Hinweis auf das von Dir erwähnte Buch, dafür aber auf eine Menge Seiten, die sich mit diesen Dingen beschäftigen. Anscheinend sind die Alpen oder überhaupt bergiges Land dafür prädestiniert: In den weniger frequentierten Orten halten sich die Traditionen eben länger.

    Als Beispiel nenne ich den sog. Vierbergelauf in Kärnten. Dazu gibt es zahlreiche Theorien – ich neige zur Kelten-Theorie, weil der Lauf am Magdalensberg beginnt, wo schon vor den Römern Siedlung und Handelsplatz war, und dann weiter über Ulrichsberg, ebenfalls schon vor Römern besiedelt.

    Chartres, schwedenmann, ist natürlich immer sehenswert. Was ich nicht wusste ist, dass in der Kathedrale unter der Krypta ein keltischer Brunnen existierte, der oben mit einem nach Himmelsrichtungen ausgerichteten quadratischen Becken abschloss. Ob die dortigen Maria-Wallfahrt auf vorchristliche Zeit zurückgeht, konnte ich nicht herausfinden.

    Und das mit Fritzlar und der Bonifatius-Eiche, Ugh Valencia, ist wirklich interessant. Ich war schon mal vor Jahren dort, habe aber damals andere Interessen gehabt. Ich kann mich noch gut an das Heimatmuseum und den pensionierten Lehrer erinnern, der uns führte und an den dort ausgestellten Objekten erklärte, woher die Sprüche „Auf den Hund gekommen“, „Der Groschen ist gefallen“ oder auch „Auf die hohe Kante legen“ stammen.
     
  7. Mashenka

    Mashenka Aktives Mitglied

    Na »überall« würd ich nicht behaupten. Das Bonner Münster ist hier eher die große Ausnahme. Bei Kirchen in Deutschland sind kaum Vorbauten aus der Römerzeit bekannt, und wenn, dann sind es eher Profanbauten (auch wenn der Form nach an eine Kirche erinnernd, z.B. mit Apsiden). Nicht einmal in Rom sind Sakralbauten als Vorgänger frühchristlicher Kirchen die Regel. Was aber an Gschichten so erzählt wird, ist eine andere Sache; bekannt sind auch Kirchbau-Historien, die im 19. Jh. zur Touristikförderung entstanden sind.

    Eine empfehlenswerte Wallfahrtskirche ist übrigens die Klosterkirche in Ettal, zwar ohne römischen Unterbau, dafür aber mit einer außergewöhnlichen gotischen Kirche als Zentralbau im Kern, dass einerseits leider barockisiert wurde, andererseits aber dies äußerst originell und höchst beeindruckend; die Innenausstattung gilt als Höhepunkt des süddeutschen Barocks.

    Doch zurück zum Thema: Wallfahrtsort, ein Jahrtausende altes Kontinuum? Nein, nicht in Deutschland.
     
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  8. balkanese

    balkanese Aktives Mitglied

    ist mir jetzt peinlich, aber ich hab das Buch irgendwo in Umzugkartons verpackt und kann den Autor nicht angeben, jedenfalls sind auch bekannte Wallfahrtsorte wie Mariazell angeführt.
    Die "Übernahme" der Kultstätten durch die Christen hat oft auch die "Übernahme" damit verbundener Gottheiten inkludiert, was auch erklärt mit welch eigenartigem Zubehör christliche Heilige oft dargestellt werden.
     
  9. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Da würde ich mal einen Gegenprobe mit den calvinistischen und zwinglianischen Regionen in der Schweiz machen. Da der Protestantismus Wallfahrten abgelehnt hat, sind in protestantischen Regionen Traditionen abgebrochen, die in katholischen Regionen erhalten geblieben sind, ganz unabhängig davon, ob die Kirche einen alten Kultort besetzt hat oder einen neuen gesetzt hat. Ich würde das nicht der Geographie festmachten sondern an dem Konservativismus der jeweiligen Region...

