Ich möchte hier beispielsweise einmal auf die Schaffung des umfassenden Zivilrechts in Forme des BGB hinweisen.
Es gab ein Strafgesetzbuch, in dem liberal-bürgerliche Auffassungen Eingang gefunden haben.
Die Justiz war formal unabhängig. Richter waren unversetzbar und nicht absetzbar. Feudale und ständische Gerichtsbarkeit waren aufgehoben worden.
Richtig, im Kaiserreich wurden diese Entwicklungen möglich, bzw. nicht erschwert. Insofern ist das zweifelsohne eine Errungenschaft, innerhalb dieses Systems.
Erwähnen möchte ich dazu aber auch den Kontext, in dem sich diese fortschrittlichen Tendenzen "von unten" entwickeln konnten.
Nimmt man das Straf(prozeß-/verfahrens)recht, so ist das Vordringen der Berufsjuristen mit bürgerlicher Herkunft (darunter übrigens viele jüdischen Glaubens), die Entwicklung der Strafrechtsdogmatik durch Feuerbach, beeinflusst von Kant, die Grundlegung des Gesetzlichkeitsprinzips in den liberalen Tendenzen des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend gewesen. Die Theorien Hegels und Bindings brachten den absoluten Strafrechtstheorien den Durchbruch, mit Wurzeln zu Beginn des 19. Jahrhunderts und langen Entwicklungen zurückgehend auf Kirchenrecht. Die Reformbewegungen gab es europaweit, durch Franz von Liszt angestoßen und maßgeblich beeinflusst, den Zweckgedanken in das Strafrecht einzufügen.
Die Juristenschicht war durchaus gespalten. Neben den liberalen Tendenzen gab es auch Richter wie Adelbert Düringer, (Wirth: Düringer - Jurist zwischen Kaiserreich und Republik), glühende Anhänger der Monarchie und des Obrigkeitsstaates, Gegenstimme bei der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, äußerster antisemitischer Flügel bis später in die DNVP hinein (nach dem Rathenau-Mord ausgetreten, weil ihm diese Verrohung "zu weit ging"), die "Systemverbrecher" und "Erfüllungspolitiker" scharf bekämpfend, schlicht ultra-konservativ.
Der Mann war zugleich Chef-Kommentator des HGB (der "Düringer-Hachenburg"), wo er sich auf ökonomischen Gebiet "liberal" austobte. Also "Licht und Schatten".
Ein anderes Schlaglicht auf die Rechtstaatlichkeit: In der Verfassung 1871 war mit Art. 3 die Keimzelle der staatsbürgerlichen Freizügigkeit verankert, obwohl man auf die Formulierung von Grundrechten
bewusst verzichtete. In der Handhabung damit war man sowohl im Kirchenkampf als auch gegen Minderheiten wenig "zimperlich". ZB das „gegen polonisierende Bestrebungen“ erlassene, in der Sache jedoch gegen die Verfestigung polnischer Siedelungsräume gerichtete preußische Ansiedlungsgesetz von 1904 – also ein bloßes Landesgesetz – wurde durch das Reichsgericht mit äußerst zweifelhafter Begründung (um es nicht Beugung der Verfassung zu nennen) nicht als Verstoß gegen das Freizügigkeitsgesetz des Reiches angesehen. Gerade dieser Vorgang verdeutlichte die relative Schwäche des im Kaiserreich gewährten Grundrechtsschutzes.
Oder Tendenzen in Bezug auf die Arbeiterbewegung. Die relativen Erfolge der Tarifverträge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es seitens der Reichsregierung auch nach 1890 immer wieder Anläufe zur Beschränkung des Koalitionsrechts und zum Abbau anderer Rechte der Arbeiterbewegung gab. Den Höhepunkt bildete die sog. Zuchthausvorlage von 1899, die von Wilhelm II. mit den Worten angekündigt wurde: "Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern in diesem Jahr zugehen, worin jeder, er möge sein, wer er will, er möge heißen wie er will, der einen deutschen Arbeiter, der willig wäre, seine Arbeit zu vollführen, daran zu hindern versucht oder gar zu einem Streike anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll."
Wer verhinderte diese Tendenzen? Auch das wurde "von unten" abgetrotzt: Gewerkschaften und der SPD gelang die Organsisation eines so breiten Massenprotestes gegen diesen Gesetzentwurf, dass es die Reichstagsmehrheit vorzog, die Vorlage sang- und klanglos scheitern zu lassen. Allein in Berlin hatten zB am 7. Juni 1899 neunzehn Protestversammlungen mit insgesamt 70.000 Teilnehmern stattgefunden.
Dass also Aspekte des Kaiserreichs fortschrittlich-liberal erschienen, ist diesem System abgerungen worden. Das soll natürlich nicht das Ergebnis in Frage stellen, dass sich dieses System die Fortschritte ohne Bürgerkrieg abtrotzen ließ. Es soll lediglich darauf hinweisen, aus welcher Ecke der Fortschritt stammte, den das System tolerierte (soweit nicht exponierte Personen wie Düringer solchen liberalen Tendenzen oder fortschrittlicher Rechtstaatlichkeit in der (praktischen) Rechtswirklichkeit und vor Gericht entgegen wirkten).