    Naja, ein paar würden mir da schon einfallen. Oder in Syrakus... Aber gerade in den Großstädten des römischen Reiches werden natürlich Kultorte von Märtyrern Auswahlpunkte für Kirchbauten gewesen sein, da bedurfte es dann nicht mehr in dem Maß, die Tempel umzubauen, wohingegen in ländlichen Gegenden, wenn nicht gerade ein Bonifatius von aufgebrachten pagani erschlagen worden war, es eher darum ging, mittels Besetzung des Kultortes die Machtlosigkeit der heidnischen Götter zu beweisen respektive den heidnischen Kult in seiner Ausübung zu hindern oder synkretistisch zu nutzen. Eine ehemalige Dozentin von mir hat da im Moment ein ganz interessantes Projekt in Bolivien/Perú laufen, bei dem sie beobachtet hat, dass sich der "Inka"-Kult (Inka in Anführungszeichen, weil Inca bzw. Inga ja eigentlich nur die Bezeichnung des Herrschers ist) fortsetzt (also das ist allgemeiner bekannt, sie hat da nur eine besondere Beobachtung auch in der offiziellen oder semioffiziellen Kirchenarchitektur gemacht), der sie gerade flächendeckend forschend nachgeht.
     
  10. Ashigaru

    Ashigaru Premiummitglied

    Das stimmt. Ich würde dabei auch einen technischen Aspekt nicht ganz außer Acht lassen. Offenbar war es bei einigen Kirchenbauten der Fall, dass man sie direkt über prominenten römischen Steinbauten errichteten. So z.B. in Echzell (Kirche direkt über einem Teil des römischen Bades) oder Groß-Umstadt (über dem Hauptgebäude einer villa rustica, das gab es häufiger). In diesem Fällen fand man die Plätze vielleicht auch wegen der dort vorhandenen behauenen Steine günstig. Eventuell - das finde ich aber schwerer zu beurteilen - gaben die verfüllten Keller und Grundmauern der römischen Gebäude später der Kirche zusätzliche Stabilität.
     
  11. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    An diesem Einwand ist was dran. Allerdings würde ich die katholische Kirche – im Verhältnis zu den Calvinisten und Zwinglianern – als die anpassungsfähigere bezeichnen. Wer schon mal in Afrika war, hat vielleicht gesehen, dass dort katholisch was anderes bedeutet als bei uns: Da werden in Kirchen Jesus und den Heiligen ähnliche Geschenke (vor allem Lebensmittel) gebracht wie sie früher – und vielleicht noch jetzt zusätzlich, denn sicher ist sicher – ihren heidnischen Göttern gebracht wurden.


    Ja, das meine ich auch. So ähnlich müsste es auch bei uns während der Christianisierung und noch Jahrhunderte später zugegangen sein - erst als es dem einen oder anderen Bischof zu viel wurde, griff man härter durch bzw. zur Axt wie der heilige Bonifatius. Ob überhaupt eingegriffen wurde, war wahrscheinlich von der Entfernung des Ortes abhängig – die Donar-Eiche z.B. war von Büraburg aus, wo Bonifatius seine Operationsbasis hatte, in Sichtweite; selbst auf die Gefahr hin, dass er seine halbgläubige Schäfchen verärgerte, ließ sich so etwas sicher kein Bischof länger bieten.

    Daher meine ich mit Dir, dass in den Städten und größeren Orten die alten Tempel der Kelten, der heidnischen Römer und der Mithräer keine Chancen hatten, stehen zu bleiben. In weit entfernt liegenden und/oder schwer zugänglichen Orten dagegen, konnten sich die alten Kulte samt Kultstätten länger halten, und wurden wahrscheinlich nur langsam umgewandelt bzw. durch den neuen Gott/Heiliger ersetzt. Die gleiche Vorgehensweise wandten auch die (heidnischen) Römer in den eroberten Gebieten an: Sie benannten fremde Götter um und/oder inkorporierten sie in das eigene Pantheon.
     
  12. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Allerdings waren zumindest in Europa alle im weitesten Sinne protestantischen Gebiete zunächst für 500 bis 1000 Jahre katholisch.

    Naja, manche der Tempelbauten haben in urbanen Zentren bis heute überlebt.
     
  13. Mashenka

    Mashenka Aktives Mitglied

    Wir reden aber von Deutschland (Rom habe ich nur im Sinne von »nicht einmal dort die Regel« erwähnt). Deine Erklärung mit der Besetzung heidnischer Stätten klingt zwar logisch, wäre aber schwierig als allgemein gültiger Usus zu beweisen, angesichts der Fundstellen auf deutschem Gebiet.

    Viele Wallfahrtsorte entstanden als ›Behausung‹ herbeigeschaffter Gnadenbilder, bzw. -statuetten, um einen Grund für den Kirchen-, bzw. Klosterbau zu haben, nicht selten auch wundersam aufgetaucht. Da wäre ein bestehender heidnischer Kultbau (oder auch nur dessen Ruine) für die Glaubwürdigkeit eher hinderlich gewesen, meinte ich.

    some OT: Kann mir schon vorstellen, dass der spanische Kolonialstil, nicht einfach als ›Glocal-Baroque‹ abgehakt werden kann. Da muss man ganz schön smart sein, um die Arquitectura virreinal peruana zu sezieren.
     
  14. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Z. B. der besterhaltene römische Tempel in dem urbanen Zentrum schlechthin.
    Pantheon (Rom) ? Wikipedia


    Nicht ganz so gut erhalten:
    Parthenon ? Wikipedia
    Vom Tempel zur Kirche, von der Kirche zur Moschee, vom Moschee zum Munitionslager - und dann: bumm...
     
  15. Morifea

    Morifea Neues Mitglied

    Der hessische Beitrag zum Athener Stadtbild.....ob sich die Rodgau Monotones darauf beziehen :grübel:
     
  16. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    Klar – aber danach gingen Protestanten, hier vor allem Calvinisten und Zwinglianer, rigoros vor in dem Bestreben, das Christentums, wie sie es verstanden, von allem weltlichen Ballast, den sie als Götzendienst verstanden, zu befreien.

    Aber das war sehr viel später, denn die „Arbeit“ wurde schon im römischen Reich ab Theodosius I. und später im Frankenreich unter dem Karl dem Großen geleistet. Siehe hierzu Heidenverfolgung und im Speziellen Capitulatio de partibus Saxoniae, dem allerdings trotz oder gerade wegen seiner Rigorosität nicht viel Erfolg beschieden war – Zitat: „Folglich blieb die erhoffte Wirkung weitgehend aus und das heidnische Gedankengut blieb verbreitet.“

    Die Reste des heidnischen Gedankenguts fegte dann die Inquisition weg. Was blieb, sind die beizeiten „christianisierten“ heidnischen Stätten und Bräuche, d.h. deren Umwandlung in christenkonforme Rituale.


    Natürlich konnten große und/oder bedeutende Bauten, wie Sepiola sie erwähnte, nicht einfach geschleift werden: Sie wurden in christliche Kirchen umgewandelt und überdauerten als solche - manche nach umfangreichen Um- oder Neubauten - bis in unsere Zeit.
     
  17. Ugh Valencia

    Ugh Valencia Aktives Mitglied

    Ich sehe es genau andersherum: Reliquien, Gnadenbilder, etc. kamen in Kirchenbauten, um den "Glanz" einer Kirche "aufzupeppen" und sie so eventuell für Wallfahrten interessant zu machen. Wenn der Vorgängerbau der Kirche einen heidnischen Ursprung hatte (und womöglich "heidnische Wallfahrten" stattfanden), könnten Reliquien geholfen haben, den Ort (und die Wallfahrt) als christlich-sakral darzustellen.
     
  18. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Wieso denn nicht?
    Viele große und/oder bedeutende Bauten - Aquädukte, Amphitheater, Thermen, Tempel - wurden von späteren Generationen ohne weiteres als Steinbruch benutzt.
     
  19. Dion

    Dion Aktives Mitglied

    Du erwähntest Pantheon in Rom und Parthenon in Athen – auf diesen Deinen Beitrag bezog ich mich.

    Dass auch große Sakralbauten von späteren Generationen, die nichts mehr von deren einstigen Bedeutung wussten, als Steinbruch genutzt wurden, spricht dem Gesagten nicht entgegen, denn gemeint ist in diesem Zusammenhang die gezielte Zerstörung von steinernen Zeugen der alten Religionen, um so auch die Erinnerung an sie auszulöschen.
     
  20. Ugh Valencia

    Ugh Valencia Aktives Mitglied

    @Dion in diesem Skript der Uni D'dorf wird die Innenpolitk Constantius II. (337-361) mit
    "deutlich antiheidnische Maßnahmen
    - Tempelzerstörungen
    - Opferverbot 356"
    charakterisiert.

    Ein späteres Beispiel wäre das 391 zerstörte Serapeum von Alexandria - vielleicht nicht ganz so passend, weil es dabei nicht um "Christen versus Heiden" ging, ist die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n.Chr.
     

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